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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

553–555

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Beestermöller, Gerhard [Hrsg.] 2) Beestermöller, Gerhard, u. Hans-Richard Reuter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1) Die humanitäre Intervention- Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Krieges. Mit Beiträgen v. G. Beestermöller, O. Höffe, D. S. Lutz, M. Köhler, R. Merkel, J.-Ch. Merle, u. H. Schmidt.

2) Politik der Versöhnung. Mit Beiträgen von G. Beestermöller, M. Delgado, W. J. Everett, L. G. Feldman, Th. Hoppe, W. Lienemann, D. Little, B. Moltmann, H.-R. Reuter, E.-A. Scharffenorth, R. Schreiter, u. W. Vögele.

Verlag:

1) Stuttgart: Kohlhammer 2003. 171 S. gr.8 = Theologie und Frieden, 24. Geb. Euro 25,00. ISBN 3-17-017595-5.

2) Stuttgart: Kohlhammer 2002. 258 S. gr.8 = Theologie und Frieden, 23. Geb. Euro 29,00. ISBN 3-17-017348-0.

Rezensent:

Michael Haspel

Der Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) wegen des Kosovo-Konfliktes hat vielfältige Reflexionen über die prinzipielle Zulässigkeit humanitär begründeter Interventionen, insbesondere ohne Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, ausgelöst. Wird also den vorhandenen noch eine weitere Aufsatzsammlung hinzugefügt, wird sie sich mit der Frage konfrontiert sehen, welchen surplus sie zu erzielen vermag.

Dabei ist der 2003 erschienene Band "Die humanitäre Intervention - Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Kriegs" mit einigen Handicaps belastet. Er dokumentiert im Wesentlichen Beiträge einer Konferenz aus dem Jahr 2000. Über einige vorgetragene Argumente ist in der auch für einen Tagungsband doch als lange anzusehenden Zeit bis zum Erscheinen die Debatte hinweggegangen. Andere Texte wurden bereits, teilweise mit im Wesentlichen selbem Inhalt, teilweise im Wortlaut, an anderer Stelle publiziert. Was bringt der Band also Neues?

Der Schlussbeitrag des Herausgebers Gerhard Beestermöller verdient mit Sicherheit das Prädikat, neue Perspektiven für die Debatte eröffnet zu haben. Er rekonstruiert zunächst den Zusammenhang von der Lehre vom bellum iustum und der Kreuzzugsdoktrin bei Thomas von Aquin, um dann aufzuzeigen, dass sich vor allem interventionsgeneigte Positionen in der Diskussion um den Kosovo-Krieg implizit verschiedener Argumentationsfiguren des Aquinaten bedienen. Wenn man allerdings diese Begründungen im Lichte der bei Thomas reflektierten Gedankengänge betrachtet, wird schnell die begrenzte Reichweite von Theorieanleihen deutlich, die aus völlig anderen Entstehungskontexten mit deren normativen Implikationen in heutige Anwendungsbereiche übertragen werden.

Diese Kritik lässt sich in gewisser Weise auf zwei Beiträge des anzuzeigenden Bandes beziehen. Otfried Höffe und Jean Christophe Merle entwerfen unter Heranziehung kantischer und thomanischer Begründungsmuster auf dem Nothilfe-Konzept aufbauende interventionsfreundliche Programme. Neben im Einzelnen interessanten Argumenten irritiert bei beiden Autoren allerdings der problematische Umgang mit den empirischen Konfliktverläufen. So baut Höffes Argumentation für eine Intervention in den Kosovo-Konflikt auf Annahmen auf, die zumindest als umstritten gelten dürfen. Auf was er sie stützt, erfährt man nicht. Den dafür grundlegenden Berichten der OSZE, von Human Rights Watch und der Parlamentarischen Versammlung der NATO entstammen sie jedenfalls nicht. Bei Merle irritiert etwa seine Verwunderung darüber, dass die westlichen Demokratien in Chile gegen Pinochet keine humanitäre Intervention durchgeführt haben. Weiß er denn nicht, wer dieser Diktatur an die Macht verholfen und sie bis zum Schluss unterstützt hat? In ähnlicher Weise verwunderlich ist sein als "pragmatische Alternative" gedachter Vorschlag, schweren Menschenrechtsverletzungen, insbesondere drohenden ethnischen Säuberungen und Völkermord, durch "humanitäre Evakuierung" zuvorzukommen. Neben vielen anderen Problemen, die dieser Vorschlag mit sich bringt, sei bezogen auf den Kosovo daran erinnert, dass ja gerade der wesentliche Grund für den Krieg für die beteiligten europäischen NATO-Länder war, Flüchtlingsströme aus dem Kosovo zu verhindern und sie vor Ort aufzufangen und möglichst schnell wieder zurückzuführen. Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie unzureichende Kenntnisse von Konfliktverläufen problematische Folgen für ihre normative Analyse haben. Dies zeigt sich besonders insofern, als diese empirischen Annahmen in die normative Argumentation einfließen und nicht nur im Einzelfall zu fragwürdigen Urteilen führen, sondern im Ganzen zur Stützung der jeweiligen theoretischen Position herangezogen werden.

Dass es auch anders geht, zeigt Hajo Schmidt in seinem Beitrag. Auch wenn man ihm nicht in allen Einzeleinschätzungen folgen wird, gelingt es ihm, durch die Verschränkung von informierter Konfliktanalyse und Diskursanalyse der medial verbreiteten Begründungsfiguren für den Krieg gegen die BRJ einen kritischen Zugriff auf den Gegenstand zu gewinnen. Gegen diesen Hintergrund kann er dann eine rechtsethische Argumentation entfalten, die im Wesentlichen die interventionsbefürwortenden Argumente im Falle des Kosovo dekonstruiert und ihre begrenzte Reichweite für die Theorieentwicklung aufweist.

