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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

533–535

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Selderhuis, Herman J.

Titel/Untertitel:

Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 278 S. gr.8. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-374-02176-X.

Rezensent:

Peter Opitz

Es ist bekannt, dass Calvin, auch gemessen an zeitgenössischen Maßstäben, mit autobiographischen Mitteilungen sehr zurückhaltend war. In dieser Tatsache verbinden sich zweifellos Persönlichkeitsmerkmale mit theologischen Überzeugungen. Als wichtiges Selbstzeugnis zur Erhellung der Frage nach Calvins "spiritueller Biographie" gilt seit jeher seine Vorrede zum Psalmenkommentar.

Neben Calvins oft diskutiertem Hinweis auf die "subita conversio" findet sich dort auch die berühmte Aussage, dass man in den Psalmen "den Gläubigen ins Herz" blicke und einer "Anatomie aller Empfindungen der Seele" gewahr werde. Das vorliegende Buch nimmt diesen Hinweis in einer bislang noch nicht dagewesenen Weise und Konsequenz ernst: Es ist Calvins eigenes Herz, das sich im Psalmenkommentar in einmaliger Weise ausspricht, so dass Calvins "Theologie der Psalmen" einerseits von Calvins Anliegen zeugt, stets "Gott in der Mitte" stehen zu lassen, und zugleich einen tiefen Einblick in die "Spiritualität" des Genfer Reformators gibt (19-36.274-276). Während sich die Calvinforschung traditionell tendenziell in einen theologisch-systematischen und in einen historisch-biographischen Zweig teilt, liegt hier der bemerkenswerte Versuch vor, bis zu einem gewissen Grad beiden Fragestellungen gleichzeitig gerecht zu werden.

Die hermeneutische Klammer, in der Calvins Psalmenkommentar untersucht wird, ist die von Calvin selbst als solche angegebene Dialektik von Gotteserkenntnis und menschlicher Selbsterkenntnis (13). In der Folge beschreibt der Vf. Calvins Theologie der Psalmen insgesamt als locus de Deo, um von dort aus die verschiedenen Themen als Aspekte der Beziehung Gottes zum Menschen und des Menschen - auch des konkreten Menschen Johannes Calvin - zu Gott zu thematisieren. So geht der Hauptteil der Arbeit den "Prädikaten" bzw. Verhaltensweisen Gottes entlang, wie sie im Psalmenkommentar die Beziehung zum Menschen bestimmen, und dann auch umgekehrt das menschliche Verhältnis zu Gott: Gott der Dreieinige, der Schöpfer, der Sorgende, der Redende, der König, der Richter, der Verborgene, der Heilige, der Gott des Bundes, der Vater.

Was zu Beginn der Institutio erläutert wird, dann aber hinter die lehrhafte Darstellung der christlichen Glaubensinhalte zurücktritt, wird im Psalmenkommentar mit konkretem Leben gefüllt: Mit dem Ringen des Menschen Calvin mit theologischen und zugleich sehr existenziellen Themen wie Gottes Verborgenheit und Vorsehung, Gottes Herrschaft und Gericht, christliche militia zwischen Vertrauen auf Gottes väterliche Güte und Kampf mit Satan, Gemeinschaft mit Christus und gerade so als tolerantia crucis.

Dem Vf. gelingt es, dies alles auf eindrückliche Weise zu dokumentieren und somit den Korrelationen zwischen Calvins ständigem Bestreben, Gott "in die Mitte zu stellen", und seinem eigenen existenziellen Fragen und Ringen nachzuspüren. Wichtige calvinische Begriffe und in letzter Zeit kontrovers diskutierte Motive erhalten so ihren Ort im Schnittpunkt von Calvins Theologie und Biographie. Deutlich vor Augen geführt wird etwa die zentrale Stellung des providentia-Gedankens, nicht ganz überraschend "das wichtigste Thema in Calvins Psalmenkommentar" überhaupt (116). Die damit verbundenen Fragen und Calvins spannungsgeladene Antworten zwischen kausaler Erklärung und seelsorgerlicher Absicht - seine gesamte Theologie trägt seelsorgerlichen Charakter (95) - werden durch ihre Verankerung in Calvins eigener Erfahrung und "Spiritualität" zweifellos verständlicher, ja nachempfindbar. Immer wieder weist der Vf. zudem auf die theologische Verwandtschaft Calvins mit Luther hin, einerseits im Blick auf ihr gemeinsames Bestreben, dem ersten Gebot Rechnung zu tragen, und dann besonders in der ihnen gemeinsamen "theologia crucis" (z. B. 38.51. 100.103.180.208.233.274 usw.). Aber auch einige mit Recht zu nennende unterschiedliche Akzente werden, überaus behutsam, kenntlich gemacht (z. B. 54.247 f.254 f.257 f.273 f.).

