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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

511 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Straub, Esther

Titel/Untertitel:

Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz. Zum Verhältnis von Joh 1-12 und 13-20.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 249 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 203. Lw. Euro 52,00. ISBN 3-525-53887-1.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Die Untersuchung ist die leicht überarbeitete Version einer Promotion bei Jean Zumstein an der Universität Zürich.

Esther Straub untersucht das Johannesevangelium im Blick auf seine Rede vom Kreuz. Zur Darstellung ihres Ansatzes untersucht sie zuerst Tod und Auferweckung Jesu in ihrer narrativen Gestaltung in Joh 1-12 und dann die narrative Entfaltung der johanneischen Eschatologie in Gericht und Gottesgemeinschaft in Joh 13-20. Die Arbeit schließt mit einigen Thesen zum Johannesevangelium und zu dem Unterschied der Christologie und Eschatologie bei Paulus und Johannes.

Im Zusammenhang einer kurzen Beschreibung verschiedener Ansätze zur Kreuzestheologie bei Paulus und Johannes formuliert S. ihre Grundthese: Das Wort vom Kreuz sei für die johanneische Theologie zwar wichtig, stelle aber keinen Hauptaspekt johanneischer Theologie dar. Dennoch vernachlässige das Johannesevangelium das kritische Moment einer theologia crucis nicht.

Zum Nachweis dieser These stützt sich S. auf Joh 1-12 und 13-20, wobei Joh 15-17; 10,1-18 als zur sekundären Redaktion gehörend ausgeschieden werden. Vor Beginn der eigentlichen Exegese fügt sie einen sehr kurzen Paragraphen zum johanneischen Antijudaismus ein. Der erste exegetische Teil behandelt unter dem Aspekt der Selbstoffenbarung Jesu exemplarische Texte aus Joh 1-12 (die Kanaepisode, Joh 2,1-11, und den ersten Teil des Nikodemusgesprächs, Joh 3,1-8, als Textgrundlage und Joh 6 als Beleg für die erarbeiteten Thesen) und die darin enthaltenen Prolepsen auf Joh 18-20. S. bemüht sich um die grundlegende Bestimmung des Verhältnisses zwischen himmlischer und irdischer Realität Jesu, wobei sie außer in Joh 1,14 keine Hinweise auf Jesu irdische Herkunft findet. Innerhalb der johanneischen Anthropologie sieht S. einen Dualismus zwischen der bekannten irdischen und der unbekannten himmlischen Sphäre, der die Vorstellung des Menschen, die irdische Herkunft sei allein maßgeblich, negativ qualifiziert. So unterscheidet sie auch zwischen Fluchtod und natürlichem Tod. Die johanneische Christologie zeigt sich nach S. in Herkunftsaussagen, nicht in Wesensaussagen. Die johanneische Soteriologie interpretiert sie ausschließlich präsentisch, z. B. Glaube als Auferstehung und Unglaube als Tod. In den Vorverweisen auf Joh 18 f. in Joh 3,14-21, 8,21-29, 12,31 f.37-43 findet S. Belege für ihre These, dass die Kreuzigung als Erhöhung Jesu das Gericht über den Unglauben narrativ entfaltet.

Der zweite exegetische Teil zu Joh 13-20 behandelt den Zusammenhang zwischen Jesu Erhöhung, dem Gericht über die Welt und der Rettung der Glaubenden. Die Kreuzigung (nicht nur die Gerichtsszenen!) beschreibt S. ausschließlich als das "Selbstgericht des Unglaubens" (126). Dem "Selbstgericht" widerspricht jedoch schon, dass die Kreuzigung für S. Jesus zum Richter des Unglaubens erhebt (151) und dass S. in Kreuz und Begräbnis königliche Titel und Attribute findet - ein Widerspruch, den S. nicht diskutiert. Entgegen der These vom "Selbstgericht" legt S. in der gesamten Auslegung den Schwerpunkt so betont auf Jesu Souveränität, dass sie Textdeutungen auf Jesu Menschlichkeit hin ablehnt, wie z. B. die Auslegung, Jesu Durst zeige sein Leiden (169). Nach der Auslegung der Kreuzigung wendet sich S. Joh 13 f. und 20 als Deutung des Kreuzes als "produktives Ereignis" für die Glaubenden (184) zu. Joh 20 weist sie eine "Schlüsselposition" (202) im Evangelium zu und sieht dabei in den Wundmalen keinen Hinweis auf eine Kreuzestheologie, sondern die Betonung der Identität der Kreuzigungs- und Ostererzählung.

Die Thesenreihe am Schluss diskutiert die Ergebnisse in Hinsicht darauf, dass S. im Johannesevangelium keine Kreuzestheologie nach paulinisch-reformatorischer Tradition findet. S. sieht die Funktion des Kreuzes bei Johannes darin, dass das "Eschaton in die Geschichte eingeht" (214) und sich so die Erfahrungen von Ostern und der Parusie verbinden. Das kritische Moment der Kreuzestheologie gegenüber menschlicher Auflehnung gegen Gott wird für S. bei Johannes nicht im Kreuz, sondern in der "Selbstoffenbarung des irdischen Auferstandenen" (220) zur Sprache gebracht. Für sie drückt Jesu Tod am Kreuz nicht stellvertretende Gottverlassenheit, sondern den Tod der Gottlosigkeit aus. So findet S. im Johannesevangelium ausschließlich eine vergeschichtlichte Eschatologie.

Die Arbeit umfasst in ihrer Ausrichtung das gesamte Johannesevangelium und eine große Anzahl in der Forschung umstrittener Themen, so die Stellung der Juden, Dualismus, Prädestination, präsentische gegenüber futurischer Eschatologie usw. Diese vielschichtigen Themen werden bedauerlicherweise durchweg zu kurz und fast ohne Bezug auf die vorherige Forschung behandelt. Ein differenzierteres Vorgehen wäre auch in einigen Argumentationen sinnvoll, so z. B., wenn S. bestreitet, dass die Herkunftsaussagen mit Wesensaussagen zusammenhängen (vgl. dagegen die Ich-bin-Worte), oder ihre Betonung des Kreuzes als "Selbstgericht des Unglaubens" (s. o.).

Insgesamt zeigt sich hier ein Entwurf, der versucht, das Johannesevangelium unabhängig von paulinischer Kreuzestheologie zu sehen. Dabei wird die Vorgeschichte vieler traditionell johanneischer Einzelthemen zu wenig einbezogen. Diese Themen können nur von verschiedenen Seiten betrachtet werden, wenn sie für die Forschung fruchtbar werden sollen. Demgegenüber verharrt die Arbeit in einer einseitigen Betonung feststehender Thesen und wird oft Opfer einer verkürzten Wahrnehmung. Das Anliegen, das Johannesevangelium aus seiner eigenen theologischen Sicht heraus zu sehen, bleibt bedenkenswert. In der Durchführung, gerade bei einem Versuch, einen neuen Ansatz für eine alte Kontroverse zu liefern, ist mehr Tiefenschärfe zu wünschen.