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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

520–522

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Embach, Michael

Titel/Untertitel:

Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2003. 595 S. gr.8 = Erudiri Sapientia, 6. Geb. Euro 69,80. ISBN 3-05-003666-4.

Rezensent:

Martina Wehrli-Johns

Keiner Frauengestalt des europäischen Mittelalters wurde in letzter Zeit soviel Interesse entgegengebracht wie der Äbtissin vom Rupertsberg. Nicht selten erschöpft sich die neue Hildegard-Begeisterung jedoch in weltanschaulich unterschiedlich geprägten Aktualisierungsversuchen, die historisch zu wenig fundiert sind und bestenfalls eine selektive Kenntnis ihrer Schriften vermitteln.

Um diesem Defizit korrigierend zu begegnen, bemüht sich seit einigen Jahren ein internationaler Kreis von Fachleuten verschiedenster Disziplinen, Werk und Wirkung Hildegards von Bingen durch wissenschaftlich abgesicherte Forschungen zu erhellen. Zu diesen Hildegard-Spezialisten zählt auch der Verfasser der vorliegenden Trierer Habilitationsschrift. E. ist Direktor der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier, die bekanntlich selbst eine der ältesten, aus dem Vorbesitz der Abtei Trier-St. Eustachius stammende Hildegard-Handschrift aufbewahrt und seit mehreren Jahren ein Dokumentations- und Forschungszentrum zu Hildegard betreibt. Es darf deshalb als Glücksfall bezeichnet werden, wenn der wohl beste Kenner der Handschriften und Literatur nach mehreren Einzelstudien zum Thema jetzt eine Gesamtschau der mittelalterlichen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte präsentiert.

E.s Studien bieten denn auch weit mehr, als der bescheidene Untertitel erwarten lässt. Dank einer übersichtlichen Disposition und einer umfassenden Verarbeitung der Primär- und Sekundärliteratur ist daraus ein eigentliches Handbuch zur Hildegard-Forschung geworden. E. versteht seine Darstellung als Ergänzung zur textkritischen Schwerpunktsetzung der Neuausgabe von Hildegards Schriften in der Reihe Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis. Bei allem Respekt vor der editorischen Leistung der Herausgeber plädiert E. im Sinne der Editionsprinzipien der von Kurt Ruh begründeten Würzburger Schule für eine stärkere Berücksichtigung des überlieferungsgeschichtlichen Kontextes. Sein Erkenntnisinteresse gilt den Fragen, 1. inwieweit es möglich ist, aus der genauen Rekonstruktion der frühen Textüberlieferung neue Einblicke in das "korporative und intentionale Wirkungsfeld" zu gewinnen, das bis 1230 an der Entstehung und Verbreitung von Hildegards Schriften beteiligt war, und 2., ob die in diesem Kreis vorgenommenen Entscheidungen die spätere Wirkungsgeschichte sozusagen vorgeprägt haben. Daraus ergibt sich für ihn methodisch ein zweistufiges Vorgehen. In einem ersten (immerhin fast 400 Seiten umfassenden) Hauptteil werden die ältesten Textzeugen der einzelnen Werke untersucht und anschließend auf ihre Wirkung für die spätere handschriftliche Überlieferung bis hin zu den ersten Druckausgaben befragt. In einem zweiten Hauptteil erweitert sich dann das Blickfeld zu einer eigentlichen Rezeptionsgeschichte Hildegards bis in die frühe Neuzeit.

Dem Überblick über die Werke Hildegards stellt E. eine kodikologische und paläographische Untersuchung des so genannten Riesencodex (Hessische Landesbibliothek Wiesbaden Hs 2) voran, also jener repräsentativen Sammlung ihrer Schriften aus dem 12. Jh., die nach allgemeiner Auffassung zumindest in ihren Hauptteilen noch zu Lebzeiten Hildegards auf dem Rupertsberg entstanden ist und später über das Tochterkloster Eibingen nach Wiesbaden gelangte. E. bestätigt diesen Befund und unterstreicht den einheitlichen Gestaltungswillen dieser Redaktion, die mit der Visionstrilogie (Scivias, Liber vitae meritorum, Liber divinorum operum), dem Epistolarium, den beiden Sprachschriften (Lingua ignota, Litterae ignotae) und dem musikalischen Werk (Symphonia, Ordo virtutum) sozusagen die Quintessenz ihres Schaffens enthalten habe. Er zieht es aber vor, an Stelle von einer Urheberschaft Hildegards von einer Werkstatteinheit des Rupertsberger Skriptoriums zu sprechen. Der Riesencodex wurde auf dem Rupertsberg wie eine Reliquie gehütet, aber nie als Ganzes kopiert. Er bildete aber die Basis für die gesamte Überlieferung und Verbreitung der Schriften Hildegards.

