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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

531–533

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Richardsen-Friedrich, Ingvild

Titel/Untertitel:

Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form, Funktion.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2003. 500 S. m. Abb. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, 1855. Kart. Euro 65,40. ISBN 3-631-39653-8.

Rezensent:

Volker Leppin

Bei der Münchner germanistischen Dissertation von I. Richardsen-Friedrich handelt es sich um eine sehr gründliche, textnahe Untersuchung der Verwendung des Antichrist-Vorwurfs in der Reformation und in den konfessionellen Streitigkeiten der Folgezeit.

In der Einleitung gibt R.-F. einen Überblick über die Forschungen zum Antichristthema bis zur Fertigstellung der Arbeit. R.-F. verortet sich selbst methodisch in der Polemikforschung, die sie betont historisch ausrichtet, indem sie ihre eigenen Analyseinstrumente den Rhetoriken und Dialektiken des 16. Jh.s entnimmt.

Ein zweiter Abschnitt stellt knapp die historischen Hintergründe der Verwendung des Antichristbegriffs seit biblischer Zeit dar, wobei R.-F. weitgehend auf der Forschungsliteratur aufbaut. Die von ihr angenommene "Verbindungslinie" zwischen Lollarden und Luther (76 f.) leuchtet geistesgeschichtlich ein, ist aber philologisch nur schwer dingfest zu machen.

Das dritte Kapitel wendet sich Luthers Antichrist-Polemik zu. R.-F. stellt die bekannte Entstehung der Antichristpredikation im Werk Luthers dar. Dann konzentriert sie sich auf die Darlegung von Luthers Argumentation im Einzelnen, wobei eine besondere Stärke ihrer Arbeit darin liegt, dass sie auf solche Quellen besonders achtet, in denen ein Text-Bild-Bezug erhebbar ist (Passional Christi und Antichristi, Illustrationen zur Johannes-Offenbarung, "Papstesel"). Es wird überzeugend dargelegt, dass Luther im Wesentlichen auf zwei Wegen argumentiert: durch exegetische Beweisführung und antithetische Gegenüberstellung; Letztere kann R.-F. vor dem Hintergrund der rhetorischen Analysen des 16. Jh.s einordnen und deuten. Ebenso überzeugend ist die Darlegung der Funktion von Luthers Antichrist-Polemik zunächst als Warnung der Papstkirche vor Missständen, dann Distanzierung von ihr und schließlich tröstlicher Botschaft vom Untergang des Antichrist.

Das folgende Kapitel ist der sonstigen Antichrist-Polemik im Reformationszeitalter außer und neben Luther gewidmet. In den ersten beiden Abschnitten geht R.-F. der Popularisierung und Verfestigung im reformatorischen Lager nach. Als inhaltliche Weiterentwicklung kann hierbei die Deutung Luthers als Offenbarer des Antichrist gesehen werden. Nachhaltiger von Bedeutung aber wird die Aufnahme des Antichrist-Titels nicht nur in Luthers Schmalkaldischen Artikeln, sondern auch im "Tractatus de potestate et primatu papae" Melanchthons. Zu Recht stellt R.-F. fest, dass die Identifikation des Papstes als Antichrist damit im lutherischen Lager gewissermaßen die Bedeutung eines Glaubensartikels erlangt hat. Wie breit die mentale Basis hierfür war, zeigen die verschiedenen Medien Flugblatt, Flugschrift, Drama und Predigten, in denen R.-F. dem Gebrauch des Antichrist-Titels exemplarisch nachgeht. Für die folgende Analyse der katholischen Reaktion auf Luthers Polemik ist die Beobachtung leitend, dass auf katholischer Seite in der Reformationszeit keine ausführliche Auseinandersetzung mit Luthers Antichrist-Polemik stattgefunden hat. Dass man hier, wie R.-F. meint, wirklich eine Zurückhaltung, mit Häretikern über selbstverständlich als wahr Erkanntes zu disputieren, veranschlagen muss, ist wohl weniger plausibel als die von R.-F. in der Analyse von gegen die Schmalkaldischen Artikel gerichteten Schriften herausgearbeitete Tatsache, dass wohl für die meisten altgläubigen Gegner Luthers die theologische Tiefe des Antichrist-Artikels nicht erkennbar war.

