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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

529–531

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Packull, Werner O.

Titel/Untertitel:

Die Hutterer in Tirol. Frühes Täufertum in der Schweiz, Tirol und Mähren. Aus d. Engl. übers. von A. von Schlachta.

Verlag:

Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2000. 391 S. m. 5 Ktn. gr.8 = Schlern-Schriften, 312. Geb. Euro 43,00. ISBN 3-7030-0351-0.

Rezensent:

Hans-Jürgen Goertz

Der kanadische Historiker Werner O. Packull gehört zu jenen Forschern, die in den 70er Jahren des vergangenen Jh.s eine Revision der Täuferforschung einleiteten und dafür sorgten, das konfessionalistisch entworfene Bild eines einheitlichen, sich aus der Reformation Zürichs entwickelnden Täufertums durch eine Vielfalt täuferischer Bewegungen zu ersetzen. Die Wiege des Täufertums stand nicht nur in der Schweiz, wie bisher angenommen wurde, sondern auch in Ober- bzw. Mitteldeutschland und in Niederdeutschland bzw. in den Niederlanden. Die These "from monogenesis to polygenesis" hat sich inzwischen durchgesetzt und dazu geführt, ein auch inhaltlich differenziertes, ja, heterogenes Bild vom Täufertum entstehen zu lassen. Dieses Täufertum hob sich nicht als ein konfessionell-kirchliches Gebilde von den entstehenden Reformationskirchen ab, sondern wies zunächst noch alle Merkmale eines Prozesses auf, in dem Reformation überhaupt erst entstand. So gesehen gehören die täuferischen Bewegungen zum Urgestein der Reformation.

Unter diesem Gesichtspunkt hat P. sich nach seiner Dissertation über das oberdeutsche Täufertum ("Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement, 1525-1531", 1977) dem hutterischen Täufertum zugewandt, das in Mähren die Gestalt einer Gütergemeinschaft nach urchristlichem Vorbild (Apg 2 und 4) anstrebte. Überraschend an seiner gründlich recherchierten, bahnbrechenden Untersuchung der "Hutterite Beginnings. Communitarian Experiments during the Reformation" (1995) ist nun die Revision der Revision - teilweise jedenfalls. Offensichtlich waren die Eigenwilligkeiten der einzelnen Täuferbewegungen doch nicht so ausgeprägt, dass bei allem Trennenden nicht auch wieder nach den Gemeinsamkeiten gefragt werden könnte. P. hat das hutterische Täufertum mit seinem kommunitären Grundzug nicht nur aus der Randständigkeit herausgeführt, in die es von den älteren Forschungen gedrängt wurde, sondern auch gezeigt, dass dieser Grundzug in der einen oder anderen Form eigentlich allen täuferischen Bewegungen zu Grunde gelegen habe - in der Schweiz genauso wie in Oberdeutschland.

Was P. nur andeutete, hatte sein Doktorvater James M. Stayer schon vorher in "The German Peasants' War and Anabaptist Community of Goods" (1991) für die ganze Weite des täuferischen Spektrums detailliert ausgeführt.

Inzwischen liegt P.s Buch in deutscher Übersetzung vor. Allerdings ist der Titel ein wenig irreführend. Es handelt sich nicht um Hutterer in Tirol, denn zu Hutterern wurden Täufer aus Tirol und anderswo erst in Mähren. Wohl liegen die Impulse zur Entstehung der hutterischen Bruderhöfe bei Jakob Huter, der aus Tirol in die Gegend von Austerlitz eingewandert war und dort Gemeinden vorfand, die bereits Gütergemeinschaft in unterschiedlichen Formen praktizierten, aber noch unter erheblichen Schwierigkeiten litten, dem neutestamentlichen Gemeinschaftsideal nahe zu kommen. 1533 wurde er Leiter der Gemeinde in Auspitz, die sich eine strenge Ordnung gab und eine erfolgreiche Variante kommunitärer Praxis entwickelte. Erst unter Huter wurde die Gütergemeinschaft "zur Quintessenz der wahren Nachfolge in der wahren Gemeinde Gottes" (341). Diese Täufer teilten nicht nur Hab und Gut miteinander, sondern gingen auch dazu über, gemeinsam zu produzieren. So war eine Konsumptions- und Produktionsgütergemeinschaft entstanden, die sich als bäuerlich-gewerbliche Alternative zu Landwirtschaft und Handwerk anbot, vom mährischen Adel gefördert und gegen die Verfolgungen durch den habsburgischen Hof protegiert wurde. Noch einmal: In den hutterischen Bruderhöfen mit ihrer vita communis vereinigten sich Impulse aus dem ober- bzw. mitteldeutschen mit solchen aus dem Schweizer Täufertum zu einer kommunitären Synthese. Leider wird auch der kommunitäre Aspekt dieses Täufertums nicht im Untertitel der deutschen Fassung (anders in der englischen) zum Ausdruck gebracht.

