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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

570–572

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Postmoderner Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 216 S. 8. Kart. Euro 22,95. ISBN 3-579-05199-7.

Rezensent:

Martin Schreiner

In seinem äußerst lesenswerten Buch unternimmt der Tübinger Religionspädagoge Friedrich Schweitzer den schon lange fälligen Versuch, nordamerikanische und europäische Perspektiven zu den Herausforderungen des postmodernen Lebenszyklus dialogisch miteinander zu verbinden. In Gewinn bringender Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Überlegungen von Richard Osmer, Don S. Browning und James W. Fowler vollzieht der Vf. eine luzide interdisziplinäre Analyse des Wandels von modernem Lebenszyklus, für den seit 1950 das klassische Modell Erik H. Eriksons steht, und dem so genannten postmodernen Lebenszyklus samt seinen religiösen Dimensionen. Als wichtigstes Motiv seiner Veröffentlichung benennt er den Wunsch, Kirche und Theologie auf die weitreichenden Herausforderungen, die der postmoderne Lebenszyklus für deren Arbeit einschließt, aufmerksam zu machen sowie Konsequenzen und Perspektiven für die Praxis zu entwickeln (9). Unter Bezugnahme auf die mittlerweile schon geläufigen Begriffe der religiösen Pluralisierung, Individualisierung, Privatisierung und auf den Prozess der sich durchsetzenden Globalisierung skizziert der Vf. die religiöse Gegenwartssituation und fasst zutreffend aktuelle religionspädagogisch relevante Fragen zusammen: "Wie steht es um den christlichen Glauben, wenn es für die großen Erzählungen, die unser Leben leiten können, keinen Raum mehr gibt? Wie sollen Kinder und Jugendliche für sich einen Weg finden, wenn alles pluriform und kontingent ist? Gibt es noch Kriterien für verantwortliches Erwachsensein? Und kann die Theologie mit Menschen, deren Biographien immer weniger Gemeinsamkeiten aufweisen, überhaupt noch erfolgreich kommunizieren?" (11). Die Herausforderung besteht kurzum darin, "mit einem Lebenszyklus zurechtzukommen, der sich als permanente Baustelle darstellt, mit konkurrierenden Bauplänen im Überfluß und ohne klare Kriterien, um eine Wahl zwischen ihnen zu treffen" (28).

Der Vf. nähert sich diesen Fragen und Herausforderungen aus der Perspektive eines induktiven Ansatzes der Praktischen Theologie: Mittels der von ihm so bezeichneten "Methodologie von unten" setzt er nachvollziehbar bei den Erfahrungen heutiger Menschen ein und analysiert fünf Stufen oder Abschnitte des Lebenszyklus: Kindheit, Jugendalter, Postadoleszenz, Erwachsenenalter und Hohes Alter.

In dem Kapitel "Hineingeboren in eine plurale Welt. Aufwachsen zwischen multikulturellem Reichtum und religiöser Heimatlosigkeit" (36-58) plädiert der Vf. einleuchtend für ein Gleichgewicht zwischen religiöser Zugehörigkeit und Offenheit, "indem wir gleichzeitig eine feste Verwurzelung im eigenen Glauben betonen wie auch die Fähigkeit, den Glauben anderer zu akzeptieren und anzuerkennen" (57). Kirche und Theologie müssten verstärkt ihre besondere Verantwortung für Kinder erkennen und weit mehr für Kinder tun als bisher. Sie sollten zu Anwälten für das Recht des Kindes auf Religion werden. Im Zusammenhang der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und aus der Perspektive der so genannten neuen Pneumatologie untersucht der Vf. sodann im Kapitel "Auf der Suche nach dem eigenen Glauben" (59-90) die Identität des pluralen Selbst im Jugendalter. Im Einklang mit der gesamten religionspädagogischen Zunft fordert er hier zu Recht von Theologie und Kirche den Erwerb einer neuen Art von Lesefähigkeit im Blick auf das Leben und die Erfahrungen Jugendlicher. Die Altersgruppe zwischen 18 und 29 wird im Kapitel "Religiöse Bindung und Entfremdung in der Postadoleszenz: Zum Einfluß einer vernachlässigten Lebenszeit" (91-113) angesprochen und es werden auch darin einige konstruktive Möglichkeiten erörtert, wie Kirche und Theologie die Herausforderungen dieser neuen Stufe des Lebenszyklus aufnehmen könnten. Inwiefern die Praktische Theologie sich als Geburtshilfe für das postmoderne Erwachsenenalter einsetzen sollte, ist unter anderem Thema in dem Kapitel "Kirche - individuelle Religion - öffentliche Verantwortung: Leitbilder zwischen modernem und postmodernem Erwachsenenalter" (114-136). Praktische Theologie könnte als zukunftweisende Leitbilder anbieten: "Vorstellungen von Gemeinschaft und Verantwortung, von Verbundenheit und einer zweiten Naivität, nicht nur für die individuelle Religion oder eine säkulare Öffentlichkeit, sondern zugunsten einer neuen Form der Gegenwart von Religion im öffentlichen Leben" (136).

Auf der Basis der Arbeiten von Peter Laslett plädiert der Vf. im Kapitel "Zwischen Erwachsenenalter und Hohem Alter" (137-160) für die Annahme eines "Dritten Alters" und sieht für dieses zusätzliche Lebensalter drei miteinander verbundene Aufgaben: die Entwicklung eines theologischen Verständnisses dieser neuen Lebensstufe; die Entwicklung von Unterstützungsmöglichkeiten für die Potentiale dieser Stufe und von Angeboten für Menschen auf dieser Stufe, die diesen Potentialen gerecht werden. Den spannenden Abschluss seiner Veröffentlichung bilden des Vf.s Gedanken "Theologische Anforderungen an das postmoderne Leben: Auf dem Weg zu einer Theologie des Lebenszyklus" (161-195). Darin verweist er auf die neuen Chancen und Möglichkeiten des postmodernen Lebenszyklus, die in der Praxis von Kirche und Theologie postmoderne Ansätze verlangten. Es gelte, eine "Praktische Theologie der reflexiven Modernisierung zu entwickeln, die gleichsam als Geburtshilfe für diese Potentiale dient und entsprechende Vermittlungsleistungen übernimmt" (170). Praktische Theologie müsse in einer zugleich zeitlichen und kulturellen Übergangssituation zwischen erster und zweiter Moderne die Aufgabe der Vermittlung zwischen Kirche, individueller Religion und der Öffentlichkeit übernehmen.

Zu Recht fordert der Vf. eine Theologie des postmodernen Lebenszyklus ein und benennt als wichtigste Anforderung an eine solche, den Lebenszyklus als Vision und als Leitbild verstehende Theologie das Bereitstellen von Antworten auf folgende drei Grundfragen: "l. Welche Aspekte des christlichen Glaubens sind auf den verschiedenen Stufen von besonderer Bedeutung? Was sagt dieser Glaube im Blick auf die Probleme der verschiedenen Phasen des Lebenszyklus? 2. Welche ethischen Leitlinien bietet dieser Glaube im Blick auf verschiedene Lebensalter, Stufen oder Lebensphasen? 3. Wie ist religiöse Kommunikation angesichts der postmodernen Herausforderungen von Pluralisierung, Individualisierung und religiöser Privatisierung möglich?" (179). Kirche und Theologie sind gut beraten, wenn sie sich bald auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen begeben!