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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

509–511

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Merz, Annette

Titel/Untertitel:

Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Fribourg: Academic Press 2004. XII, 465 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 52. Geb. Euro 69,00. ISBN 3-525-53953-3 (Vandenhoeck & Ruprecht); 3-7278-1448-9 (Academic Press).

Rezensent:

Martina Janßen

"Exegese als Intertextualitätsforschung" - dies ist das Anliegen der im Wintersemester 2000/2001 von der Theologischen Fakultät in Heidelberg angenommenen Dissertation von Annette Merz über den intertextuellen und historischen Ort der Pastoralbriefe. Der erste Teil der Arbeit besteht aus einer theoretischen Grundlegung (5-71). M. rezipiert die komplexe Intertextualitätsforschung mit hoher Methodenkompetenz und mit Blick auf die "klassische" historisch-kritische Exegese (28 f.; 105 ff.; 376 f. u. ö.). Ihre Ausführungen zu den Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, Erscheinungsformen von Intertextualität und intertextuellen Verweisen, Verfahren der Sinnkonstitution und -komplexion sowie zur Allusionskompetenz, intertextuellen Präsuppositionsstruktur und zu den Formen der Markierung gleichen einer "Grundinformation Intertextualität", die auch über die Pastoralbriefexegese hinaus inspirierend und nützlich zu lesen ist.

M. führt zur Illustration Beispiele aus dem Neuen Testament und der modernen Literatur an. Hätten hier nicht auch antik-pagane Exempla ihren ganz eigenen Reiz gehabt? So ist z. B. die titulare Intertextualität (23f.) in der sich an den griechischen Vorbildern orientierenden lateinischen Literatur häufig anzutreffen (vgl. nur Ciceros Orationes Philippicae!).

Gegenstand des zweiten Teils sind "die Pastoralbriefe als Prätexte in ihrer frühesten Rezeptionsgeschichte" (72-194). Ausgehend von der Datierungsfrage der Pastoralbriefe und dem methodischen Problem, literarische Abhängigkeiten präzise zu erheben, präsentiert M. im Anschluss an M. Pfister brauchbare Kriterien zur Skalierung der Intensität intertextueller Bezüge (105 ff.). Die sich anschließenden Analysen weisen Ignatius und Polykarp als Rezipienten der (in ihren Augen paulinischen) Pastoralbriefe aus und erlauben so eine historische Verortung der Pastoralen kurz vor der Jahrhundertwende (382).

M. prüft zunächst die Rezeption der Pastoralbriefe durch Polykarp und behandelt dann die intertextuellen Bezugnahmen Polykarps auf die Pastoralbriefe sowie die sprachlichen, sachlichen und gattungsspezifischen Parallelen und die Authentizitäts- und Datierungsfragen. Nach M. bezieht sich auch Ignatius auf eine Paulusbriefsammlung, die die Pastoralbriefe einschließt. Dies wird deutlich an der sprachlichen Nähe bis hin zu wörtlichen Berührungen und an der "intertextuell konstituierten Selbststilisierung des Ignatius als Paulusnachfolger" (147), die sich unter anderem in der Art der Bekämpfung von Gegnern, dem Einsatz für das kirchliche Amt, dem Selbstverständnis als Märtyrer sowie in der brieflichen Kommunikation (Gemeindebriefe, "Pastoralbrief" an Polykarp) manifestiert.

An dieser Stelle ist die jüngst vertretene Spätdatierung der Ignatianen nach 160 n. Chr. ins Spiel zu bringen. M. hat diese These im Anhang ihrer als Mikrofiche veröffentlichten Dissertation diskutiert. Eine kurze, über einen reinen Verweis (73, Anm. 9 u. ö.) hinausgehende Stellungnahme auch in der Druckversion wäre auf Grund der Relevanz der Datierungsfrage hilfreich gewesen.

