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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

540–542

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Enno

Titel/Untertitel:

Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. X, 277 S. 8. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-16-147893-2.

Rezensent:

Cornelia Richter

Seit nunmehr ca. 30 Jahren wird Cassirers Werk wieder verstärkt rezipiert, ordentlich ediert und in seiner Eigenständigkeit differenziert wahrgenommen. Es war und ist R.s Verdienst, diesen Prozess durch zahlreiche Aufsätze und Vorträge, als Initiator von Symposien, als Herausgeber und durch sein Engagement für die Cassirer-Gesellschaft begleitet zu haben. Umso erfreulicher ist es, einige seiner breit gestreuten Beiträge nun in einem eigenen Sammelband vorliegen zu sehen. Die Texte seien "allesamt im Blick auf eine gemeinsame Präsentation verfaßt worden [...,] von der Motivation geleitet, C.s konstruktive Kant-Kritik jenseits der neukantianischen Schulrichtungen, seinen humanistischen Protest gegen den Staatsidealismus des Rechtshegelianismus und seine gescheiterte Apologie des Anliegens einer nachkantischen Kulturphilosophie gegen Heidegger zu konturieren" (IX). Durchgeführt wird diese Konturierung anhand zahlreicher Verhältnisbestimmungen Cassirers zu anderen Autoren, insgesamt kreisend um die drei in R.s Augen bisher eher vernachlässigten Bereiche von Religionsphilosophie, Geschichtstheorie und politischer Philosophie (vgl. IX f.).

Eröffnet wird dieser bunte Reigen durch Überlegungen zur "Geschichte einer philosophischen C.-Rezeption", von der R. gleichwohl meint, sie könne "einstweilen nicht geschrieben werden", denn: "es gibt sie noch nicht" (1). Die Ursachen sieht R. in der Dominanz der Schulen um Heidegger einerseits und in der Nachfolge Hegels andererseits. Für Erstere sei zu fragen, "wie es möglich war, daß der Philosophenkönig der ersten Stunde des deutschen Faschismus, M[.] Heidegger, [auch jener] der ersten Stunde des nachfaschistischen Deutschlands blieb" (2). Für die zweite Seite gelte, dass sie von Hegels "Aufklärungskritik und Destruktion des Kantianismus" nichts zurücknehmen, "so daß ein am kantianischen Wissenschafts-, Philosophie- und Humanitätsbegriff orientierter Geisteswissenschaftler nach dem zweiten Weltkrieg ... einer dreifachen Front gegenüberstand: der Heidegger-Schule, der kritischen Theorie und der hegelkonformistischen Ritter-Schule" (3 f.). Für Cassirer selbst meint R. festzustellen, dass er sich "[a]m Streit um Hegel ... kaum beteiligt", sich vielmehr "trennscharf abzugrenzen" (4) versucht und sich "eher der hermeneutischen Wende des 19. Jahrhunderts" um Schleiermacher angenähert habe (5). - Insgesamt eine Einschätzung, die der exakteren Diskussion bedürfen wird.

Die drei folgenden Beiträge "Zwischen Leibniz und Einstein" sind Cassirers Relativismus-Konzeption, seinem Substanz- und Funktionsbegriff sowie dem Verhältnis von Symbolismus und Realismus gewidmet, wobei besonders R.s Überlegungen zu Cassirer und Peirce bisher unterbelichtete Bezüge erhellen. Es folgen vier weitere Themenkomplexe:

1. Das Verhältnis von Mythos und Religion bei Cassirer sei als eines von kulturgenerierender Funktion einerseits (Mythos) und gesteigertem Reflexions- und Deutungspotential andererseits (Religion) zu verstehen, aber (in etwas eigenwilliger Interpretation) so, dass die Religion zu einem tragischen Verlust an Symbolreichtum (vgl. 62 f.) führe und daher "nirgends ... als wünschenswerte[r] Fortschritt" begrüßt, sondern "als kulturhistorisches Faktum" mit einem "fatalen Preis" analysiert worden (87) sei. Zugleich gelte jedoch, dass Cassirer die Macht des Mythos lange unterschätzt und erst während des Nationalsozialismus gesehen habe. Dies habe "eine Überprüfung seiner kulturtheoretischen Mythengenealogie" (64) erfordert und zu einer "realistische[n] Revision seiner idealistischen Kulturentwicklungsvision" (64) geführt. Ob Cassirer sich damit jedoch tatsächlich am Ende "konsequent vom Kulturkritiker ... zum Geschichtstheoretiker nachaufklärerischen Typs" entwickelt hat (64), wäre genauer zu klären.

