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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

564–566

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Verhey, Allen

Titel/Untertitel:

Reading the Bible in the Strange World of Medicine.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2003. XIV, 407 S. gr.8. Kart. US$ 35,00. ISBN 0-8028-2263-0.

Rezensent:

Ortrun Riha

Allen Verhey ist ein calvinistischer Theologe, der am Hope College in Holland/Michigan - einer Einrichtung der Reformierten Kirche in Amerika (RCA) - lehrt. In seinem neuen Buch greift er zum Teil auf Aufsätze zurück, die bereits anderweitig erschienen sind und die er nun in erweiterter und aktualisierter Bearbeitung präsentiert. Deutlich sind auch die Rückgriffe auf sein 2002 im gleichen Verlag erschienenes Werk Remembering Jesus: Christian Community, Scripture, and the Moral Life. Trotzdem bilden seine Ausführungen zu bioethischen Grundfragen ein Ganzes, dessen zehn Kapitel aufeinander abgestimmt sind. Ein Namenregister führt zu der in den Fußnoten zitierten Literatur (was nötig ist, weil ein Literaturverzeichnis fehlt), ein Sachregister erleichtert für alle, die nicht den ganzen Text lesen wollen, das Auffinden der diskutierten Einzelprobleme und eine dritte Liste nennt die zitierten Bibelstellen und Kirchenväter.

Den Auftakt bildet eine historische Einführung in die christliche Tradition der Krankenfürsorge, die sich einerseits auf die biblischen Wunderheilungen berufen konnte und anderseits von der heidnischen Konkurrenz (Asklepios und Isis) sowie von magischen Praktiken abgrenzen musste. Jesus als Heiler lehrte, dass Gesundheit ein hohes, aber eben nicht das höchste Gut ist (ebenso wenig wie Krankheit und Tod das schlimmste Übel sind) und dass jede Heilung von Gott kommt. Zweitens war Jesus aber auch jemand, der Leiden und Tod erlitten hat; insofern begegnet dem Christen in jedem Kranken der leidende Erlöser und der leidende Christ steht in der Nachfolge des Kreuzes. Und drittens erstreckte sich die christliche Verantwortung auch auf die Armen, denen sich die in bischöflichem Umfeld entstehenden Hospitäler besonders zuwandten. Die religiös motivierte Medizinethik ist seit der Aufklärung nach und nach durch eine säkularisierte ("humanistische") ersetzt worden, die ohne Gottesbezug auskommt, sich auf einen moralischen Minimalkonsens beschränkt und sich deshalb universalisierbar gibt. Aus der Überzeugung heraus, dass damit wichtige religiöse Aspekte, persönliche Alternativen und moralische Errungenschaften ausgeblendet werden, stellt V. seine spezifisch christliche Perspektive dagegen, auf die die Gemeinschaft der Gläubigen nicht einfach leichten Herzens verzichten sollte.

Das zweite Kapitel thematisiert die Kautelen, unter denen in der modernen Medizin eine bioethische Bibellektüre überhaupt möglich ist, denn die Heilige Schrift schweigt zu den meisten aktuellen Problemen, sie handelt von einer uns fremden Kultur (das Prädikat "seltsam" - strange - gilt also nicht nur für die Medizin mit ihrem scheinbar ultimativen Erlösungsversprechen, sondern auch für die Bibel) und sie ist oft widersprüchlich. V. warnt (hier wie in jedem Kapitel, besonders nochmals in Abschnitt 6 zur Abtreibung) eindringlich vor einer Funktionalisierung isolierter Bibelstellen, die den textlichen und den historischen Kontext ausblendet, und plädiert für die Berücksichtigung der (früh)kirchlichen Lesetradition sowie üblicher exegetischer Standards, aber auch für gläubig-bescheidene "Frömmigkeit" (reading prayerfully; fidelity, humility) und insbesondere "Weisheit" (wisdom) beim Lesen, womit im Wesentlichen die Gaben des Heiligen Geistes gemeint sind (z.B. creativity, discernment, discipline). Unter dessen Ägide steht das dritte Kapitel, das heftig gegen ein dualistisches sowie ein reduktionistisch-materialistisches Menschenbild argumentiert und ein "ganzheitliches" Konzept leib-seelischer Einheit dagegenstellt, das jede Diskussion um Standards für Personalität überflüssig macht.