Wie bei den Katholiken zeigt sich auch bei den im Folgenden behandelten Täufern und Spiritualisten die Rückwendung der Antichrist-Polemik gegen die Wittenberger Reformation selbst. Höhepunkt eines solchen Transfers ist die im fünften Abschnitt nachgezeichnete Auseinandersetzung um das Interim. So sehr die Antichrist-Polemik hier eine besondere, auch existenzielle Brisanz erhalten hat, so sehr ist doch auch die Schritt für Schritt erfolgende Übertragung dieses Titels vom Papst auf die Adiaphoristen und schließlich auf Osiander Ausdruck der Vervielfältigung und zugleich Verflachung.

Das fünfte, sehr ausführliche Kapitel behandelt die Anfänge des Konfessionellen Zeitalters. Für das Luthertum konstatiert R.-F. dabei eine weitere Verfestigung des Bekenntnischarakters der Antichrist-Prädikation sowie eine Ausweitung des Begründungsrepertoires aus Exegese und Antithese um den Autoritätenbeweis. Im Blick auf die Funktion der Antichrist-Polemik hebt sie die kontroverstheologische Auseinandersetzung und die defensive Abgrenzung gegen die Gegenreformation stärker hervor als die wichtige Funktion der lutherischen Binnenstabilisierung, die gleichwohl inhaltlich - etwa in der langen Vorstellung des "Examen und Inquisition der Papisten und Jesuiten" von Maximilian Philo (279-289) - durchaus vorkommt. Bemerkenswert ist der Schwung, den die Auseinandersetzung mit der Antichrist-Polemik im Katholizismus dieser Zeit bekam, wobei die Jesuiten sich hier erst auffällig spät engagierten; zur Begründung verweist R.-F. einleuchtend auf deren Befolgung des Verbotes, häretische Bücher zu lesen, sowie auf die aufwendigen Zensurprozeduren im Orden. In jedem Falle ist der Anstieg der katholischen Publizistik zum Thema ein Ausdruck dafür, dass man nun die Bedeutung der Antichrist-Polemik in ihrer ganzen Schärfe erkannt hatte. Die Anknüpfung an schon zuvor gegen Luther gerichtete Antichrist-Polemiken deutet R.-F. im Rahmen ihrer rhetorischen Analyse als Taktik, "den Verbrechensvorwurf auf den Gegner zu wenden" (331), und macht dies vor allem an Staphylus und Nas deutlich. Die gerade von Letzterem offensiv und unter Einsatz aller publizistischen Möglichkeiten geführte Kontroverse hatte zunehmend auch eine Flankierung im akademischen Kontext zur Folge. R.-F. zeigt dies vor allem anhand von Disputationen auf. Eine weitere reizvolle Quelle wären wahrscheinlich noch die exegetischen Kommentare, zumal zur Apk gewesen, allerdings hätte die Behandlung dieser doch sehr umfangreichen Texte wohl den Rahmen der Arbeit sprengen müssen. Während die Anwendung der Antichrist-Polemik gegen Calvin, wie sie sich bei Lutheranern wie Katholiken findet, eher ein Nebenkrater des Themas ist, ist für die wachsende Bedeutung die Analyse des Regensburger Kolloquiums von 1601 von hoher Bedeutung. Hier kam es über die Auseinandersetzung um den Antichrist zu einem Eklat und schließlich zum Abbruch des Religionsgespräches durch den Bayernherzog Maximilian. Die jesuitische Polemik in der Folgezeit merkte rasch, dass die Antichrist-Frage hierdurch möglicherweise eine neue Qualität gewonnen hatte. Das Antichrist-Bekenntnis der lutherischen Seite ließ sich nun auch als Beleidigung der katholischen politischen Obrigkeiten einschließlich des Kaisers und als Vergehen gegen den Augsburger Religionsfrieden auslegen und war damit von einer rein theologischen zu einer religionspolitischen Frage geworden, wie R.-F. anhand des "Zungenschlitzers" aus dem Jahre 1629 abschließend verdeutlicht. Damit ist offenkundig auf katholischer Seite endgültig die Bedeutung der Antichrist-Thematik realisiert. Das zeitgenössische Pendant in der Entwicklung wäre wohl die starke Bedeutung der Antichrist-Thematik beim Reformationsjubiläum 1617, auf die R.-F. trotz mehrfachen Verweises auf die einschlägige Monographie von Schönstädt leider nicht mehr im Einzelnen eingeht.

R.-F. hat mit ihrer eindringlichen Analyse einen wesentlichen, grundsätzlich interdisziplinär angelegten Beitrag zum Thema geboten, der insbesondere durch die komparatistische Perspektive beeindruckt und in sensibler Weise Entwicklungslinien nachzeichnet. Es ist ihr gelungen, disparates Material zu einem geschlossenen Zusammenhang zusammenzuführen und die Forschung damit wesentlich zu bereichern und weiterzuführen.