Im dritten Teil ("die Pastoralbriefe und ihre Prätexte") deutet M. die Pastoralbriefe als "fiktive Selbstauslegung des Paulus" (195- 375). Der Dissens über den Ort der Pastoralbriefe in der Paulustradition erfordert eine genaue Verhältnisbestimmung, die M. durch die intertextuelle Analyse zu leisten versucht. Für die Produktion und Rezeption der Pastoralbriefe ist der Bezug auf das paulinische Prätextcorpus konstitutiv. Dies zeigt sich an dem Verfasser- und Adressatenpseudonym und weiteren onomastischen Referenzen, an der Imitation der Gattung (Systemreferenz) und an den verschiedenen Formen allusiver Intertextualität, von denen die wichtigste die "fingierte Selbstreferenz" ist (232-242): Im Sinne der literarischen Fiktion fungiert Paulus als sein eigener Interpret. Durch dieses fiktive Selbstgespräch kann der pseudonyme Autor die Bedeutung der paulinischen Prätexte angesichts konkurrierender Deutungen festlegen, aktualisieren, neu akzentuieren und - wenn nötig - korrigieren.

Eine "offene" Pseudepigraphie lehnt M. ab (196 ff.). Die Pastoralbriefe sind bewusste Fälschungen, wobei fingierte Selbstreferenzen als "literarische Waffen" (232) dienen. Der Verfasser der Pastoralbriefe will Paulus zwar nicht verfälschen, sondern vermeintliche Verfälschungen paulinischer Lehre zurückweisen. Nach M. trifft er aber die Intention des Paulus nicht und erliegt einer Selbsttäuschung. Welche (kanon)theologische Konsequenz ergibt sich aus diesem Befund (bes. 383 ff.)? M. lehnt eine Zuflucht zum "kanonischen Paulus" und - das ist nach M. letztlich die Konsequenz - damit eine "vorkritische Rezeption der Pseudepigrapha als Orthonymika" (385) ab. Vielmehr sind die Pastoralbriefe als polemische, parteiische Pseudepigrapha zusammen mit anderen, auch außerkanonischen Zeugnissen als "Momentaufnahme des nachpaulinischen Diskussionsprozesses" (385) kritisch zu rezipieren.

Die exemplarische Auslegung der Pastoralbriefe im materialen Teil - M. wählt die Sklavenparänese (245-267) und die Frauenparänese (268-375) - erweist sich als ein "umfassendes Programm" (244) von drei ineinander greifenden Analyseverfahren. Zunächst erhebt M. in der intratextuellen Analyse die Bedeutung einer Aussage im literarischen Kontext (in M.s Terminologie "Ko-Text") und beleuchtet dann den situativen Kontext (kontextuelle Analyse). Die Rolle der paulinischen Prätexte bei der Sinnkonstitution der Pastoralbriefe zu eruieren, ist nun Aufgabe der intertextuellen Analyse. Hier kommt neben der textorientierten auch der referenztextorientierten, also der den Sinn der Prätexte berührenden Funktion von Intertextualität eine hohe Bedeutung zu.

Eine abschließende Zusammenfassung (376-387), ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis (388-442) sowie ein Register (443-465) runden die Arbeit ab.

Ein hervorstechendes Merkmal der Arbeit ist der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache. M. schöpft dabei alle formalen Möglichkeiten aus, was die Lesbarkeit ein wenig einschränkt. Mitunter gebraucht sie auch nur die maskuline (vgl. z. B. 247.257) oder feminine Form (vgl. 292 [Anm. 90] mit 310 ff.). Die Sensibilität für die Geschlechterfrage schlägt sich weiter im Literaturverzeichnis (389, Anm. 1) und nicht zuletzt in den exemplarischen Analysen nieder (Frauenparänese!). Hier nimmt M. die "negative" Botschaft der Pastoralen ernst (375: "Aufhebung der soteriologischen Gleichheit der Geschlechter!"); ihre Positionierung findet auf der Basis exegetisch-theologischer Sachargumentation statt.

M. arbeitet auf eindrucksvolle Weise die intertextuelle Dimension von Pseudepigraphie heraus. Dies wirft ebenso wie die Funktion der fingierten Selbstreferenz Licht auf frühchristliche Strategien der Paulusauslegung und bereichert damit das Verständnis pseudopaulinischer Literatur um einen wichtigen neuen Aspekt. Freilich ist damit kein Universalschlüssel für das Problem antik-christlicher Pseudepigraphie gefunden. Briefe, die nicht auf ein orthonymes Prätextcorpus zurückgreifen (können) wie die katholischen Briefe, bedürfen eines eigenen Interpretationsansatzes.