Der vierte Abschnitt stellt das christliche Mit-Leiden (compassion) sowie das persönliche Leiden "mit Blick auf den Himmel" (suffering looking heavenward) in den Mittelpunkt; der Text, der dem Verzweifelten eine Stimme gibt, ohne gleich eine lebensfremde enthusiastische Lösung anzubieten, ist Hiob 3. Auch der Gläubige leidet und auch gläubige Begleiter sind erst einmal hilflos, es sei denn, sie stimmen in die Klagen mit ein, wie viele Psalmen es vorformulieren - und zwar mit expliziter Anrufung Gottes, mit der vertrauensvollen Bitte um Hilfe, aber ohne Anklage gegenüber dem Leidenden, dem vielmehr gerade Schuldgefühle genommen werden sollen. Das Gebet ersetzt nicht die medizinische Betreuung, aber es ergänzt sie um eine hoffnungsvolle Perspektive.

Ein erheblicher Teil des Buches befasst sich mit ethischen Problemen um Genetik und den Anfang menschlichen Lebens: Kapitel 5 sieht die Entschlüsselung des menschlichen Genoms als Ergebnis der typisch neuzeitlichen Beschränkung des "relevanten" Wissens auf die Naturwissenschaften (deshalb spricht V. von einem "[Francis]Bacon-Projekt"); "Weisheit" wird man dort jedoch nicht finden und auch nicht das "Wesen" des Menschen. Die Behauptung der modernen "liberalen" Gesellschaft, sie forsche wertfrei und vermehre durch Fortschritt die menschlichen Wahlmöglichkeiten, glaubt V. nicht; zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen einerseits und der entstehende gesellschaftliche Druck in bestimmte Entscheidungsrichtungen anderseits (perfekte Kinder, Abtreibung [dazu ausführlich Kapitel 6], Reproduktionsmedizin [dazu ausführlich Kapitel 7], Embryonenforschung, Klonen, Gentechnik usw.), denen V. distanziert gegenübersteht. Gegen Beliebigkeit und Ziellosigkeit stellt V. den Schöpfungsglauben, der nicht nur Beherrschung der Natur, sondern auch Respekt und Bewunderung einfordert, auch und gerade den Schwachen gegenüber. Das Autonomie-Prinzip, das auf den souveränen Einzelnen abhebt, sowie die säkulare Vertragsethik kontrastieren mit der christlichen Vorstellung vom "Leben in Beziehungen", denn eine "Beziehung" ist mehr als ein Vertrag und steht nicht unter dem Gedanken der Nutzenmaximierung, sondern der Fürsorge und der Verantwortlichkeit. Als negatives Beispiel säkularen Freiheitsverständnisses dient im 9.Kapitel eine Fallgeschichte von 1982, die in den USA bis heute viel diskutiert wird: Einem Neugeborenen mit Down-Syndrom wurde auf Wunsch der Eltern die lebensrettende Operation seines Speiseröhrenverschlusses vorenthalten, so dass es nach einigen Tagen verhungerte.

Zwei weitere Themen werden schließlich noch angesprochen, der ärztlich unterstützte Suizid (Kapitel 8) und die ethischen Herausforderungen durch knappe finanzielle Ressourcen (Kapitel 10). Letzteres ist stark auf US-amerikanische Verhältnisse orientiert, doch Sterbehilfe ist auch hierzulande von Brisanz. Ausgehend von der Selbsttötung des Judas (nach Mt 27,3-10), die V. nicht nur als Zeichen von Verzweiflung, sondern auch von Ungeduld und mangelndem Gottvertrauen interpretiert, lehnt er jede Art von "Euthanasie" ab - nicht, weil sie explizit in der Bibel verboten wäre, sondern weil sie nicht zur "Geschichte von Gottes Gnade" passt. Die "gangbare Alternative" ist vielmehr eine fürsorgliche medizinische Versorgung bis zum Tod, der allerdings - und das zu betonen ist seelsorgerische Aufgabe - für den Gläubigen nicht das letzte Wort ist.