Eine thematisch nahezu alle Aspekte von Calvins Theologie abdeckende Arbeit, die sich erklärtermaßen zum Ziel setzt, "Calvin soviel wie möglich selbst zu Wort kommen zu lassen" (202), sich auf dessen Psalmenkommentar beschränkt und gleichzeitig bewusst darauf verzichtet, auf zeitgenössische Werke und auf die jeweiligen Fachdiskussionen Bezug zu nehmen (15), besitzt naturgemäß auch ihre Grenzen.

Nicht ohne Klärungsbedarf bleiben werden diejenigen Stellen, an denen der Vf. Folgerungen affirmativer oder kritischer Art über Calvins Theologie insgesamt zu ziehen scheint, wie dies gelegentlich in den jeweiligen Kapitelzusammenfassungen und etwa im Epilog (271-278), der den Blick bis in die Spiritualität des Calvinismus ausweitet, geschieht. Hier wird die Diskussion um die Reichweite von allein auf Grund des Psalmenkommentars gewonnenen Einsichten in Calvins Theologie geführt werden müssen, eine Diskussion, die der Vf. selbst eröffnet, wenn er formuliert: "Alles, was Calvin auf dem Wege von Studium und Diskussion an theologischer Erkenntnis gewonnen hatte, hat er in diesem Kommentar verarbeiten können. Weil in den Psalmen nicht alle theologischen loci gleich ausführlich zur Sprache kommen, wird man in diesem Werk nicht genügend finden, um die Gesamtheit der Theologie Calvins, aber mehr als genügend, um das Wesentliche seiner Theologie wiederzugeben." (36)

So legt sich beispielsweise das abschließende Urteil, dass Calvins Theologie "nicht christozentrisch ... sondern absolut theozentrisch ist" (273), angesichts von Calvins überaus zurückhaltender christologischer Exegese der Psalmen nahe. Müsste es sich aber nicht auch noch vor Calvins neutestamentlichen Exegetica bewähren und schließlich doch auch wieder vor der Institutio, die vom Vf. überspitzt lediglich als ein "theologisches Wörterbuch zu seinen (scil. Calvins) Kommentaren" (271) bezeichnet wird, die aber sicherlich auch etwas über den Status und Zusammenhang der durch bestimmte Begriffe repräsentierten loci sagen will, nicht zuletzt mit dem Ziel, den unterschiedlichen biblischen Büchern ihren bestimmten Ort im Zusammenhang des Ganzen zuzuweisen? Möglicherweise müsste im Licht der Institutio die Alternative zwischen "christozentrisch" und "theozentrisch" überhaupt überdacht und so etwa diskutiert werden, ob eine Orientierung am ersten Gebot und am ersten Artikel für Calvin dasselbe ist (vgl. 43).

Solche und ähnliche Anfragen betreffen allerdings nicht den Kern der vom Vf. selbst gesteckten und eindrücklich gelösten Aufgabe. Sie sind an den Grenzen der Arbeit anzusiedeln und im Grunde bereits Frucht des Impulses, den dieser wichtige Beitrag sowohl zu Calvins Theologie der Psalmen wie zum Verhältnis von Theologie und Biographie beim Genfer Reformator der weiteren Forschung zu geben vermag. Dass dies Letztere der Fall ist, ja dass die Arbeit mit ihrer Fragestellung eine gewisse Pionierleistung darstellt, steht außer Zweifel.

Das Buch wurde von Jörg Kailus aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt, wie dem Vorwort zu entnehmen ist - allerdings wirklich nur diesem, was man längst nicht von allen in letzter Zeit erschienenen Übersetzungen sagen kann.