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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

536 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hake, Ann-Kathrin

Titel/Untertitel:

Vernunftreligion und historische Glaubenslehre. Immanuel Kant und Hermann Cohen.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 199 S. gr.8 = Studien und Materialien zum Neukantianismus, Bd. 21. Kart. Euro 28,00. ISBN 3-8260-2450-8.

Rezensent:

Cornelia Richter

Die Dissertation von Hake hat das Ziel, die religionsphilosophischen Spätwerke von Kant ("Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 1793) und Cohen ("Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums", 1919) einem kritisch-systematischen Vergleich zu unterziehen. Es geht um ein religionsphilosophisches Modell, das "die Pole des Historischen und des Vernünftigen umfasst", und zwar unter der "Leitfrage, ob in den beiden Entwürfen ein religionskritisches und universalistisches Erbe der Aufklärung ... durch eine Bezugnahme auf die jeweilige historische Glaubenslehre des Christentums bzw. des Judentums wieder aufgehoben wird oder ob sich dieser Anspruch dadurch erst erfüllen soll" (13). Dem Programm entsprechend werden, in der schlanken Gestalt von 199 Seiten (inklusive Literatur, aber leider ohne Register), im ersten und zweiten Teil die genannten Schriften von Kant (23-85) und Cohen (87-163) exegesiert, und zwar in einer knappen, sprachlich und begrifflich präzisen Form, die freilich zuweilen etwas zu text-immanent bleibt. Im dritten Teil werden schließlich die beiden Positionen so aufeinander bezogen, dass zunächst die religions- und kulturphilosophischen Basisunterscheidungen dargestellt (167-181) und dann deren Konsequenzen für die jeweiligen Bezugsreligionen erörtert (182-190) werden.

Als Resultat hält H. fest, dass Kants Bezug auf das Christentum eine problematische Verengung darstelle wegen der "Auffassung, die Vernunft fordere eine einheitliche Universalgeschichte der Religion, die an einem Punkt in der Geschichte mit der Verkündigung Jesu beginne und mit dem - freilich immer nur zu antizipierenden - Erreichen des Telos der Vernunftreligion zu ihrer Vollendung komme" (85). Für Cohen gelte, dass er sich zu sehr von der persönlichen Bezogenheit Kants auf das Christentum habe beeinflussen lassen und darüber die systematische Brisanz von Kants Religionsschrift, eben jene universalgeschichtliche Exklusivität des Christentums, unterschätzt habe. Cohens eigene Position basiere auf den drei Grundgedanken: "theologischer Rationalismus, der Primat der Ethik und eine messianische Sicht der Zukunft der Menschheit" (95). Gleichsam en passant gelingt es H., auch die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität im Cohenschen Werk zu behandeln (vgl. bes. 98-102). Sie plädiert für eine Kontinuität im Sinne eines Projektes, "in dem Judentum und Philosophie unter der Leitlinie der Einheit der Kultur in Beziehung zueinander gesetzt werden" (102), was allerdings zur Folge habe, dass gerade die Faktizität der singulären Gestalt relativiert werde: "Das in der Geschichte leidende Individuum verliert um der Denkmöglichkeit eines Sinns der Geschichte willen, den die Idee der Sittlichkeit gewährleisten soll, eben diejenige Bedeutung, die ihm die Perspektive der Religion eigentlich zusichern sollte." (163)

Kant und Cohen vertreten, so H., sowohl ein religionskritisches als auch ein "religionsfreundliches Modell" (170), das über eine normative Kulturtheorie orientiert werde, die "hinter der Vielfalt der Phänomene einen einheitlichen Kulturprozess vermutet, dessen Movens eine allgemeine Vernunft ist, die sich im Medium der Geschichte der Kulturphänomene zur Geltung zu bringen versucht und deren Ziel eine Kultivierung und Moralisierung dieser geschichtlichen Verhältnisse ist" (174). Während bei Kant diese Vernunft jedoch "noch ahistorisch konzipiert" (177) sei, habe Cohen sie historisiert - freilich nicht als "Eingeständnis ihrer Kontingenz", sondern als "These ihrer geschichtlichen Erzeugung und Entwicklung hin auf eine ... Vollendung der Vernunftreligion und der Vernunft" (177). Die Stärke beider Positionen liege in der Prägekraft der Vernunft für die jeweilige individuell-moralische und allgemein-institutionelle kulturelle Gestaltung (178).

Obgleich H. den Schwerpunkt explizit auf eine "Rekonstruktion zu einem jeweils geschlossenen Sinngefüge, das überhaupt erst sinnvoll verglichen werden kann" (17), gelegt und damit in der Tat ein Desiderat der Forschung befriedigt (vgl. 13-16) hat, ist das Fehlen eines eigenständigen systematischen Ausblicks bedauerlich. Die Idee dazu wäre durchaus vorhanden gewesen, denn: "Kants, vor allem aber Cohens Entwurf eröffnet durch seinen religionsphilosophischen Einsatz bei der Ethik und seinen Rückgriff auf konkrete historische Glaubenslehren zugleich eine Perspektive auf religionspolitische Fragestellungen" (21) - und die gehören aktuell wohl zu den dringendsten Forschungsdebatten.