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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

494–496

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Variorum Auctorum

Titel/Untertitel:

Commentaria minora in Apocalypsin Iohannis. Scilicet apringi pacensis tractatus fragmenta Cassiodori senatoris complexiones pauca de monogramma excerpta incerti auctoris commemoratorium de enigmatibus ex Apocalypsi commemoratorium a Theodulpho auctum. Quae omnia recognovit et commentario critico instruxit R. Gryson.

Verlag:

Turnhout: Brepols 2003. 352 S. gr.8 = Corpus Christianorum. Series Latina, 107. Lw. Euro 160,00. ISBN 2-503-01071-7.

Rezensent:

Martin Karrer

Nach seiner Beda-Edition (CChr.SL 121A) legt Gryson nun eine Sammlung "kleinerer" spätantik-frühmittelalterlicher Auslegungen und Zusammenfassungen (Complexiones) zur Apk vor. Alle stammen aus dem lateinischen Westen des 6.-9. Jh.s und stehen dadurch im Schatten der dort grundlegenden Kommentare von Victorin und Tyconius (sowie danach Primasius). Gleichwohl besitzen sie beträchtlichen Reiz. Das beginnt beim Verhältnis zu den älteren Kommentaren. Denn wie so oft bestätigt sich die Traditionsverpflichtung der Übergangsepoche zum Mittelalter:

Teils rezipieren die Auslegungen Victorin, was sie für dessen Textgeschichte relevant macht (in der Rezension nach Hieronymus, während der Ausgangstext unverändert schlecht überliefert bleibt; s. besonders 300 f. zu Theodulph und vgl. SC 423), allerdings in einem Fall auch zu einem wichtigen Verlust führte: In die Apringius-Handschrift gerieten viele Kapitel aus Victorin-Hieronymus, so dass uns die entsprechenden Kapitel des Apringius fehlen (G. weist 18-20 gegen ältere Thesen nach, dass die Montage nicht auf Apringius zurückgeht). Teils benützen die Auslegungen (gesondert oder zusätzlich) Tyconius, und De monogramma erlaubt, dessen Erläuterungen zu Apk 13,17 f. zu rekonstruieren. Das ist ein wesentlicher Baustein für die noch ausstehende Tyconius-Edition. Zur Klärung von Details und Feststellung zusätzlicher Quellen von De Enigmatibus und Theodulphs Commemoratorium bedarf es freilich noch der Edition eines anonymen Kommentars der Epoche, der in einer Cambridger Handschrift erhalten blieb (die Edition durch G. Lobrichon steht an; 9.238 f.300).

Die Texte sind unterschiedlich gut überliefert. Besonders breit benützt wurde ein Commemoratorium aus der 2. Hälfte des 7. Jh.s, das ein Rezeptionsstrang dem Hieronymus zuschrieb (17 Handschriften). Doch schon dessen interessantestes Stück, der Prolog (aus der Hand eines Dritten?), findet sich lediglich in einer Handschrift (A; 9. Jh., 193 f.). Der Anonymus beansprucht dort, das Wissen seiner Zeit über die Entstehung der Apk zusammenzufassen (Z. 7-10), und gibt uns so einen Einblick in die damalige Verschmelzung theologischer, geschichtlicher und legendarischer Erinnerung: Er identifiziert den Autor der Apk und des Joh, kombiniert eine sehr frühe Datierung (23 Jahre nach der Passion Jesu) mit der Zeit Domitians (Z. 10 f.) und begründet den Aufenthalt Johannes' in Patmos mit der Legende, er sei vom Herrn aus dem siedenden Öl der Verfolgung dorthin gerettet worden (Z. 18 f.; ein wichtiges Zeugnis dieser Legende). Schließlich schärft er ein, in der Apk keinen "ordo istoriae" zu suchen, sondern die Einsicht in die vielen "mysteria", die sie in wenig Worte bündle (Z. 32 f.). Die spirituelle Interpretation hat vor einer apokalyptisch-geschichtlichen Vorrang.

In einer größeren Zahl von Handschriften überkam außerdem De monogramma (Text: 149-157), eine Diskussion des Monogramms in Apk 13,18 (nach Primasius, Victorinus und Tyconius) aus dem späten 6. oder 7. Jh. und Indiz für das Interesse am Nomen "antichristi". Gedeutet wird die Variante des Tyconius, 616, als Imitatio Christi (den rekonstruierten Tyconius-Text bietet 144) - Gematrie zu XI-, und die häufigere Lesart 666 als Überbietung des Christus-Namens durch den Hochmut des Antichrist. Primasius trägt die Negation Christi bei (über 666 = griechisch "APNOYME/APNOYME", lateinisch "nego"), 2Thess 2,4 den Anspruch des Antichristen auf Gottes Tempel (Z. 182-185). Der Text schließt mit einer Warnung davor, die Zeit des Antichristen zu identifizieren (unter Verweis auf Act 1,7; Z. 191-199), und stellt dem Mittelalter doch alle wesentlichen Züge des Antichristbildes zur Verfügung.

