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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

562–564

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schallenberg, Peter

Titel/Untertitel:

Liebe und Subjektivität. Das Gelingen des Lebens im Schatten des "amour pur" als Programm theologischer Ethik.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2003. VI, 281 S. gr.8 = Münsterische Beiträge zur Theologie, 62. Geb. Euro 39,00. ISBN 3-402-03967-2.

Rezensent:

Gunda Schneider-Flume

"Wird der Mensch glücklich durch die Liebe zu Gott? Schafft absolute Liebe ein absolutes Glück? Ist Gott identisch mit dem vollendeten Glück des Menschen?" Mit diesen Fragen eröffnet die angezeigte Arbeit (1) von Peter Schallenberg, Habilitationsschrift an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, eine Untersuchung zur Konstitution der Subjektivität durch die Liebe in der Ethik. Wie können Gott, Glück und gelingendes Leben so zusammengedacht werden, dass die durch Gott begründete Subjektivität in den Kontext einer eudämonistischen Ethik eingefügt werden kann? Oder mit anderen Worten: Wie lassen sich Theologie und eudämonistische Ethik verbinden, ohne dass Gott lediglich zum Erreichen des Glückes instrumentalisiert wird?

Damit sind verschiedene zurzeit in der Philosophie ("Ende des Subjekts"), in der theologischen Anthropologie und dort insbesondere kontrovers zwischen katholischer und evangelischer Theologie (passive Konstitution des Menschen, Entwicklung von der "natürlichen" Selbstliebe zur Gottesliebe) und in der populären Lebensphilosophie (Glück und gelingendes Leben) verhandelte Themen angesprochen.

Die Arbeit ist historisch angelegt, klärt aber zunächst systematisch die Leitfrage nach der Bedeutung der von Fénelon aufgestellten und in einigen Sätzen von Rom verurteilten These von der Notwendigkeit und der Möglichkeit des amour pur, der reinen Liebe zu Gott, in der Subjektivität, Gott und Glück miteinander verbunden sind.

Im ersten Kapitel ("Historische Sondierungen der theologisch-ethischen Frage nach dem Glück") arbeitet der Vf. die ethische Fragestellung heraus. Ausgehend von der Feststellung, dass Interesse immer von Selbstinteresse ausgehe, wird das Selbstverhältnis mit Kierkegaard als notwendig auf die absolute Begründung des eigenen Seins hin ausgerichtet bestimmt. Lebenskunst, Selbstsorge, Selbstvergewisserung und Glück bedürfen eines absolut vergewissernden Hintergrundes, der sich im Gottesgedanken bietet. Damit ist die anthropologische Funktion des Gottesgedankens benannt, der Gottesgedanke ist subjektorientiert gedacht: "Diesem subjektorientierten Gottesgedanken kann auch die theologische Ethik, die zugleich Sinnwissenschaft und Glaubenswissenschaft ist, nicht ausweichen" (9). Deshalb soll Ethik im Anschluss an Arbeiten von Klaus Demmer, der auch die vorliegende Arbeit angeregt hat, als Sinnwissenschaft (13 f.) entfaltet werden. Es geht dabei um einen Prozess der Reinigung des Subjekts und der Liebe von der Selbstliebe zur reinen Liebe Gottes hin. In diesem Prozess sind Ethik und Theologie, Konstitution des Subjekts und "geglücktes Leben", Naturrecht und Offenbarung Gottes verschränkt. Damit ist das Konzept der autonomen Moral (Alfons Auer), das um der Kommunikabilität in der säkularisierten Welt willen entworfen worden war, überholt. Der Gottesbegriff bekommt wieder eine Funktion innerhalb der Ethik. In einem kurzen Rekurs auf die philosophisch-theologische Tradition (Aristoteles, Augustin, Kant) wird das angedeutet. Die Ausführungen sind kundig geschrieben, wegen der Überfülle an Zitaten aus der Sekundärliteratur allerdings auch stellenweise mühsam zu lesen.

Den Hauptteil der Arbeit bildet das umfangreiche zweite Kapitel ("Die neuzeitliche Ethik an der Schwelle des Subjekts", 35- 169), in dem die Entwicklungslinien der neuzeitlichen theologischen Ethik in der katholischen Tradition auf Fénelon hingeführt werden. Martin Luther, für den die Frage nach der anthropologischen Möglichkeit der Erreichung reiner Liebe zu Gott Ausgangspunkt seines kritischen Denkens der Rechtfertigungslehre war, wird in diesem Zusammenhang nur unbefriedigend zur Kenntnis genommen (60.64).

