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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

499–502

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Harvey, Charles D.

Titel/Untertitel:

Finding Morality in the Diaspora? Moral Ambiguity and Transformed Morality in the Books of Esther.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XVI, 274 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 328. Lw. Euro 74,00. ISBN 3-11-017743-9.

Rezensent:

Harald Wahl

Kein biblisches Buch liegt in unterschiedlicheren Textfassungen vor als das Buch Esther. Schon quantitativ sticht dieser Befund ins Auge: Die Langfassung der Septuaginta (B-Text oder LXX) ist mit ihren zumal die praxis pietatis der beiden Protagonisten Mordechai und Esther beschreibenden sechs Zusätzen (A-F) fast doppelt so lang wie die griechische Kurzfassung (A-Text), während sich der masoretische Text (MT) etwa in der Mitte einpendelt.

Dieser materiale Befund bleibt nicht ohne Auswirkung auf die textgeschichtliche und redaktionsgeschichtliche Erforschung des Buches, er wirft zudem erhebliche theologische und hermeneutische Fragestellungen auf, denen sich die auf die hebräische Fassung konzentrierende Forschung lange entzogen hat.

Eine gründliche Beschäftigung mit Esther kann jedoch keine der drei Texttraditionen ignorieren. Seit den Studien von L. Day (JSOT.S 186, 1995), Ch. V. Dorothy (JSOT.S 187, 1997), R. Koßmann (VT.S 79, 2000), K. de Troyer (SBL.SCSS 2000) und dem Kommentar von J. D. Levenson (OTL 1997) ist diese text- und theologiegeschichtliche Problematik in den letzten Jahren auch monographisch aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet worden. Vor diesem forschungsgeschichtlichen Hintergrund ist auch die unlängst erschienene Monographie von Charles D. Harvey zu betrachten. - Ausgehend von der in der Forschung vor allem umstrittenen theologischen Beurteilung widmet er sich der Frage nach der theologischen Ethik des Stoffes: "It should be said that perceived moral deficiencies greatly contribute to this displeasure and ultimate discontentment with the canonical inclusion of the book" (1).

Mit der Auslegung von Esther verbindet sich ein ganzes Bündel von Fragen, die um eine thematische Leitfrage kreisen. "Why have so many readers been troubled, especially more recently, by moral issues in the book of Esther? What has prompted this discomfort? Is this anxiety justified? Or is a measure of moral uneasiness to be expected as one engages the Esther story?" (1-2) Anders, mit dem Blick auf die lange umstrittene Kanonizität gefragt: "Did the moral complexion of the story ruin its chances of inclusion?" (2)

Vorausgesetzt, der Stoff war schon für die ersten Rezipienten ähnlich anstößig, so konnten die Schreiber, Redaktoren und Schriftsteller auf dieses Problem in verschiedener Weise reagieren: Sie konnten den Stoff ignorieren (avoidence), was sowohl die strittige Einführung von Purim als auch jeden fehlenden Beleg der Megilla in den Schriften von Qumran erklären könnte; zweitens konnten sie den Stoff deutungsoffen formulieren (ambiguity) und/oder drittens redaktionell fortschreiben (transformation). Damit sind für H. drei wesentliche redaktionelle Prinzipien ausgemacht.

Bei seiner Investigation beschränkt sich H. auf die hebräische und die beiden griechischen Fassungen; Übersetzungen wie die Peschitta, die Targume oder die Vulgata und auch die kommentierende Deutung von Josephus klammert er aus (3). Diese drei Textfassungen und die wesentlichen Episoden, die das Verhalten der Protagonisten verdeutlichen, bilden somit das Koordinatenkreuz, in dem sich die Studie bewegt. "In short, we shall strive to treat each of these witnesses as an entire work, within its own (full) context, and its own right" (13).

Aus diesen hermeneutischen Vorgaben in der Einleitung (1- 15) entwickelt sich die Methode für den exegetischen Hauptteil (19-201). In ihm untersucht H. nacheinander im MT (19-77), der LXX (79-136) und im A-Text (137-201) an einzelnen mit den Protagonisten verbundenen Topoi den "moral character". Er folgt dabei der Komposition und widmet sich nacheinander bei jedem Textdurchgang zunächst Vashti (20-22.80-82.138- 140), dann Esther (22-43.82-100.140-159) und Mordechai (43-55.100-111.159-171), dem Judenfeind Haman (55-63. 111-120.171-185), den Juden (63-68.120-128.185-192) und schließlich König Achashverosh (68-77.128-136.192- 201) in einzelnen Episoden.

