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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

555–557

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 2002. 368 S. gr.8 = Studien zur Theologischen Ethik, 96. Kart. Euro 45,00. ISBN 3-7278-1380-6 (Universitätsverlag); 3-451-27931-2 (Herder).

Rezensent:

Wolfgang Huber

Nachdem Martin Honeckers Konzeption von Ethik und Sozialethik in zwei Lehrbüchern (1990, 1995) zusammengefasst vorliegt, hat H. dem zwei Aufsatzbände folgen lassen. Der Band von 1998 widmet sich der öffentlichen Rolle des deutschen Protestantismus (siehe meine Rezension in ThLZ 125 [2000], 668). Der 2002 vorgelegte Band lässt den Weg erkennen, den H. in der ethischen Theoriebildung gegangen ist, und verbindet dies mit einer Reihe aktueller Positionsbestimmungen. H. lässt den Leser wissen, er selbst sei erstaunt gewesen, dass sich das Material für einen weiteren Aufsatzband so mühelos gefunden habe. Ihm wie den Lesern ist zu wünschen, dass H., der am 2. Mai 2004 das 70.Lebensjahr vollendete, sich auch weiterhin mit der Schaffenskraft einbringen kann, die sein Wirken nun seit mehr als vier Jahrzehnten prägt.

Die 24 Beiträge dieses Bandes sind, von einem vorausgestellten Text über "Theologische Ethik in einer säkularisierten Gesellschaft" abgesehen, in vier Teile gegliedert. Ausführlich werden die "Anthropologischen Grundlagen" der Ethik erörtert. Dieser Teil zeigt, dass H. die positive Verknüpfung zwischen Theologie und Ethik ganz und gar in der Anthropologie verankert. Er versucht dadurch, seine frühere These, dass der Glaubensbezug für die Ethik nur auf der Ebene der Motivation eine Rolle spiele, zu präzisieren. Die reine Vernunftorientierung seiner früheren ethischen Konzeptionen gleicht er nun dadurch aus, dass er auch Affekt und Erfahrung als "Kontexte zur Vernunft" zur Geltung bringt. Die Krise einer reinen Vernunftethik veranlasst ihn dazu, eine "Krisenethik" als unausweichlich auszurufen. Er bekräftigt seine Grundentscheidung, mit Schleiermacher die Sozialethik als Güterethik zu entwerfen. Und er versucht, den Wirklichkeitsbezug der Ethik zu stärken, indem er mit Julian Nida-Rümelin statt von angewandter Ethik von "Bereichsethiken" spricht.

Während der Theologie im Blick auf die anthropologischen Grundlagen eine positive Bedeutung für die Ethik zuerkannt wird, fällt die darüber hinausgehende Erörterung "theologischer Perspektiven" im zweiten Teil wesentlich skeptischer aus. Im Wesentlichen demonstriert dieser Teil, dass eine direkte Berufung auf theologische Prinzipien oder Grundbegriffe für die Ethik unmöglich beziehungsweise verhängnisvoll ist. Das gilt für das Schriftprinzip oder ein vermeintliches prophetisches Mandat ebenso wie für Schöpfung, Versöhnung oder Reich Gottes. Als Erstveröffentlichung findet sich in diesem Teil ein Text über "Tabu und christliche Freiheit". Er beginnt mit der These, dass es im Horizont christlicher Freiheit Tabus nicht geben könne, und endet mit der Feststellung, dass bestimmte Tabus notwendig und lebensdienlich seien. Der vermeintliche Widerspruch ließe sich m. E. lösen, wenn deutlicher zwischen der Tabuisierung von Fragen, die es im Horizont christlicher Freiheit so wenig geben kann wie im Horizont neuzeitlicher Vernunft, und der Tabuisierung von Handlungen unterschieden würde, für die durchaus auch im Horizont der christlichen Freiheit und vernunftorientierter Abwägung gute Gründe vorgebracht werden können.

Der dritte Teil ist "kulturellen und gesellschaftlichen Konkretionen" gewidmet, beginnt allerdings zunächst mit weiteren grundbegrifflichen Klärungen. Die Konkretionen betreffen das Menschenrechtsdenken, die Familienethik und die Bioethik. Sie fassen H.s Positionen zu diesen Themenfeldern bündig zusammen. Am derzeit heikelsten Punkt der bioethischen Debatte allerdings - der Frage nämlich, von wann an menschliches Leben als das Leben eines Menschen zu schützen sei - erscheint mir sein Weg keineswegs so schlüssig wie von ihm selbst angenommen. Wenn man in einer organismischen Theorie der menschlichen Entwicklung davon ausgeht, dass die menschliche Person nicht etwa mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle schon fertig vorhanden ist, sondern sich in einem organischen Prozess entwickelt, in dem allerdings nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle keine Stufe auszumachen ist, von der an eine neue Qualität dieses menschlichen Lebewesens erst beginnt, so folgt aus einer solchen "organismischen" Betrachtung keineswegs eine "gradualistische" Sicht, die das Lebensrecht für bestimmte Entwicklungsphasen zur Disposition stellen könnte. Vielmehr verlangt ein ethischer Tutiorismus gerade dann, den Lebensschutz von Anfang an gelten zu lassen (eine Steigerung einer tutioristischen Betrachtung zu einer "tutioristischeren" - so S. 321 - erscheint mir freilich nicht als möglich). Es trifft deshalb m. E. auch nicht zu, dass der Rat der EKD in seinen Äußerungen zu bioethischen Fragen "die katholische Position übernommen" habe (323). Vielmehr hat er für seine Auffassung, dass der Schutz menschlichen Lebens auf den frühen Stufen seiner Entwicklung nicht zur Disposition gestellt werden dürfe, durchaus eigene Gründe geltend gemacht.

Das Buch schließt mit zwei Texten zur ökumenischen Diskussionslage, die in diesem Zusammenhang eher den Charakter eines Anhangs haben. Die Schwierigkeiten der Vereinheitlichung, die sich bei einem Aufsatzband stets stellen, sind in diesem Buch insgesamt gut gelöst, auch wenn sich vermutlich durch Scannen gelegentliche Verschreibungen und auch manche Zahlenvertauschungen eingeschlichen haben. Zwei Verfremdungen von Fremdwörtern verdienen es, festgehalten zu werden: die "Kondenszendenz" und der "Präg-Embryo".