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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

568–570

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meinhard, Isolde

Titel/Untertitel:

Ideologie und Imagination im Predigtprozess. Zur homiletischen Rezeption der kritischen Narratologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 488 S. m. Abb. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 24. Geb. Euro 54,00. ISBN 3-374-02098-4.

Rezensent:

Thomas Klie

Seit jeher lebt die Praktische Theologie vom Theorieimport. Die hierbei zu leistende Verknüpfungsleistung mit der ihr aufgegebenen religionstheoretischen Perspektive sucht ein Praxisfeld zu erhellen, das anders als mehrperspektivisch kaum angemessen darstellbar ist. Die vorliegende Münsteraner Dissertation von Isolde Meinhard knüpft eine solche Verbindung - in homiletischer Absicht - zur kritischen Narratologie der niederländischen Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal und der Symbolhermeneutik Paul Ricurs. Ihr Ziel ist es, die feministisch-befreiungstheologische Predigtlehre rezeptionsästhetisch über sich aufzuklären. Einen Erkenntnisgewinn beansprucht M. hierbei durchaus "für beide Richtungen": "Die rezeptionsorientierte Homiletik kann von der feministischen die Verbindung zur Hermeneutik lernen" und jene kann der anderen vermitteln, "sprachphilosophische und literaturwissenschaftliche Modelle aufzunehmen" (35). Nachdem lange Zeit Fragen nach der formalen Gestalt den homiletischen Diskurs dominierten, geht es hier also um ein starkes Stück prinzipieller Homiletik. Bemerkenswert ist, dass das empirische Material, an dem die Theorie geschärft wird, ausschließlich aus Predigten über ein- und dieselbe Perikope besteht: Joh 4 (Jesus und die Samaritanerin). Der exklusive Zugriff auf diesen locus classicus feministischer Theologie ist ebenso originell wie er methodologisch Sinn macht. Denn nur in wenigen anderen Bibelstücken verdichten sich ähnlich viele ideologieanfällige Signifikanten; "Mann" und "Frau", "Wort" und "Wahrheit", "Missverständnis" und "Offenbarung" treten hier in einen hermeneutischen Kontakt, der kulturell codierte Zuschreibungen im "Predigtprozess" geradezu provoziert.

Die Arbeit gliedert sich in fünf etwa gleich lange Kapitel und einen kurzen Abspann: Einleitend wird an ausgewählten Predigtsequenzen zu Joh 4 die Problemstellung umrissen (Kapitel I: 76 S.). Danach (Kapitel II: 113 S.) wird die kritische Narratologie Mieke Bals bzw. deren Relevanz für die Predigtanalyse thematisiert. Im folgenden Abschnitt (Kapitel III: 96 S.) geht es um die ideologische Konstruktion der "Wort"-"Frau"-Oppositionen und die Gesetzlichkeit in der Predigt. Im Anschluss daran folgt der Schritt von der Analyse zur Synthese - die Schaltstelle des Buches: die Rezeption der produktiven Imagination Ricurs (Kapitel IV: 101 S.). Dies leitet über zur ausführlichen Erörterung der texterschließenden Möglichkeiten der Narratologie am Beispiel von Exegese und Predigtanalyse zu Joh 4 (Kapitel V: 89S.). Im Ausblick (VI: 2 S.) skizziert M. als Desiderate den Blick in das Gemeindeleben und eine narratologisch informierte Rekonstruktion der Gotteslehre.

M. hebt eingangs die Bedeutung der Semiotik für die Weiterentwicklung der Homiletik nach dem "linguistic turn" hervor, kritisiert jedoch, dass von ihr kein Weg zu einer gesellschaftlichen Ideologiekritik führe; sie habe konkretes menschliches Leiden lediglich als Zeichenprozess wahrgenommen und ihre "Kritik am Einheitsstreben ... nicht ins Zentrum der Theologie hineingetragen" (68 f.). Gegenüber dem Mainstream semiotisch angeleiteter Predigtlehren, in denen schwerpunktmäßig rezeptionsästhetisch argumentiert wird, verschiebt sich hier die Perspektive auf den Deutungskontext: die Frauen "am Rande" (90). Im semiotischen Sprachspiel: Es geht M. um die Zeichenreferenz, den deutlichen Bezug homiletischer Zeichen auf real existierende Diskriminierungsverhältnisse. Denn alle Eingriffe an der "textuellen Subjektivität" haben "Bezug zur sozialen Praxis" (138) - keine Interpretation verhält sich ideologisch neutral.