Diesem symmetrischen Durchgang entspricht die innere Betrachtung der einzelnen Texte, bei denen es sich um die Nahtstellen der Erzählung handelt. Um den exegetischen Ertrag vergleichen zu können, werden, sofern die divergierenden Texttraditionen dies methodisch erlauben, unter demselben Thema dieselben oder eng verwandte Passagen herangezogen. Das gelingt einigermaßen unproblematisch beispielsweise bei der Darstellung von Esther, die textlich in den unterschiedlichen Fassungen ähnlich gewürdigt wird. Allein das Gebet, in dem die Gekrönte als fromme Königin erscheint (C 25b-29), bietet eine erhebliche Abweichung zu MT und A-Text (92-94).

Schwieriger wird die Methode beim Topos "the Jews", das wir exemplarisch näher betrachten. Nur zwei Textpassagen zieht H. in MT (9,1-10.16; 9,15) heran (63-68), während es in der LXX schon sieben (3,8 und B 4-5; C 11 und F 6a; C 17-18; 8, 11a und E 19b; E 15-16; 9,1-2.6-10.16; 9,15) sind (120-128) und im A-Text dann sechs (A 6b; 3,8.16-18; 4,2; 7,27.29; 7,44.46c; 7,58) sind (185-192).

Synoptisch betrachtet haben MT und LXX unter dem Topos "the Jews" nur das Thema "Adar" (63-68.125-128) gemeinsam; LXX und A-Text wiederum behandeln in ihrem dritten Abschnitt gemeinsam "A reason for their plight?" (C 17-18 sowie 4,2). Die weiteren Abschnitte bieten besonders auch durch die herangezogenen Zusätze zur LXX eigenständige Themen (LXX: A disparaging portrait in 3,8; B 4-5, A cry from the community in C 11, F 6a; A license to use their own laws and customs in 8,lla, E 19b; A reversing portrait in E 15-16; sowie A-Text: The cries of the people - opening frame in A 6b; A maliciously disparaging portrait in 3,8.16-18; The righteous laws of the Jews in 7,27.29; Bloody conflicts in 7,44.46c sowie The cries of the people - closing frame in 7,58). Schon dieser erheblich divergierende Textbestand vereitelt einen stringenten synoptischen Vergleich.

Allgemein betrachtet führt er dennoch zu theologischen Konsequenzen, denen sich dann der dritte Hauptteil (extrapolations and adumbrations) widmet (205-232). Analog zum exegetischen Teil fasst H. die Ergebnisse von MT (205-212), LXX und A-Text (212-230) nacheinander zusammen, ehe er synthetisch abschließt (230-232).

Methodisch dient das Konzept der ambiguity und transformation H. als deskriptive Kategorie, um die Rezeption des Stoffes angemessen zu beschreiben. Als Ergebnis hält er fest: "In our investigation into both LXX and A-Text in the course of this study, it has been impossible to ignore the fact that these Greek versions tell the Esther story differently from the way it is told in the MT. ... In so doing, we shall suggest that the moral character of these Greek books has been transformed by efforts of clarification or definition, expansion or amplification, and even alteration" (216-217).

Exemplarisch können wir diese Interpretation am Porträt der Protagonistin Esther nachvollziehen. MT beschreibt sie als wankelmütige (27-29) junge Frau, die in ihrem Lebenskampf moralisch reift (35-39). "What is clear, however, is that her moral legacy is neither romantically positive nor only negative" (208). Die moralische Integrität der Königin bleibt auch im A-Text mehrdeutig (156-159). "So far the Jewess is concerned, we have discerned a mixed portrait. ... Instances of intended clarification introduce an implicit, though undeniable, confusion into a discernment of Esther's character in the middle portions of the AT story. Esther at her most pious is also Esther at her most unbelievable. Perhaps this tension is necessary; perhaps it is not really important. Or maybe the presence of the logical difficulties should point us to Esther's God, through whom the miraculous delivery of the Jews ultimately comes" (229). Ganz anders dagegen porträtiert die LXX die jüdische Königin als vorbildliche Fromme, die ihren Glauben auch unter den widrigen Bedingungen der Diaspora lebt (94-98). "Alongside her crafty dealings, suspect and hesitant loyalities and shrewd proclivities, stand obedience, pious prayerfullness, submitting heart, and perceived blamelessness of Esther. ... Not only is she to keep her identity quiet, she is also to fear God and do the commandments of God in her new court context" (225).

