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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

572–575

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steinmeier, Anne M.

Titel/Untertitel:

Schöpfungsräume. Auf dem Weg einer Praktischen Theologie als Kunst der Hoffnung.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 262 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 29,95. ISBN 3-579-05394-9.

Rezensent:

Martin Steinhäuser

Das Verhältnis von künstlerischer Gestaltung und kirchlichem Handeln, von Ästhetik und Theologie gehört traditionell zu den fruchtbarsten Reflexionsfeldern Praktischer Theologie. Die Hallenser Professorin Anne Steinmeier hat es unternommen, dieses Verhältnis unter die Leitbegriffe "Schöpfung" und "Raum", "Kunst" und "Hoffnung" zu ordnen. Damit zeigt sie semantisch an, was für ihr Buch programmatisch gilt: Praktische Theologie wie Kunst wissen um Uranfängliches, um Inhalte in Formen geborgen, um die Verletzlichkeit in rückhaltloser Wahrnehmung, um die Entbindung von Sicherheiten durch Raumerfahrung, um Hoffnungsgewinn aus authentischer Begegnung.

Die Vfn. vertritt insgesamt eine präsentische Schöpfungstheologie, die sie sehr offen, vom Prozess eines Werdens her fasst. Damit eröffnet sie einen Raum zur intellektuellen wie emotionalen Auseinandersetzung mit der Kunst. Sie grenzt sich standesgemäß von einer instrumentellen Verhältnisbestimmung ab (44 u. ö.), betont aber die Notwendigkeit einer verbindenden Perspektive. Als solche dient ihr die "Hoffnung", das Vertrauen, "dass da eine Kraft ist, die mich begleitet und auch beschützt" (18), "ein Wort, das haltbar ist" (14).

Wesentliche theologische Impulse erhält die Vfn. von Albrecht Grözinger und Paul Tillich, wobei sie zwei zentrale Akzente setzt: Erstens will sie eine christologisch begründete Theologie der Beziehung entfalten (234) - sie lässt ihr Gespräch mit einem breiten Spektrum von Künstlern gleichsam tragen von der inkarnatorischen Begegnung Gottes mit den Menschen. Auf dieser Basis fordert sie wiederholt eine "lebendige" Theologie gegen dogmatische Erstarrung. Daraus folgt, dass sie zweitens Glauben selbst als einen Schöpfungsraum sichtbar machen möchte (203). Nicht um abgezirkelte Denkstuben also geht es, sondern um eine grundsätzlich erfahrungsbezogene, biographietaugliche, der Individualität der Subjekte gerecht werdende Frage nach Gott. Dem dient eine an vielen Stellen poetische, an Assoziationen und Metaphern reiche Sprache der Vfn.

Aus fachwissenschaftlich-methodischer Sicht verbindet die Vfn. einen wahrnehmungsorientierten Zugang mit handlungswissenschaftlichen Perspektiven und vermeidet dadurch manche Einseitigkeiten, die die praktisch-theologische Theoriebildung der jüngsten Vergangenheit hervorgebracht hat: "In den Ausdruckshandlungen der Kirche können Gottes Schöpfungsräume erfahrbar und lebendig werden" (16).

Die Vfn. beginnt mit dem Verhältnis von "Bildender Kunst und Seelsorge" (18-60). Individuelle künstlerische Gestaltung (ästhetische Wahrnehmung) korreliere mit einer subjektiven Aneignung des extra nos des Heils (theologisches Argument, 44). Dafür setzt sie sich zunächst mit dem Bildersammler Hans Prinzhorn, den Bildern von Jean Dubuffet und Paul Klee und dem "skulpturalen Prozess" bei Josef Beuys auseinander. Bei jedem Künstler findet sie eigene Facetten des Schöpferischen sowie assoziatives Material, das sie dann in die Erörterung klassischer Themen der Seelsorge wie Schuld, Versöhnung und Stellvertretung einflicht, bis hin zu konkreten Überlegungen zum "Künstlertum aller Getauften" (56 ff.), zu "Schöpfungsräumen" für seelsorgerliche Begegnungen in der Gemeinde (60) und zum Appell an den Seelsorger, die Seelsorgerin, "alle eigenen Vorstellungen darüber loszulassen, was Gott für diesen anderen, diese andere ist, sein könnte" (54).

Im zweiten Kapitel, "Theaterwelt und Kirchenraum", rezipiert die Vfn. die Arbeiten des Regisseurs Peter Brook für ihre liturgischen und die des Schauspielers, Regisseurs und Theaterreformers Konstantin S. Stanislawski für ihre pastoraltheologischen Erörterungen. Ihr Leitbegriff heißt dementsprechend "Inszenierung", und zwar nicht feststehender (Heils)Tatsachen, sondern als Prozess. Für die pastorale Rollenidentität folge daraus ein Leitbild als Künstler, der schöpferische Dialoge eröffnen könne: "Was wäre, wenn es wahr ist, was wäre, wenn das Wort wirklich geschieht - jetzt in diesem Gottesdienst, an diesen Menschen?" (95 - übertrieben häufige Kursivsetzungen im ganzen Buch!). Mit diesem ästhetischen Akzent will sich die Vfn. gegen ein "politisches oder doch zumindest pädagogisches" Gottesdienstverständnis abgrenzen (das sie "gerade auch im Osten" Deutschlands vorfinde), wo es darum ginge, mit kognitiven Mitteln "bestimmte Inhalte irgendwie herüberzubringen" (71). Auch fordert sie, gegen eine "reine Anpassung an zeitgenössische Lebensgefühle" (73 - wer will das eigentlich?) das "fremde Wort" der Tradition erschließend wertzuschätzen.