Das hier vor allem im zweiten Kapitel in Anschlag gebrachte erzählanalytische Instrumentarium ist umfangreich und ermöglicht eine hohe Auflösung der verschiedenen narrativen Textfunktionen. Insgesamt gesehen hält sich jedoch der Erkenntnisgewinn der herangezogenen Literaturtheorie in Grenzen. Dass ein Text erst in der Rezeption Sinn macht, Rezipienten den "impliziten Autor/Leser" aktiv de-/konstruieren und "Fokussierungen"/Perspektiven rekonstruieren, ist kein Novum in der semiotischen Homiletik.

Um die in den Predigtanalysen herausgearbeiteten Codierungen als "Ideologien" identifizieren zu können, greift M. auf die sehr weite strukturalistische Ideologie-Definition Althussers zurück. Danach gilt Ideologie als die "Darstellung des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren wirklichen Lebensbedingungen" (227 f.). Über ihre Darstellung sind Ideologien immer auch Ausdruck kultureller Machtkonstellationen. An dieser Stelle erweist sich der strukturalistisch kontaminierte Zeichenbegriff, den M. undiskutiert über Ricur und Bal einfließen lässt, in der ansonsten sehr sorgfältig gearbeiteten Untersuchung als problematisch. Diese epistemische Unschärfe ist insofern relevant, als sie die semiotisch fundamentale Frage nach der Zeichenreferenz berührt, an der sich nicht zuletzt auch der semiotisierende Gender-Diskurs vom ontologisierenden Differenzfeminismus scheidet. Wird diese theoretische Markierung verwischt, immunisiert sich die feministische Kritik gegen jede Form von Kritik. Hermeneutik (Ricur; 304 ff. passim), Psychoanalyse (Raguse; 257 ff.) und Semiotik (Eco; 234 ff. passim) lassen sich - selbst in dekonstruktivistischer Perspektive (Gallop; 267 ff. passim) - nicht einfach addieren. Die feministische Hermeneutik des Verdachts entrinnt keineswegs dem hermeneutischen Zirkel - auch hier ist das Erkenntnisinteresse eine Teilfunktion der Wut "richtigen" Verstehens. Wird Lacans "Phallozentrismus" als "nahezu unzugängliche[r] Kern" (284) der patriarchalen Ordnung ontologisch antizipiert, dann haben "matrizielle" Lesarten (457 f.) eine hohe Vorhersagewahrscheinlichkeit.

Eine interessante Perspektive ergibt sich hingegen mit dem Brückenschlag zur theologischen Problematik von Gesetz und Evangelium, die in der feministischen Homiletik bislang kaum Berücksichtigung fand. Die Narratologie dient hier dazu, auf dem Hintergrund von Ideologie zwischen Gesetz (positiv) und Gesetzlichkeit (negativ) zu unterscheiden. Produktiv erweist sich eine erzähltheoretisch informierte Predigtarbeit auch in der Synthese: in der Wertschätzung der homiletischen Phantasie und der damit verbundenen Neustrukturierung der symbolischen Ordnung im Differenzfeminismus. Mit Bezug auf Ricurs Metapherntheorie definiert M.: "In der Imagination gelingt der Umgang selbst mit transzendenten Größen wie der Zeit - oder Gott" (304). Als Belege hierfür zieht M. Predigtpassagen heran, in denen Motive wie "begehren/werben", "Beziehung" oder "Ruach"-Gott eine mütterlich-leibliche Ordnung signifizieren. Diese Linie wird (im letzten Kapitel) bis in die Exegese hinein ausgezogen. Ziel ist es, eine exemplarische Interpretation von Joh 4 als prototypisches Modell für eine Verkündigung zu geben, in der die geschlechtsspezifischen Ideologeme aufgebrochen werden, um der "Frau Anteil an Dem Wort" zu geben (459). Damit ist im vorliegenden Werk ein weiter Bogen geschlagen von der Empirie über die kritische Theorie bzw. Theologie bis hin zu einer Praxishilfe für die Verkündigung.

Nimmt man die "Mann"-"Frau"-Signifizierung als theologisch wesentliches Kriterium, dann wird die vorliegende Arbeit mit Sicherheit dazu beitragen, die Spielformen der feministischen Homiletik, in der Sein-Sollen-Kurzschlüsse immer noch eher die Regel sind, semiotisch anschlussfähig zu halten. Das durchgängig hohe Theorieniveau und die Konzentration auf nur eine biblische Erzählsequenz machen die vorliegende Untersuchung zu einem Exempel der Predigtanalyse.