Trotz offensichtlicher Schwierigkeiten der ersten Rezipienten ist der theologische Gehalt der Texte deutlich greifbar. "Given the way in which moral issues have been handled (or avoided) in many communities, it is clear that some early receivers of this story have been unsettled. The LXX and A-Text versions of Esther testify to readers who have been disquieted by the complexity of its moral situations" (231). Oder um auf die eingangs aufgeworfene Frage zu antworten: "Issues of morality are not on the periphery of the books of Esther, neither are they inconsequential in the narrative flow of the three stories" (231).

Auf die Situation der Gemeinde lassen sich aus den divergierenden theologischen Entwürfen kaum Rückschlüsse ziehen. Den historischen Kontext der beiden griechischen Fassungen lässt H. nach einer erschöpfenden Diskussion des in LXX (E 15) und A-Text (7,27) belegten Begriffes politeuomenous offen. Lediglich eine gewisse administrativ-religiöse Selbständigkeit der Gemeinde lässt sich ableiten (216). Allerdings fehlt in den Texten jede Spur zu den als Trägern des literarischen Transformationsprozesses angenommenen schriftgelehrten Theologen der Gemeinde. Die lokale und temporäre Konkretion bleibt also hinsichtlich der Träger der Literatur unklar (212-216).

Legen wir die Studie aus der Hand, so ergibt sich, mit dem gebotenen Abstand betrachtet, folgendes Bild: Redaktionsgeschichtliche Probleme werden zu Gunsten einer tendenziell implizierten Textgeschichte (MT, LXX, A-Text) harmonisiert und nicht, wie es eigentlich die komplexe Interdependenz der Schriften verlangte, Stratum um Stratum gegeneinander konturiert. Deshalb hängen die einzelnen Texte theologiegeschichtlich auch in der Luft.

Wenig bedacht bleibt der zweifellos untrennbare Zusammenhang von theologischer Intention der Autoren und dargestelltem ethischen Verhalten der Protagonisten. Möglicherweise liegt gerade in den theologisch gehaltvollen Zusätzen ein Schlüssel zu dem Thema, in denen durch die langen Gebete von Esther und Mordechai die beiden jüdischen Protagonisten als paradigmatische Gläubige unter den lebensfeindlichen Bedingungen der Diaspora gezeichnet werden. - Gelegentlich erscheint die kategorische Differenzierung von Ethik und Theologie gesucht. Gerade die dargestellte praxis pietatis der beiden Juden ist immer religiös motiviertes Beten und Handeln, das sich nicht auf einen "moral character" reduzieren lässt.

Allgemein bemerkt, die zukünftige Forschung muss sich auch der Frage nach den näheren historischen und soziokulturellen Bedingungen für diese Literatur stellen, um überhaupt den theologischen Beitrag ihrer Träger für die Selbstbehauptung Israels in der Diaspora entsprechend würdigen zu können.

Trotz dieser Einschränkungen gilt: Mit dieser Arbeit ist erstmals das komplexe Thema der theologischen Ethik in den drei basalen Textfassungen vergleichend behandelt worden. Die methodisch reflektierte und glänzend geschriebene Monographie ist die überarbeitete Fassung der an der Universität von Edinburgh 2000 angenommenen und von A. Graeme Auld sowie Ian W. Provan betreuten Dissertation. Ein ausführliches Literaturverzeichnis und umfangreiche Register runden die anregende Arbeit ab.

Und noch eines: Zweifellos ist es das Verdienst des langjährigen Herausgebers der Beihefte, diese stimulierende Studie in die respektable Reihe aufgenommen zu haben und damit die deutschsprachige Exegese, die Esther lange vernachlässigt hat, an das in allen Textfassungen transportierte Thema der jüdischen Identität in der Diaspora - gleichsam als präfigurierte jüdische und später christliche Existenz in der Gemeinde - zu erinnern.