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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

502–505

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Jonge, Marinus de

Titel/Untertitel:

Pseudepigrapha of the Old Testament as Part of Christian Literature. The Case of the Testaments of the Twelve Patriarchs and the Greek Life of Adam and Eve.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. VIII, 281 S. gr.8 = Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha, 18. Geb. Euro 75,00. ISBN 90-04-13294-5.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Marinus de Jonge ist emeritierter Professor für Neues Testament und frühchristliche Literatur in Leiden und hat sich vor allem um die Erforschung der Testamenta Duodecim Patriarcharum (Test XII) verdient gemacht. In den letzten zehn Jahren hat er seine Aufmerksamkeit auch der Apokalypse des Mose (Apc Mos) zugewandt. Im vorliegenden Band werden aus der großen Zahl der Aufsätze, die deJ. im Rahmen dieser Forschungstätigkeit publiziert hat, zehn in mehr oder weniger überarbeiteter Form zusammengestellt (Kap. 1-2; 6-13); drei (Kap. 3-5) sind eigens für dieses Buch geschrieben worden. Das Ergebnis dieses redaktionellen Prozesses ist eine retrospektive Programmschrift, die den von deJ. seit mehreren Jahrzehnten vertretenen Ansatz in prägnanter Form noch einmal zur Sprache bringt, zunächst für die Erforschung der "Pseudepigraphen des Alten Testaments" (PsAT) im Allgemeinen (Kap. 1-4), dann für die Test XII (Kap. 5-10) und schließlich für die Apc Mos (Kap. 11-13).

DeJ. setzt sich dafür ein, die PsAT, die seines Erachtens in der Forschung oft leichtsinnig als jüdische Schriften klassifiziert werden, zuallererst als Bestandteil der christlichen Literatur zu analysieren. Häufiger als andere Forscher votiert er auch für einen christlichen Ursprung dieser Schriften, speziell bei den Test XII (97-106) und der Apc Mos (Kap. 11). Die Begründung für diesen Ansatz lässt den Textkritiker deJ. erkennen, der nicht zuletzt auch im Jahre 1978 eine neue Editio maior der Test XII auf den Markt gebracht hat: Die PsAT - so deJ. völlig zutreffend - sind uns fast ausschließlich in christlichen Handschriften überliefert; auch die textkritisch rekonstruierbaren Archetypen sind in der Regel christlich (39-40), etwa im Fall von Joseph und Aseneth (Jos As), wo die gesamte Überlieferung auf einen Archetyp aus dem 5. Jh. zurückgeht (60-61). Sie sind also auf uns gekommen, weil Christen sie für bedeutsam gehalten haben, und daraus ergibt sich bei deJ. tendenziell auch ein gewisses Prärogativ für eine christliche Verfasserschaft (vgl. etwa die Argumentation zu den Vitae Prophetarum, 43-48). Auch wenn christliche Spezifika in einem PsAT nicht zu erkennen sind, spricht dies nach deJ. noch nicht notwendigerweise gegen einen christlichen Autor: Was nicht unzweifelhaft christlich erscheint, sei noch lange nicht unzweifelhaft jüdisch (vgl. 103-105 zur Ethik der Test XII). Christen und Juden hätten schließlich das Alte Testament gemeinsam; dessen Gestalten seien für Christen damit gleichermaßen interessant wie für Juden und könnten deshalb auch Hauptfiguren christlicher PsAT sein (vgl. Kap. 2: "The Pseudepigrapha of the Old Testament as Witnesses to the Authority of the Old Testament in the Early Church").

