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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

466–468

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Graham, Matt Patrick, Hoglund, Kenneth G. and Steven L. McKenzie [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Chronicler as Historian.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1997. 336 S., 1 Taf. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament, Suppl. Series 238. ISBN 1-85075-651-1.

Rezensent:

Thomas Willi

Eine der ergiebigsten und beständigsten Arbeitsgruppen der Society of Biblical Literature ist die Sektion zu Chr-Esr-Neh. Begründet und über lange Jahre betreut durch Ralph W. Klein (Chicago), der selber die erste der Spezialstudien über "inflated numbers" (282) unter dem Titel "How Many in a Thousand" (270-282) beisteuert, steht sie heute unter der umsichtigen Leitung von Matt Patrick Graham. Der Leiter der Pitts Theological Library und Professor an der Emory University in Atlanta hat 1990 die gründliche Studie "The Utilization of 1 and 2 Chronicles in the Reconstruction of Israelite History in the 19th Century" (SBLDS 116) vorgelegt. Davon profitiert die Arbeitsgruppe, und damit ist auch die Thematik des zusammen mit Kenneth G. Hoglund - Archäologe und Verfechter der These eines achämenidischen Imperialismus in Palästina - und Steven L. McKenzie, dem prominenten Deuteronomismusforscher, herausgegebenen Bandes angedeutet. Er beruht auf den an der Tagung der Sektion beim Jahreskongress der SBL in Chicago 1994 gehaltenen Referaten und ist dem früh und plötzlich verstorbenen Raymond B. Dillard gewidmet, der allen mit Chr befaßten Forschern durch seine menschliche und theologisch-wissenschaftliche Haltung ein unvergeßlicher Kollege ist. Die Tagungsteilnehmer stammten mit Ausnahme von Anson F. Rainey (Tel Aviv) alle aus den USA - der Rez. kann bezeugen, daß diese vielleicht leise bedauerliche Tatsache wirklich nicht auf das Konto der einladenden Organisatoren geht.

Kenneth G. Hoglund eröffnet den Band mit "The Chronicler as Historian: A Comparativist Perspective" (19-29). Er vergleicht die chr mit der zeitgenössischen griechischen Geschichtsschreibung (Akusilaus von Argo, Pherekydes von Athen, Hekataios u. a. m.) und belegt den Vergleich nicht nur mit der Bedeutung von Genealogien, die bekanntlich zu den Propria der Chr gegenüber DtrG gehören, sondern auch mit der Rolle der Propheten als königlichen Ratgebern sowie dem Bemühen um Authentifikation etwa in Form "exakter" Zahlenangaben. Die Ansetzung der Chr ins 4. Jh .v. Chr. würde auf diese Weise noch wahrscheinlicher. In dieses vorhellenistische Jahrhundert datiert auch Isaac Kalimi, "Was the Chronicler a Historian?" (73-89) den Chronisten, dessen Werk er - in einem beeindruckenden Panorama der Forschungspositionen - weder als Midrasch (J. Wellhausen), noch als Auslegung (T. Willi) noch als Theologie (P. Rackroyd), sondern affirmativ als "historiography" (89) bestimmt, allerdings im selben Satz den Chronisten als "a creative artist" apostrophierend.

Damit ist die Grundfrage auf der Tagesordnung. Sie sei hier, weil sie allen Beiträgen mehr oder minder explizit zugrundeliegt, in eigenen Worten formuliert. Die "Geschichte des Chronisten" im Sinne eines gen. subj., d. h. die vom Chronisten durchaus mit dem Werkzeug des Historikers aller Zeiten wie der Quelleninterpretation (die Auslegung impliziert) gestaltete Geschichte der vorexilischen Zeit Israels ist nicht die Geschichte, die dem im Band immer wieder an entscheidender Stelle zitierten J. Wellhausen vor Augen stand. Er hat die Differenz hinlänglich klar formuliert, aber damit gleichzeitig eine Bahn freigemacht, die er selber nicht betreten konnte oder wollte. Sie führt zur "Geschichte des Chronisten" im Sinne eines gen. obj., d. h. zur Geschichte der Welt und Zeit des Chronisten, in der nun allerdings Chr zum Dokument und Zeitzeugnis ersten Ranges wird. Nach der Debatte um die Verläßlichkeit der Chronik hinsichtlich der dargestellten Zeit Israels (vgl. die zahlreichen Verweise auf den maßgebenden Aufsatz von S. Japhet über die "Historical Reliability" von Chr, JSOT 33, 1985, 83-107) scheint es heute geboten, die Diskussion um die Verläßlichkeit der Chr wofür zu eröffnen. Das mag der Grund dafür sein, daß alle Erörterungen über mögliche außerbiblische Quellen einen schalen Nachgeschmack hinterlassen, während jene der Beiträge am meisten befriedigen, die die erzählte Geschichte auf die erzählende Zeit hin transparent zu machen verstehen.

