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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

514 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wüthrich, Serge

Titel/Untertitel:

Le Magnificat, témoin d'un pacte socio-politique dans le contexte de Luc-Actes.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2003. XVI, 213 S. m. Abb. 8 = Cristianismes anciens, 2. Kart. Euro 43,40. ISBN 3-906770-56-7.

Rezensent:

Luc Herren

Serge Wüthrich stellt seine These bereits im Avant-propos auf: Das lukanische Doppelwerk, und darin insbesondere das Magnificat (Lk 1,46-55), sei Ausdruck eines Pakts mit dem Ziel, in den christlichen Gemeinden Spannungen zu vermindern, die sich in sozialen und politischen Fragen ergeben hätten (VIII). W. nimmt dann erst einen langen Anlauf, um gegen Ende des Buches wieder auf diese These zu sprechen zu kommen.

Nach einigen einführenden Bemerkungen stellt W. die Frage, ob das Magnificat ein revolutionärer Hymnus sei (Kap. 1 f.). In V. 52 f. ist ja die Rede davon, dass Mächtige von ihren Thronen gestürzt, Niedrige erhöht, Hungrige mit guten Dingen versorgt und Reiche mit leeren Händen weggeschickt werden. W. verwirft spiritualisierende Deutungen, die das Magnificat ausschließlich als Ausdruck der Frömmigkeit Israels verstehen. Er geht aber auch auf Distanz zum anderen Extrem: zu denjenigen, die im Magnificat einen Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen Diktatoren und Reiche sehen wollen. W. stellt in Aussicht, die Frage nach dem sozio-politischen Inhalt mit Hilfe einer soziologischen Exegese lösen zu wollen, nach dem modèle conventionnaliste de la justification von Luc Boltanski und Laurent Thévenot. Es folgt eine kurze Geschichte und Rechtfertigung der soziologischen Exegese (Kap. 3).

Der erste Hauptteil des Buchs beginnt mit einer Auslegung des Texts mit Schwerpunkten bei der Strukturanalyse und der Erörterung semantischer Felder (Kap. 4). Als Ergebnis hält W. fest, dass es im Magnificat nicht um die Umkehrung der Verhältnisse gehe: Der Reiche werde zwar mit leeren Händen, aber nicht hungrig weggeschickt; die Armen seien zwar wohlversorgt, aber nicht neue Reiche. Weite Teile dieses Kapitels wirken so, als ob W. hier eine Pflichtübung absolviert hätte (dasselbe gilt für Kap. 6.1).

Es folgen ein Exkurs zu Einleitungsfragen (Kap. 5) und eine Erörterung der Herkunft des Magnificats (Kap. 6). Die Positionen W.s sind hier kaum überraschend: Das Loblied stammt nicht aus der Feder des Lukas, seine Herkunft ist wohl am ehesten in einer jüdisch-christlichen Gemeinschaft zu suchen. Als weiterer Exkurs folgt ein versweiser Kommentar des Magnificats (Kap. 7). W. betont abschließend, dass im Text sowohl die wirtschaftliche als auch die geistliche Armut angesprochen sei.

Am Anfang des zweiten Hauptteils nimmt W. noch einmal die Frage auf, ob das Magnificat ein Befreiungshymnus sei (Kap. 8). Er setzt sich mit Richard Horsley auseinander, der unter Berufung auf Ralf Dahrendorfs Konflikttheorie eine bipolare Deutung unseres Texts bietet: Durch revolutionäre Umwälzungen werde in diesem Lied der scheinbar endlose Klassenkampf beendet. W. hält entgegen, dass er in Lk 1 f. kaum eine grundsätzliche Auflehnung gegenüber Machtstrukturen der Unterdrückung erkennen könne.

Im Folgenden wird der Blick ausgeweitet mit der Frage, ob Lk-Apg als Ganzes ein sozio-politischer Legitimationsdiskurs sei. W. stellt fest: Das Programm des Lukas ist nicht die Revolution, sondern eine cohabitation harmonieuse zwischen Armen und Reichen in den Gemeinden; von den Wohlhabenden wird Mildtätigkeit eingefordert (Kap. 9.1). Lukas' Haltung gegenüber den römischen Machthabern ist ambivalent (9.2). Deshalb sind weder die herkömmlichen Thesen von Lk-Apg als einer Apologie in Bezug auf Rom zutreffend (Conzelmann, Walaskay, Theißen; 9.3) noch die soziologische These von Lk-Apg als Legitimation des Christentums (Esler; 9.4).