Daran schließt sich die prinzipiellere Frage an, ob es denn wirklich aussichtsreich ist, die in der deutschen "politischen Philosophie" anscheinend immer noch verbreitete Eingrenzung des Theorieangebots auf Kant oder eine Melange aus Kant und Thomas als ausreichend anzusehen. Vielleicht sollte man doch zur Kenntnis nehmen, dass die Debatte des institutionalistischen Ansatzes über Kant, und die Diskussion über Kriterien des Just and Limited War über Thomas hinausgegangen sind. Übrigens nicht erst seit dem Kosovo-Krieg.

Nach schweren inner- wie zwischengesellschaftlichen Konflikten, wie etwa im Kosovo, stellt sich die Frage, wie mit dem begangenen Unrecht umgegangen werden soll, um in Zukunft ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Dieser Frage geht der Tagungsband "Politik" der Versöhnung nach. In theologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie das christliche Zentraldogma der Versöhnung Gottes mit den Menschen als Sündern auf das Versöhnungshandeln zwischen den Menschen bezogen wird, speziell auf den besonderen Versöhnungsauftrag der christlichen Kirchen. In politischer Hinsicht wirft die Frage intra- und intergesellschaftlicher Versöhnung vor allem das Problem auf, wie das Ziel der Versöhnung mit der Aufdeckung der Wahrheit und dem Herstellen von Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden kann.

In Auseinandersetzung mit der theologischen Fragestellung werden in den Beiträgen des Bandes unterschiedliche Akzente gesetzt. Hans-Richard Reuter warnt vor einer quasi kausal-effektiven Ableitung der Pflicht zur Versöhnung der Christinnen und Christen aus dem göttlichen Versöhnungshandeln. Reuter sieht hier die Gefahr eines ontologischen Fehlschlusses, ohne freilich den Anspruch christlichen Versöhnungshandelns, etwa gemäß 2Kor 5,18, preiszugeben: "Versöhnung lässt sich nicht behaupten, nur bezeugen" (22). Wolfgang Vögele geht in seinem Beitrag noch einen Schritt weiter. An einen Vorschlag des Alttestamentlers Frank Crüsemann anknüpfend verweist er auf den Strang der biblischen Überlieferung, der die Versöhnung zwischen den Menschen als Voraussetzung für die Versöhnung der Menschen mit Gott betont (etwa Mt 5,23 f.). Damit wird eine theologische Überhöhung des Versöhnungsbegriffs vermieden und die Gefahr der "billigen Gnade" gebannt, indem die Kirchen auf konkretes soziales Versöhnungshandeln gewiesen werden. Genau dadurch ist dieses Versöhnungsverständnis aber ein zutiefst theologisches. Für die Kirche eröffnet sich das Feld des aktiven Vermittlers, der third party, wodurch Versöhnung konkrete Gestalt gewinnen kann: "Gerade darin aber, in der auf Dauer und Kontinuität angelegten Vermittlungs- und Versöhnungsarbeit, die Geduld, Beharrlichkeit und Hoffnung erfordert, könnte die große Chance der Kirchen liegen" (164).

Diese grundlegenden Überlegungen werden ergänzt durch zwei Artikel zu den Voraussetzungen und Verfahrensweisen von so genannten Versöhnungskommissionen, in denen vor allem seit den 90er Jahren Versöhnungsprozesse institutionalisiert werden (Robert Schreiter, David Little). In Fallstudien werden einzelne Konflikte und Versöhnungsinitiativen exemplarisch untersucht. Die Beispiele Deutsche und Tschechen (Ernst-Albert Scharffenorth), Nordirland (Bernhard Moltmann), Lateinamerika (Mariano Delgado) berücksichtigen dabei besonders die Rolle der Kirchen und werden ergänzt durch Untersuchungen zur Aufarbeitung des innergesellschaftlichen Konflikts um den Vietnam-Krieg in den USA (William Johnson Everett) und zu den Ansätzen der Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel (Lily Gardner Feldmann). Die teilweise bis zur Unlesbarkeit entstellten Übersetzungen aus dem Englischen gehören sicher zu den erwähnenswerten Monita.

Die systematische politische und rechtsethische Problematik der Versöhnung wird besonders in zwei Beiträgen herausgearbeitet. Thomas Hoppe macht in einer Untersuchung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit darauf aufmerksam, dass bis heute viele Täter eine Auseinandersetzung mit den Opfern verweigern. Neben den bleibenden Schäden der Repression durch die staatlichen Organe der DDR sind es oft die Opfer, denen nun auch nach der Vereinigung die Rückkehr zur Normalität durch die "Schatten der Vergangenheit" verwehrt bleibt, während sich viele Täter in der neuen Bundesrepublik ganz kommod eingerichtet haben. In einer materialreichen Studie zur südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission stellt Wolfgang Lienemann neben den wichtigen Erträgen der Kommission im Bereich der Wahrheitsfindung und ihrer therapeutischen Funktion auch deren Defizite heraus. Bis heute sind die Fragen der Entschädigung und der Beseitigung der strukturellen Ursachen der ökonomischen Ungerechtigkeit nicht befriedigend gelöst. Gerade hier hätte man sich noch eine genauere Untersuchung des Zusammenhangs der politischen Rahmenbedingungen (weder ANC noch die Apartheids-Regierung hatten ein Interesse an der rechtlichen Verfolgung der in der Apartheidszeit von beiden Seiten begangenen Gewalttaten) und der Beschränkung der Versöhnung auf - wenn auch wichtige und beeindruckende- im Wesentlichen symbolische Akte gewünscht.