Dieses zweite Kapitel löst beim Rezensenten die meisten Rückfragen an das Buch aus: Wo nimmt die Vfn. in ihrer theoretischen Verhältnisbestimmung von Tradition und Situation die Dialektik im liturgischen Prozess auf, die etwa schon Ernst Lange aufgezeigt hatte? In ihrem Praxisbeispiel, die Abendmahlsworte zusammen mit einem Bachmann-Text aufzuführen (79f.), geht sie doch weit über ein pauschales "wechselseitiges erschließen und erhellen" (78) hinaus! Ist ihr Verständnis von Pädagogik und Politik (71.76, auch 121) nicht doch etwas polemisch eingetrübt? Gerade aus pädagogischer Sicht darf doch erwartet werden, was die Vfn. selbst fordert, dass der Gegenstand im Prozess subjektiv ins Recht gesetzt wird. Ist ein vom Theater her denkendes Leitbild wirklich geeignet, "die unselige Trennung von privat und beruflich" im Pfarrberuf zu überwinden?

Im dritten, homiletischen Kapitel (97-129) fragt die Vfn. von dem her, was Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Christa Wolf über Dichtung schreiben, nach Auftrag, Sinn und Hoffnung von Predigt (14.117 u. ö.). Sehr eindrücklich entfaltet sie, inwiefern Sprache nicht nur äußere Form, sondern selbst schöpferische Kraft sei (117). Die Dichter zeigten, dass die Kraft zur Hoffnung in einer "unverfügbaren und zugleich in Hoffnung vorausgesetzten Gemeinsamkeit eines in der Sprache lebendigen Sinns begründet" sei (118), so dass selbst noch an der Grenze des Sagbaren die Sprache selbst Ausdruck der "Hoffnung auf eine unverlorene und darum ansprechbare Wirklichkeit" werden könne. Eine konsequente Bindung des Predigtdialogs an die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem sei Voraussetzung, damit sich die Zeugenschaft der Hörer für die Wahrheit im predigenden Sprachausdruck ereignen könne (123).

Im vierten Kapitel verlässt die Vfn. die üblichen Pfade praktisch-theologischer Handlungsfelder und widmet sich dem Gebet (131-195). Ihre künstlerischen Gesprächspartner sind die Musiker Leonard Bernstein und Charles Mingus sowie die choreographische Konzeption der Bachschen Matthäuspassion von John Neumeier. Gebet und Musik seien durch ein "ganz eigenes Verhältnis zur Welt" verbunden: ein "Innenverhältnis des Hörens" (132). Musik könne Menschen auf der Suche nach Gott begleiten, bis in die Freiheit ihres eigenen Gebetes hinein, selbst wenn sie in Distanz zu dogmatischen Positionen stünden (176 f.). "So wie Musik erst lebt, wenn sie gespielt und gehört wird, so ist Gott nicht zu kennen ohne diese lebendige Beziehung im Hören und Sprechen" (180). Aus der schöpferischen Kraft der Musik könne auch das Gebet lernen, Ausdruck der unsagbaren Gottesnähe zu sein, Hoffnungskunst bis hin zum Tod (140).

Im letzten Kapitel, "Leben und Glauben" (197-249), das als Handlungsfeld den Religionsunterricht avisiert, folgt die Vfn. einer anderen, nicht ganz leicht nachvollziehbaren Systematik: Sie gewinnt aus einer Skulptur Alberto Giacomettis die Frage: "Was halten die[se] Hände?" (197-203), zieht dann unter der Überschrift "Gott erlernen" Martin Buber, Emmanuel Lévinas und Paul Tillich in ein intensives theologisches Gespräch über die Art der Gottesbeziehung (204-237: "Der Glaube ist so nicht anders als Mut", 235) und beginnt anschließend ihre Erörterungen zum Religionsunterricht mit einer Darstellung von Hanna Arendts Begriff des "gebürtlichen Geistes", bevor sie dann mit einem überraschend kurzen, allgemein gehaltenen Plädoyer für Positionalität in der dialogischen Wahrheitssuche im Religionsunterricht schließt.

Insgesamt gesehen zieht dieser Entwurf die Leserinnen und Leser mit hinein in einen Dialog, den die Vfn. persönlich führt (häufige Ich-Sätze). In ihm definiert sie sich subjektiv, mit Celan, als Empfängerin von "Flaschenpost" (98), einen gewissen Zufall in der Auswahl der Künstler, eine Unabgeschlossenheit im Interpretieren also bejahend. Gewiss könnte man sich fragen, ob sie zu manchem ihrer praktisch-theologischen Gedankengänge nicht auch ohne die ausführlichen Anmarschwege über die Kunst gekommen wäre. Diese Frage muss aber aus prinzipiellen Gründen offen gehalten werden: zum einen, weil sie eine zwangsläufige Folge durchgehaltenen Respekts gegenüber der künstlerischen Selbständigkeit ist, zum anderen, weil die Vfn. nur so den Raum offen halten kann, den die Lesenden brauchen, um nun ihrerseits in jenen rezeptiv-schöpferischen Dialog einsteigen zu können, den zu loben das ganze Buch intendiert. Nicht zufällig gelingt dies dort am besten, wo die Vfn. ein eigenes Kunstwerk präsentiert, wie mit der Erzählung ganz am Anfang (17 f.).

Etwas schwieriger ist es, wo sich die Lesenden, gelegentlich mangels Kenntnis der Originale, innerhalb des Buches nur auf einer zweiten Ebene bewegen, also der Rezeption der Vfn. folgen. Schon deshalb muss gefragt werden, warum diesem Buch nur so wenige Reproduktionen, noch dazu in dürftigem Graustufendruck, beigegeben wurden. Der überaus kenntnisreiche, die Praktische Theologie stark anregende Entwurf hätte wahrhaftig einige Seiten im Vierfarbdruck verdient.