2. widmet R. sich Cassirers Verständnis der "Renaissance als eine[r] vormoderne[n] Aufklärung" (98). Ihr verdanke Cassirer die Vorstellungen von Diesseitigkeit des Glücks, Endlichkeit des Lebens und Individualität der Person (106), die ihren Ausdruck fänden in der Figur der Gottebenbildlichkeit des Menschen als einer praktisch-mimetischen Ebenbildlichkeit (103). Cassirer habe - mit P. d. Mirandola - aber sehr wohl die Gefahr gesehen, die mit dieser Freiheit des Individuums einhergehe: Der Mensch könne werden wie Gott, aber er könne sich auch "verlieren und damit seine Menschlichkeit aufs Spiel setzen" (108). In dieser Linie erscheint es höchst plausibel, dass und wie Cassirer mit Cusanus zu einem prinzipiellen Perspektivismus übergeht. Er "plädier[e] für eine Komplexitätssteigerung der kulturellen Formen [und] einen Pluralismus möglicher Kulturgestaltungen" unter Verzicht auf den "Wahrheitsbegriff. Er wird durch den der Kultur ersetzt" (131). Damit hat R. freilich - ob gewollt oder nicht - exakt auf das Problem der impliziten Normativität in Cassirers Kulturphilosophie hingewiesen: Die Kultur wird zur Wahrheit und damit zur letzten Sinn-Instanz. Die entsprechenden Probleme werden in der Cassirer-Literatur bereits seit Längerem diskutiert, ohne dass R. darauf eingehen würde.

Solch eine Konzeption bedarf allerdings einer starken Grundierung, die R. 3. in Cassirers "Urvertrauen in die evolutive Kraft von Humanität" (139) und in deren historischer Realisierbarkeit (141) sieht. Jegliches theologische Geschichtsverständnis werde damit verabschiedet: "Geschichte hat kein Ziel" (163), sondern ist die "Öffnung für eine undeterminierte Zukunft" (168) - eine gedankliche Linie, die schließlich mit Blumenberg zurück zu ihrem Anfang gelange: Die Geschichte mache sich selbst (172) und trete damit an die Stelle der Weisheit. Rückgebunden an die Renaissance heiße das: Gott entlässt den Menschen in die Geschichte, aber nicht zur Strafe, sondern weil er ihn ernst nimmt (181).

4. werden schließlich im Blick auf die Politik die Konsequenzen aus dieser hohen Eigenverantwortung des Individuums gezogen. Erneut folgt R. Cassirers Mythenkritik, nun fokussiert auf das Spätwerk "The Myth of the State" (1946), das "die implizit gebliebene politische Botschaft der kulturphilosophischen Hauptwerke der 20er Jahre explizit" (204) gemacht habe. "Bemerkenswert" sei, "daß C. nichts zu ändern hatte, weil die Gegenprobe sein Resultat [der Kultur als steigerungsfähige Komplexität von Manifestationen menschlicher Freiheitsgestaltung, 204] bestätigte" (ebd.) - eine Aussage, die angesichts der zuvor behaupteten "Revision" verwirrt und erst wieder durch R.s Hinweis auf Macchiavellis ernüchternden Einfluss auf Cassirer bezüglich der "pathetische[n] Liebe zur kreativen Freiheit des Individuums" (210 f.) ein wenig geklärt wird.

Abschließend wird Cassirers Kulturverständnis in einer größeren, ebenso anregenden wie vermutlich provokativen Perspektive in den Blick genommen in einer griffigen Gegenüberstellung von Cassirer, Simmel und Rickert, die Cassirers Stärke und Schwäche in dessen Bemühen um einen möglichst neutralen Kulturbegriff sieht und die schließlich ausgedehnt wird bis zu einem Dialog mit Höffe und MacIntyre über die Frage nach der "Universalisierbarkeit einer genuin europäischen Kulturerrungenschaft, nämlich der Menschenrechte" (265). R.s Antwort lautet, dass selbst die von Höffe favorisierte "Formulierung ... transzendentaler Erhaltungsbedingungen von Vielfalt ... leicht erschöpfbar" sei, "wenn sie nicht geschichtlich bereichert werden" (267). Dies erfordere die "Bildung neuer Konstellationen, deren Verknüpfbarkeit noch nicht getestet wurde, wie diejenige zwischen Platons politischer Auflösung des Konfliktes zwischen Nomos u. Physis u. C.s impliziter Verteidigung der Kultur als Selbstzweck" (268). Mit den letzten Sätzen klärt sich auch auf, weshalb R. vor diese abschließende Reflexion vier kürzere Texte über Cassirers Kunstverständnis und dessen Weiterführung bzw. Veränderung in Blumenbergs Metaphorologie sowie Cassirers Verhältnis zu Platon und Goethe einschiebt. Deren Pointe scheint darin zu liegen, die Fragilität und Ambiguität des Menschen als eines kulturschaffenden Wesens und die Selbstgefährdung der Kultur zu thematisieren.

Obgleich sich also ein roter Faden durch das Buch zieht, überzeugt die Komposition mehr durch die philosophie- und rezeptionsgeschichtliche Positionierung sowie durch die Erhellung des Verhältnisses von Renaissance-Humanismus und politischer Philosophie Cassirers als durch die argumentative Stringenz. Eine stärkere Straffung und Konzentration der Texte hätte Redundanzen vermeiden und Thesen pointieren und so aus dem reichen Bild ein klares Muster entstehen lassen können.