Der Abschnitt Mystik und Moral in Begriff des "amour pur" bei Fénelon bildet das Herzstück der gesamten Arbeit. Fénelon, Erzbischof von Cambrai, Erzieher des Enkels Ludwigs XIV. am Hofe von Versailles, ist darum bemüht, eine reine, bedürfnisfreie Gottesliebe als Grund und Ziel des authentischen Ich zu erweisen. Er folgte der mystischen Tradition, wozu auch seine Bekanntschaft und geistliche Freundschaft mit Madame Guyon beitrug, und führte die augustinische Rede vom "Gott in der Hölle lieben" zur Vorstellung der reinen Gottesliebe im "abandon-de-soi-même" (107) in der interesselosen Liebe. Damit aber ist die klassische Gnadenlehre und der Satz: "Gratia perficit naturam" tangiert. Der Gegenspieler Fénelons am Hofe Ludwigs des XIV., Bossuet, Bischof von Meaux, erkannte in Fénelons Äußerungen die Gefahr des Quietismus. Auf sein Betreiben hin kam es 1699 zur Verurteilung von 23 Sätzen Fénelons durch Innozenz XII.

Alle eudämonistischen Züge aus der Ethik verbannend fragte Fénelon nach der reinen moralischen Motivation. Im Anschluss an die Stufen der Gottesliebe von Bernhard von Clairvaux geht es in der Liebe ohne Interesse um die ethische Konstitution des Ich-Selbst und um die theologisch subjektorientierte Vergewisserung der Moral. Im 20. Jh. hat Erich Fromm diesen Sachverhalt im Kontext humanistischer Psychoanalyse in dem Satz formuliert, dass Lieben wichtiger sei als Geliebtzuwerden (ders., Die Kunst des Liebens, [1956] Frankfurt/M-Berlin-Wien 1974, 63). Um 1700 beschäftigte der Streit zwischen Fénelon und Bossuet die philosophisch gebildete Diskussion in ganz Europa. Fénelons Ansichten wurden von vielen Aufklärern (Friedrich dem Großen) positiv rezipiert. Die katholische Moraltheologie konnte freilich die Dissoziation von natürlichem Verlangen nach Glück und übernatürlichem Verlangen nach Seligkeit nicht akzeptieren. Deshalb erscheint das Urteil des Vf.s, Fénelons Verurteilung sei aus heutiger Sicht unnötig gewesen (9), wenig überzeugend. Die kritischen Voten der katholischen Moraltheologie, die der Vf. anführt (163 f.), lassen das erkennen.

Im dritten und letzten Kapitel ("Die theologische Ethik als Suche nach personalem Glück", 171-253) zielt der Vf. auf die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen nach der Realisierung von Liebe und Glück in einer in Gott begründeten Ethik und führt das an den Arbeiten von Romano Guardini und Klaus Demmer durch. Damit wird Fénelon, ohne dass der Vf. das bemerkt, geradezu "eudämonistisch korrigiert", denn es geht um ein "christliches Eudämonieverständnis" (Demmer, 233 f.), in dem "geglückte Gestalten" (bei Guardini paradigmatisch Jesus, Augustin, Pascal und Bernhard von Clairvaux, 174) oder der geglückte eigene Lebensentwurf (Klaus Demmer) aufgezeigt werden sollen.

Die Subjektorientierung des Gottesgedankens provoziert kritische Bemerkungen. Im Blick auf die Anthropologie fällt auf, dass das Ärgernis von Entfremdung und Sünde eigenartig ausgeblendet bleibt. Die Rettung des Subjekts gelingt in existentialen Kategorien, aber das Subjekt erscheint als entweltlicht. Der Gottesbegriff als Leitbegriff für geglücktes Leben verdankt sich eher dem apologetischen Interesse im Kontext der Erlebnisgesellschaft als der biblischen Tradition des Gottes des Erbarmens. Es scheint fraglich, ob die Leitvorstellung geglückten Lebens den Subjektbegriff endlicher und d. h. auch fragmentarischer Menschen und die Vorstellung des für sie eintretenden Gottes angemessen erfasst.

Ungeachtet dieser Bemerkungen leistet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Konstitution des Subjekts und den Beitrag katholischer Moraltheologie dazu. Der Diskurs darüber muss weiter geführt werden auch im kontroverstheologischen Gespräch zwischen katholischer und evangelischer Theologie.