Auch für die diachrone Analyse der PsAT hat diese Sichtweise Konsequenzen. In der Forschung werden sehr oft eindeutig christliche Passagen in den Test XII und in anderen PsAT als sekundäre Zusätze ausgeschieden - mit dem Ergebnis, dass dann ein jüdischer Grundbestand übrig bleibt. Dieses Verfahren hält deJ. für problematisch (vgl. 141-145: gegen die Literarkritik von Charles zu den Test XII). Auch Passagen ohne christliche Spezifika können seines Erachtens von Christen verfasst worden sein (vgl. 103-105 [s. o.] und 61-62 über Joseph und Aseneth). Freilich ist auch nicht ausgeschlossen, dass jüdische Überlieferungen in einem von einem Christen verfassten PsAT Aufnahme finden (vgl. Kap. 8: über das Verhältnis zwischen den u. a. in Qumran aufgefundenen Überresten des aramäischen Levi-Dokuments und den Test XII). Diachrone Analyse findet auch in den Forschungen von deJ. ihren Ort, wenngleich er wohl eher zu überlieferungsgeschichtlicher als literarkritischer Analyse tendiert (vgl. 75-79 über die Test XII).

Der Ansatz deJ.s ist in mancher Hinsicht produktiv. So liest man mit Gewinn seine Ausführungen über die Rezeption der Test XII in der Hochscholastik (84-87) und in der niederländischen Devotio moderna (90-93). Auch sein Gespür für die textkritische Problematik tut der Pseudepigraphenforschung gut. Hilfreich ist auch die durch ihn angeregte methodische Skepsis: Eine jüdische Herkunft eines der PsAT darf nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden, man muss sie beweisen, und in der Tat wird man die PsAT mit mehr Vorsicht für den Vergleich mit neutestamentlichen Schriften heranziehen müssen, als dies oftmals geschieht (vgl. Kap. 10; 13). Doch insgesamt erscheint es zweifelhaft, ob die von ihm verfolgte Strategie, die PsAT zuallererst als christliche Dokumente zu erforschen, wirklich zielführend ist. Im Grunde besagt die Tatsache, dass die PsAT fast durchgängig von Christen überliefert wurden, über deren Autoren wenig: Auch Philo und Josephus waren keine Christen. Aus den Transmissionsbedingungen einer Schrift kann man nicht unbedingt auf die Produktionsbedingungen schließen. Erst recht kann man keine Beweislastargumente konstruieren. Man ist nämlich vor kritischen Rückfragen nicht sicherer als andere, wenn man angesichts der christlichen Rezeption eines der PsAT für dessen christliche Herkunft votiert. Denn wenn es stimmen soll, dass PsAT oder Passagen von PsAT ohne erkennbar christliche Prägung nicht notwendigerweise jüdisch sind, also eben doch christlich, dann hätten Christen der Alten Kirche sich mit Gestalten des Alten Testaments befasst, ohne diese mit dem Christusgeschehen in Verbindung zu bringen. Doch wo gibt es so etwas denn in frühchristlichen Schriften, die - anders als die PsAT - wirklich unzweifelhaft christlich sind, und wie wahrscheinlich ist das in einer Kirche, die sich ausweislich etwa des Barnabasbriefes, des Dialogs mit Tryphon von Justin und zahlreicher Adversus-Judaeos-Schriften immer wieder einer christologischen Interpretation der Schriften des Alten Bundes versichern muss?

Die Schwierigkeiten von deJ.s Ansatz lassen sich an zwei Schriften demonstrieren, die deJ. - mehr oder weniger ausführlich - diskutiert und die mir besonders am Herzen liegen. Die erste ist die Ascensio Isaiae (Asc Isa), auf die deJ. im vierten Kapitel zu sprechen kommt (vgl. 41-43) und für die in der älteren Forschung (vor allem von Dillmann und Charles) wohl zu Unrecht eine jüdische Grundschrift postuliert wurde. DeJ. beruft sich auf diese Fehlentwicklung, um die Problematik einer primär an "jüdischen Ursprüngen" orientierten Pseudepigraphenforschung zu illustrieren. Doch gerade hier zeigt sich auch die Problematik des von ihm propagierten Ansatzes. Die Asc Isa ist in der Tat eine christliche Schrift; ein jüdisches Substrat lässt sich nicht nachweisen. Doch zu dieser Erkenntnis sieht sich die gegenwärtige Forschung, repräsentiert unter anderem durch Norelli, Acerbi, Knight und Bauckham, vor allem deshalb genötigt, weil die Asc Isa sowohl in der Martyriumserzählung (Asc Isa 1-5) als auch in der Visionserzählung (6-11) konsequent christologisch zentriert ist. Mit dem Propheten Jesaja hat der Autor der Asc Isa sich also gerade nicht "um seiner selbst willen" auseinander gesetzt, sondern weil er in seinen Augen eine prophetische Botschaft verkündigte, deren Inhalt das Christusgeschehen war.