Die anderen Quellen überkamen meist nur in einzelnen Handschriften, was die Edition erschwert. Zweifellos enthalten die Handschriften Fehler, die Berichtigungen erfordern, und G. verfährt in diesem Bereich sorgfältig und bedacht. Trotzdem bleiben unklare Bereiche. Nennen wir ein Beispiel: Die einzige Handschrift der Complexiones Cassiodors (V, 6./7. Jh.) liest in 1,1 "Apocalypsis Iesu Christi, quam dedit illis Deus" (113, Z. 1); die Apk wäre, falls kein Schreibfehler vorliegt, den Knechten Gottes zugedacht (s. "servis suis" in der nächsten Zeile und vgl. 129, Z. 4 f. zu 22,8 ff.: der Deuteengel sei "sanctorum conservus"). Die Lesart ist ungewöhnlich; Apringius (33, Z. 16) etc. bieten "illi" und beziehen das Pronomen (gegen den griechischen Ursprungstext) auf den erst später in 1,1 genannten Johannes. Doch gerade das zeigt das Problem. Da die Antike Titulus und Initium deutlich (und sachgemäß) unterscheidet (auch Apringius, a. a. O.), könnte Cassiodor eine alternative Lösung bewahren. Der Ursprungssinn (Gott gab die Enthüllung "ihm" = Jesus Christus) wäre auch in ihr verloren, doch die Vereinfachung zur Gabe an Johannes noch nicht vollzogen. G. erwägt diese Möglichkeit nicht und korrigiert zu "illi" (ansonsten dürfen wir von Cassiodors Zusammenfassung der Apk nicht zuviel erwarten, immerhin mit Interesse die Bemühung lesen, bei Apk 17,9 Alternativen zur Deutung auf Rom anzubieten [125]).

Das bedeutendste Werk im Band bildet der Kommentar des Apringius (Bischof in Beja kurz vor der Mitte des 6. Jh.s). Obwohl er nur in einer Handschrift und unvollständig, nämlich für 1,1-5,7 und 18,6-22,20, erhalten (ein Indiz für die Rezeptionsumbrüche nach der Westgotenzeit) ist, gewinnen wir wesentliche Aufschlüsse über die allmähliche Durchsetzung der Vulgata im Westgotenreich (bei gleichzeitiger Wahrung altlateinischer Einflüsse), den noch relativ freien Umgang mit Quellen (Apringius benützt solche, nennt aber keinen Gewährsautor und verfährt unabhängiger als spätere Autoren), die Suche nach Halt an Evangelium und Bekenntnis (s. die Deutung der Tür von 4,1 aufs Evangelium S. 59; die der Symbole von 4,6 auf die Evangelisten S. 62, die der Fundamente von 21,18 auf die "apostolica fides" S.91 etc.) sowie die Rolle des Priesterstandes und der Sakramente im 6. Jh. (aus 1,6 wird abgeleitet, wir verdienten, dass es Priester Gottes gebe ["ut mereamur sacerdotes dei patris existere", 37, Z. 1f.]; die sieben Geister von 1,4 verweisen auf die Sakramente [35], 22,17 auf die Taufe [96 etc.]). Am wichtigsten aber ist die Durchdringung der Schriftlektüre durch Christologie und Trinität, die gern unter gematrischer Hilfe erfolgt: Die 1000 Jahre von 20,2 etc. verweisen auf das griechische a und damit den Anfang, der Christus und, als Titulus verstanden, das Kreuz meine; die Zeitangabe der Apk geht dadurch in der Ewigkeit auf, und im Kreuz Christi wird der Feind der Welt gebunden (77, Z. 11-19), eine Interpretation, die allein durch das Siegeskreuz der konstantinischen Wende verstehbar wird (wie der Kommentar 11,8 gedeutet hätte, ist leider verloren). Die 3 x 4 Tore von 21,13 vereinen Trinität und Weltteile (87), und die dreimalige 12 in 21,12 verweist auf die 36 Stunden, die Christus, die (Himmels)"Türe" (nach Joh 10,9), im Grab lag (eine kirchliche Tradition und vielleicht konkreter Einfluss von Augustin, trin. 4,10 = 174,30-32; 86, vgl. 25). In Konsequenz wird das himmlische Jerusalem durchsichtig auf den "coetus sanctorum" (wieder ein Einfluss Augustins, dessen Wege genauer zu prüfen wären), zu dem die irdische Kirche nach dem Willen von Apk 1,4;2-3 aufsteigt (34, vgl. 59 und die mystische Hochzeit nach Apk 19,7 f.: 71) - mit dem Schatten, dass in diesen coetus keinen Eingang findet, wer sich nicht von der Erbschuld reinigen lässt oder Gott falsch ("mendaciter") ehrt (laut S. 93 zu 21,17 der "Iudaeus aut haereticus"; gleichwohl nützt Apringius 2,9; 3,9 nicht für antijudaistische Ausfälle [51.56]).

Überschauen wir die Edition, weisen das 6.-9. Jh. wenig herausragende Interpretationen der Apk auf und ergeben die überkommenen Quellen trotzdem ein eindrückliches Bild. Weil G. uns wesentliche Teile dessen in einer vorzüglichen Edition vor Augen stellt, können wir sie interpretatorisch als Zeugnisse ihrer Zeit und der Wirkungsgeschichte der Apk erarbeiten.