Anson F. Rainey "The Chronicler and his Sources" (30-72) kommt trotz aller minutiösen Erwägungen doch nicht über ein "It seems hardly credible that these affairs could be his [des Chronisten] own invention" (55) hinaus. Um es zugespitzt zu formulieren: Wenn der/die Verfasser von DtrG Historiker sind und der Chronist ebenfalls als Historiker anzusprechen ist, dann verdunkelt der Begriff "Historiker" mehr als er erhellt, weil er der differentia specifica beider Werke nicht Rechnung trägt. Es ist jeder ernsthaften Überlegung wert, warum der Chronist nicht einfach ein weiterer Deuteronomist ist, warum er nicht zum Fortschreiber des DtrG wurde oder werden konnte, sondern neben das DtrG, das er doch so genau kannte und benutzte, sein Werk stellte.

In diesem Sinne sei hier versucht, die verschiedenen Untersuchungen vorrangig auf ihren Beitrag zur Lösung dieser Frage abzuhorchen. Nachdenklich stimmt schon der von William H. Barnes, "Non-Synoptic Chronological References in the Book of Chr" (106-131) erhobene Befund, daß von gut 30 solchen Referenzen gerade 3 (1Chr 26,31; 2Chr 15,10; 30,2.13.15) einer kritischen Nachprüfung standhalten. Roddy L. Braun (92-105) setzt die kritische Sonde bei der Beobachtung an, daß M. Noth mit seinen "Überlieferungsgeschichtlichen Studien I" (1943) im Grunde einen Rückschritt gegenüber J. Wellhausen bedeutet, weil er DtrG und Chr von vornherein eine parallele Behandlung angedeihen läßt. Tatsächlich muß bei Chr in ganz anderer Weise als bei DtrG von "reconstruction of History" (92) gesprochen werden. Das erhellt vor allem aus dem Sondergut, für das beispielhaft die Genealogien stehen. - Mit einer weiteren Kategorie chr Sonderguts befassen sich die Aufsätze von Ehud Ben Zvi (132-149) und John Van Seters (283-300). Ben Zvi macht die interessante Beobachtung, daß bei den chr Bauberichten zu unterscheiden ist zwischen Nachrichten über Jerusalem und solchen über die Landschaft Juda, die ihrerseits allein als Kontrastfolie zum Nordreich herhalten kann (148). Ben Zvi warnt davor, chr Mitteilungen nur für eine enggeführte einheitliche Tendenz in Anspruch nehmen zu wollen; viel öfter sind hier "multiple purposes" am Werk (141). Im Gegenzug behandelt Van Seters den Baubericht über den Jerusalemer Tempel (283-300). Er beobachtet einen erklärten Willen beim Chronisten, die davidisch-salomonische Epoche als "the constitutional age" darzustellen (300) und daher zu ihrer Schilderung Züge des priesterschriftlichen Berichts über den Bau der Stiftshütte einzutragen. Das Vorgehen sei daher nicht als Ex-, sondern als Eisegese zu charakterisieren (300) - allerdings bleibt die Tatsache anzumahnen, daß es sich eben nicht um eine arbiträre Eintragung aus der Gegenwart, sondern um eine solche aus der Schrift handelt!

Die Studien von John W. Wright über die Kriegsberichte (150-177), Gary N. Knoppers über die Königsreformen (178-203), William M. Schniedewind über Propheten und Prophetie (204-224) beleuchten das Thema aus speziellen Blickwinkeln. Christopher T. Begg weist anhand der Behandlung von Joasch nach, daß Chr für Josephus dieselbe Autorität wie Kön hatte (301-320, v. a. 318). Zwillingsbeiträge bilden in gewissem Sinne Samuel E. Balentines Studie mit dem schönen und theologisch gewichtigen, Mark Twain entliehenen Titel, "’You Can’t Pray a Lie’: Truth and Fiction in the Prayers in Chronicles" (246-267) über die liturgiegeschichtlich noch kaum hinlänglich augewerteten chr Gebete und Mark A. Throntveit über die Reden in Chr (225-245). Im Sinne der hier eingangs vorgeschlagenen Unterscheidung hält Throntveit fest, Chr stelle "a primary source of information" dar - freilich "about the thoughts, ideas und theological perspectives of Chr himself" (245).

Als Bilanz dieses gewichtigen Bandes läßt sich vorläufig festhalten, daß die Chronik, wenn sie denn Geschichte sein will und sein soll, nach moderner Nomenklatur eindeutig der Kategorie der "Gedächtnisgeschichte", nicht der "Ereignisgeschichte" zuzuordnen ist.