So geht P. im ersten Teil der Untersuchung auch nicht den Anfängen des Schweizer und oberdeutschen Täufertums allgemein nach, sondern erforscht diese täuferischen Bewegungen ganz gezielt unter dem Gesichtspunkt des "Gemeinschaftslebens" (Communitarian experiments), also die Vorgeschichte der mährischen Bruderhöfe. Einmal sind es die "Gemeindeordnungen" der Schweizer Täufer, die im Zentrum des Interesses stehen, und zum anderen die Verbindungen des ersten kommunitären Experiments in Austerlitz zu Hans Hut, der prägenden Führergestalt des oberdeutschen Täufertums. Untersucht werden auch die Flüchtlingsgruppen aus Schwaben, der Pfalz und dem Rheinland (Philipper) und aus Schlesien (Gabrieler), ebenso die Beziehungen Pilgram Marpecks zu Täufern in Mähren im Zusammenhang seiner Spiritualismuskritik. Hier ist alles umsichtig dargestellt worden. P. überprüft bisherige Beobachtungen und Urteile, schließt Forschungslücken und öffnet ein weites Feld für neue Forschungen.

Das gilt auch für den zweiten Teil, in dem er den Prozess untersucht, der zur Entstehung der hutterischen Gemeinden führte: die Anfänge des Täufertums in Tirol, bevor eine andere Reformationsbewegung dort Fuß fassen konnte, seine Verwicklungen in die bäuerlichen Unruhen, die Initiativen und den Führungsanspruch Jakob Huters, die Spaltungen in der Austerlitzer Gemeinde, den erfolgreichen Kampf Huters um die Führung der neuen Gütergemeinschaft in Auspitz (1533), die Trennung von den Philippern und Gabrielern und schließlich die leidvolle Nachgeschichte dieses Aufbruchs, die Verfolgungen, den Ketzertod Huters (1536), auch anderer Weggefährten, und schließlich die allmähliche Auflösung der Philipper und Gabrieler in Mähren. Hier bricht P. die Untersuchung ohne zusammenfassende Würdigung seiner Ergebnisse ab (ungefähr mit dem Jahr 1540). Er kündigt aber einen zweiten Band an, in dem die weitere Entwicklung der Bruderhöfe, vor allem unter der geistlichen Führung Peter Riedemanns, im Mittelpunkt stehen wird. Doch jetzt schon ist P. der beste, international anerkannte Historiker des hutterischen Täufertums.

Erstaunlich ist die Diskrepanz zwischen den radikalen, antiklerikal, ikonoklastisch und kommunalistisch-revolutionär geprägten Anfängen des Täufertums in Tirol und den sich beruhigenden Täufern, die sich auf ihren Bruderhöfen von der "Welt" absonderten und einen für ihre Zeit beachtenswerten Pazifismus ausbildeten. Hier hätte man sich gewünscht, P. wäre dieser Metamorphose noch präziser nachgegangen und hätte dem inneren Zusammenhang bzw. der untergründigen Solidarität der Bruderhöfe mit dem bäuerlichen Kommunalismus der Tiroler Zeit intensiv nachgespürt. Vielleicht wäre auf diese Weise das Besondere an der schweizerisch-oberdeutschen Synthese nicht nur beschrieben, so verdienstvoll und weiterführend das ist, sondern auch erklärt worden. Das hutterische Täufertum ist nicht eine schweizerische, um oberdeutsche Akzente angereicherte und auch nicht eine oberdeutsche, schweizerische Impulse aufnehmende Täufervariante. Es ist nach wie vor ein Täufertum eigener Art, von innerer religiöser Geschlossenheit und sozialer Festigkeit - über die Jahrhunderte hinweg.