Zwischen dieser Schrift und der für deJ. ebenfalls christlichen Apc Mos, die sich mit dem Leben Adams und Evas nach deren Vertreibung aus dem Paradies befasst, liegen im Hinblick auf den Christusbezug Welten. Die Apc Mos erwähnt Christus an keiner Stelle, obwohl das Christentum seit Paulus eine Adam-Christus-Typologie kennt (vgl. Röm 5,12-21; 1Kor 15,21-22.44b-49). Für deJ. ist dies kein Grund, diese Schrift dem Judentum zuzuordnen - mit dem bereits erwähnten Argument, dass nicht unbedingt jüdisch sein müsse, was nicht klar erkennbar christlich sei (186-187). So weit, so gut, aber welche Argumente bietet deJ. auf, um die christliche Provenienz der Apc Mos auch positiv zu beweisen? Die Tatsache, dass es für die Waschung Adams im Acherusischen See (Apc Mos 37,3) nur christliche Parallelen gibt (vgl. Kap. 12), kann wohl kaum ausreichen; was sollten Juden speziell gegen den Acherusischen See gehabt haben, wo doch Gewässer in der Unterwelt dem israelitisch-jüdischen Weltbild keineswegs unbekannt sind (vgl. 2Sam 22,5; Ps 18,5; 1Hen [gr] 17,5)? Auch dass die Gottestitulatur pater ton photon (Apc Mos 36,3) sonst nur christlich belegt ist (186, vgl. Jak 1,17), bedeutet nicht viel, solange nicht nachgewiesen wird, dass diese Titulatur nur von Christen geprägt worden sein kann. Wenig überzeugend ist auch deJ.s Versuch, die Apc Mos von ihren Intentionen her als christlich zu bestimmen (Kap. 11: "The Christian Origin of the Greek Life of Adam and Eve"): Ein Autor aus dem christlichen Mainstream, so deJ., verfolge hier das Anliegen, Gen 3 nachzuerzählen.

Besonders sei jenem Autor an dem Anhang über das postmortale Ergehen Adams gelegen (Apc Mos 31-43), da diese kein Korrelat im biblischen Text finde (185-186). In Apc Mos 31-43 gehe es darum, dass Gott Adam nicht dem ewigen Tode überantworten werde. Um diese gnädige Haltung Gottes gegenüber Adam sei es auch anderen christlichen Autoren zu tun, nämlich Irenäus, Theophil von Antiochien und Tertullian. Doch was trägt diese Analogie eigentlich aus? Warum sollten nicht auch Juden daran interessiert gewesen sein, dass Gott sich Adams erbarmte? Störend wirkt bei diesem Vergleich auch die Tatsache, dass die von deJ. herangezogenen Parallelen aus Kirchenschriftstellern im Unterschied zur Apc Mos keineswegs frei sind von christologischen Rekursen. Als Beweis dafür, dass Christen sich auch ohne Christologie auf Adam zu beziehen vermocht hätten, können sie also nicht dienen. Außerdem lässt sich über die in der Apc Mos verfolgten Intentionen sicher mehr sagen, als dies bei deJ. geschieht. Diese Schrift ist voll von narrativen Details, die im Grunde viel interessanter sind als die - sicher nicht ganz unzutreffende - Feststellung, dass es der Apc Mos um Gottes Erbarmen und Adams Errettung vom Tode geht. Doch eine Analyse der narrativen Inventionen der Apc Mos kann hier nicht vorgenommen werden; dies ist die Aufgabe meiner bereits abgeschlossenen Dissertation, die bald erscheinen wird und deJ. nicht gerade wenig verdankt. Es tat gut, um einen gelehrten Skeptiker wie deJ. zu wissen, dem man schon einiges vorsetzen muss, damit er glaubt, dass ein "Pseudepigraph des Alten Testaments" tatsächlich eine jüdische Schrift ist.