Endlich kommt W. auf seine These zu sprechen (Kap. 10). Nachdem er die soziologischen Ansätze von Horsley und Esler als reduktionistisch erwiesen hat, bietet er ein Modell an, das der polyphonie lucanienne besser gerecht werden soll: Lukas strebe einen freiwilligen accord zwischen Armen, Reichen, Mächtigen und Schwachen in den Gemeinden an. Basis soll der Friede sein, den die Geburt des Messias Jesus gebracht habe (10.1). Bei Boltanskis und Thévenots principe de la justification gehe es um den zentralen Ort der Kommunikation, um die gemeinsame Sprache, die es ermöglicht, von Einzelinteressen gesteckte Grenzen zu überwinden (10.2). Der Vielstimmigkeit von Lk-Apg entsprechen nicht die Modelle der Apologie und der Legitimation, sondern entspricht dasjenige einer Konsensschrift, die die verschiedenen Stimmen in sich vereinige: die der Armen wie der Reichen, die pro-römischen wie die anti-römischen, die jüdischen wie die paganen (10.3). Lukas wolle den Gemeinden nicht eine Utopie anbieten, sondern einen freiwilligen Pakt - ein relationales Modell, das auf Dialog und Konsens aufbaut (10.4). Zwar ist dieses Modell in seiner soziologischen Formulierung vom individualistischen Gedankengut unserer Zeit geprägt, aber insofern als der Glaube der frühchristlichen Gemeinden dem Einzelnen Rechte und Freiheiten zuspricht, entspricht das Modell doch wieder seinem Gegenstand (10.5). Ein erneutes Plädoyer für die Verwendung der Soziologie in der Bibelexegese und ihre Anwendung auf das Magnificat schließt den Band ab (Kap. 11).

So sehr man W. hier grundsätzlich zustimmen wird, stellen sich doch Fragen zu den vorliegenden Ergebnissen. Ein Pakt - Schlüsselwort in W.s These - wird zwischen zwei (oder mehreren) Parteien geschlossen. Wie kann das Magnificat Zeuge eines Pakts zwischen Armen und Reichen sein, wenn die Position der Reichen darin nicht zum Ausdruck kommt? Wie kann "Friede" das Grundprinzip dieses Pakts sein (VIII.166 u. ö.), wenn im Magnificat vom Frieden nicht die Rede ist? Das Magnificat wäre also höchstens ein indirekter (kein Friede) und einseitiger (nur Reiche werden verpflichtet) Zeuge eines nicht geschlossenen (von Lukas nur angebotenen) Pakts.

Dennoch: W. hat hier ein aufs Ganze gesehen lesenswertes Buch geschrieben. Seine Positionen sind erfrischend unideologisch (W. ist laut Klappentext Physiker und Theologe, hat im Bereich Raumfahrt geforscht und als Berater gearbeitet). Der Text ist über weite Strecken flüssig geschrieben und auch Nicht-Muttersprachlern zugänglich.

Deutsche Literatur hat W. meist in englischer Übersetzung konsultiert: Er zitiert sie französisch im Lesetext und bietet die englische Version als Beleg in der Fußnote. So geschieht es auf S. 45 etwa mit dem Artikel tapeinos ktl aus dem ThWNT, den W. zudem G. Kittel selbst zuschreibt (der Artikel stammt von Grundmann und erschien 21 Jahre nach Kittels Tod).

W. zieht es oft vor, Gewährsleute zu zitieren, statt Informationen selbst zu verifizieren. So verweist er etwa auf Raymond Brown für die Aussage, epoiesen kratos sei kein gebräuchliches Griechisch (95, Fußnote 36).

Ich habe 37 Druckfehler gezählt, W. kann die Liste bei mir erfragen. Cyrills Lukas-Kommentar ist nicht in PG 117 zu finden (6, Fußnote 26), sondern in PG 72.