E. erbringt sodann den Nachweis, dass auch die übrigen Textzeugen der im Riesencodex aufgenommenen Werke direkt oder indirekt mit dem Rupertsberger Skriptorium in Verbindung stehen, wobei das Gros der Handschriften noch aus dem ausgehenden 12. Jh. stammt. Das würde bedeuten, dass Hildegard und ihr Skriptorium die bestimmende Zentrale für die Verbreitung und Popularisierung ihrer Schriften waren. Was die illuminierten Codices anbelangt, so schließt sich E. der Meinung an, dass sie erst nach Hildegards Tod (1179) zu ihrem Gedenken angefertigt wurden.

Besondere Probleme stellt die Briefsammlung Hildegards. Der Riesencodex überliefert das Epistolarium in einer redaktionell bearbeiteten Fassung, die möglicherweise noch von Hildegard mitverantwortet wurde und den Zweck verfolgte, ihre Stellung als öffentliche Person zu konstituieren. Andere frühe Handschriften weisen davon abweichende, aber in sich nicht identische Textbestände auf. E. bedauert, dass die kritische Edition des Epistolariums in der Reihe Corpus Christianorum von Lieven van Acker ihnen und nicht dem Riesencodex den Vorrang gegeben habe. Hier wäre zu ergänzen, dass der dritte Teil des Epistolariums von Monika Klaes-Hachmöller, der E. offenbar noch nicht zugänglich war, dieser Kritik teilweise bereits Rechnung trägt und in einem Anhang den ursprünglichen Textbestand der einzelnen Überlieferungsträger wieder herzustellen bemüht ist. Man wird auch gespannt sein auf die von Beverly M. Kienzle und Caroline A. Muessig in Aussicht gestellte Edition der Predigten in der gleichen Reihe, denn E. zufolge handelt es sich bei den im Rahmen des Epistolariums überlieferten 59 Homilien (Expositiones evangeliorum) nicht um öffentliche Predigten, sondern um Auslegungen der Sonntagsperikopen für die Klostergemeinschaft.

Überhaupt lässt sich E. zufolge bei allen Schriften Hildegards eine spezifische Gebrauchsfunktion im Klosterleben nachweisen. So wurde der Scivias bei den Benediktinern und Zisterziensern offenbar im Rahmen der monastischen Lectio vorgelesen. Auch die Lingua ignota hält E. in Übereinstimmung mit den Forschungen von Reiner Hildebrandt nicht für eine Geheimschrift, sondern für eine Kompilation auf der Basis des Summarium Heinrici, die der klösterlichen Wissensvermittlung diente. Das Gleiche gilt für das medizinische Werk (Liber simplicis medicinae), das vollständig erst in einer heute in Florenz befindlichen Handschrift des ausgehenden 13. Jh.s überliefert ist. Die ursprünglich aus einer Trierer Benediktinerabtei stammende Handschrift fand vermutlich in einem von der Abtei betriebenen Spital Verwendung. Insgesamt stieß das naturkundlich-medizinische Schrifttum Hildegards, dessen Echtheit noch nicht vollständig gesichert ist, auf erstaunlich wenig Resonanz.

Für die Überlieferung und Rezeption der Schriften Hildegards bedeutete der gescheiterte Heiligsprechungsprozess, den das Kloster Rupertsberg 1227-1233/37 mit Unterstützung zisterziensischer Kreise angeregt hatte, einen tiefen Einschnitt. Wie E. im zweiten Teil seiner Studien aufzeigt, ging das Interesse an Hildegards Theologie spürbar zurück, um einer wachsenden Aufwertung ihrer Prophetien Platz zu machen. Dafür verantwortlich zeichnet die 1220-1224 entstandene Exzerptkompilation des Zisterziensers Gebeno von Eberbach (Pentachronon). Diese Auswahl aus ihren Schriften ermöglichte, dass Hildegard im Spätmittelalter im Rahmen der apokalyptischen Kirchenkritik mit der ihr zuerkannten Autorität als Prophetin für ganz verschiedene Zwecke instrumentalisiert werden konnte. Sie liegt auch der deutschsprachigen Rezeption zu Grunde, die E. erstmals auch unter Einbezug von polemischen Texten des konfessionellen Zeitalters verfolgt. Ein ausführlicher Abschnitt ist schließlich dem Benediktiner Trithemius gewidmet, der das Bild Hildegards um weitere wirkungsmächtige fiktionale Elemente bereicherte und das der Bursfelder Reform zugeführte Kloster Rupertsberg erneut zum Kultzentrum der Hildegard-Verehrung machte.

Es ist hier nicht möglich, auf die Fülle der Einzelbeobachtungen einzugehen, die E. im Verlauf der Untersuchung präsentiert. Sie machen das Ganze zu einer spannenden Spurensuche, die auch einem weiteren Kreis von Hildegard-Freunden zum Studium empfohlen werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass der von E. als Arbeitsgrundlage erstellte "Conspectus der ermittelten Hildegard-Handschriften" ebenfalls in irgendeiner Form der Wissenschaft zugänglich gemacht wird.