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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

492–494

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Uro, Risto

Titel/Untertitel:

Thomas. Seeking the Historical Context of the Gospel of Thomas.

Verlag:

London-New York: T & T Clark (Continuum) 2003. XII, 186 S. 8. Lw. £ 50,00. ISBN 0-567-08329-2.

Rezensent:

Titus Nagel

Die Forschungslage zum Evangelium nach Thomas (EvTh, NHC II,2) ist in vieler Hinsicht kontrovers. Wer hier einen Zugang sucht und, mehr noch, auf das Angebot eines roten Fadens und neuer Perspektiven hofft, dem sei das Buch von U. empfohlen, dessen Grundstock vier überarbeitete SBL-Tagungsbeiträge von ihm aus den Jahren 1996 bis 2001 bilden.

Es geht U. um einen historisch-kontextuellen Zugang zum EvTh ("Prologue", 1-8). Sein Anliegen ist es nicht, einen allgemein gültigen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis des EvTh vorzulegen (3). Vielmehr will er das EvTh als Teil eines Text- und Bedeutungsnetzes wahrnehmen und damit einen hermeneutischen Rahmen aufweisen, innerhalb dessen Interpretationen des EvTh als sachgemäß gelten können (3-5). In fünf Kapiteln, die verschiedenen Aspekten des EvTh in kontextueller Lektüre sowohl spätantiker Bezugstexte als auch der neueren Thomas-Forschung nachgehen, wird dieser hermeneutische Rahmen abgeschritten, ohne dass dabei der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Als ein weiterer wichtiger Interpretationskontext wäre hier die sprachlich-kulturelle Transmission des EvTh im Zuge seiner Übersetzung ins Koptische zu nennen.

Zunächst ("The secret of Judas Thomas", 8-30) wird das EvTh im Kontext der übrigen Thomas-Literatur (Thomas-Buch [NHC II,7], Thomas-Akten) gelesen. Dabei ergibt sich zum einen, dass die Lokalisierung des EvTh in Ostsyrien (vielleicht Edessa [30]) gute Gründe hat; eine wesentliche Rolle kommt dabei den Traditionen über die geheimnisvolle Figur des Apostels Judas Thomas, des "Zwillingsbruders Jesu", zu, die dort ihren Ursprung haben (10-15). Zum anderen reichen jedoch - bei aller zu konstatierenden Intertextualität zwischen den Thomas-Schriften (15-20) - die Indizien für das Postulat einer Thomas-Schule (20-24) oder einer Thomas-Gemeinde (25 f.) nach U.s Ansicht nicht aus.

Das zweite Kapitel ("Gnosticism without Demiurge?", 31- 53) stellt das EvTh in den Kontext der neueren Gnosis-Diskussion. Um die Komplexität des Gegenstandes zu demonstrieren, führt U. den Dialog des Erlösers (DialSot, NHC III,5) als einen hermeneutischen Bezugstext an, der in gleicher Weise wie das EvTh ambivalent ist: Einerseits sind beide Schriften frei von demiurgisch-kosmologischen Vorstellungen im gnostischen Sinne eines protologischen Dualismus (für DialSot vgl. 35-39, für EvTh vgl. 40-44), zugleich aber insistieren beide, darin "gnosticizing" (52), aber gleichwohl "sound(ing) standard and familiar to many Hellenistic Jews and pagans alike" (53), auf den göttlichen Ursprung des menschlichen Selbst (45.51) und die Möglichkeit seiner Rückkehr (53). Von diesem Befund her plädiert U. dafür, DialSot und EvTh als Belege für die Variationsbreite frühchristlicher kosmologisch-anthropologischer Entwürfe unterhalb eines Aufbrechens monistischer Theologie und innerhalb ihres hellenistischen Umfeldes anzusehen und ernst zu nehmen.

U. nimmt einen "shared sub-cultural intertext" (50) für beide Schriften an. Ob dieser jedoch auch raumzeitlich präzisiert werden kann (Ostsyrien, Datierung von DialSot vor Mitte des 2. Jh.s: 50 f.), ist keineswegs sicher: Für die Lokalisierung gesteht U. dies selbst zu (51); bezüglich seiner Frühdatierung von DialSot auf Grund fehlender Zitate aus dem Neuen Testament ist auf die Analyse von Pierre Létourneau hinzuweisen: Traditions johanniques dans le Dialogue du Sauveur (NH III,5). Museón 110 (1997), 33-61, wonach die Bezüge auf das Joh sich der Vermittlung valentinianischer Exegese (Herakleon) verdanken dürften (a. a. O., 60 f.).

Im dritten Kapitel ("Body and communtiy", 54-79) geht es um die Leib-Vorstellung im EvTh und ihre soziologischen Implikationen. Der für das EvTh oft angenommene negative anthropologische Leib-Seele-Dualismus wird dazu in den Kontext der zeitgenössischen platonisch-stoischen Ein- und Wertschätzung der menschlichen Leiblichkeit gestellt und damit relativiert (55-74). Zugleich zeigt sich, dass Logien wie 112 oder 87, die die Leiblichkeit des Menschen im Verhältnis zur Seele, zum Kosmos oder zur Gemeinschaft reflektieren (58-62), für die soziologische Frage nach der Konsistenz der ursprünglichen Adressatengemeinschaft fruchtbar gemacht werden können (77-79): Im Gegensatz zu Paulus ist die Leibvorstellung im EvTh weniger gruppenorientiert als individual ausgerichtet (78).

Das vierte Kapitel ("Authority and autonomy", 80-105) befragt die Aussagen des EvTh zur apostolischen Autorität von Jakobus und Thomas (Log. 12-13 [84-88]) im Kontext frühchristlicher kybernetischer Konzepte, und zwar vor allem anhand des matthäischen Modells mit seiner ambivalenten Rolle des Petrus (z. B. Mt 16,13-20.21-23) (88-97). Es zeigt sich: Auch wenn beide, EvTh (100-102) und Mt (97-100), autoritätskritische Modelle vertreten, mit denen sie eine Entwicklung hin zur hierarchischen Kirche reflektieren (104 f.), besteht ein entscheidender Unterschied in der Ekklesiologie: Für EvTh realisiert sich Gemeinschaft mit Christus nicht über die Gemeinde (so Mt 18,20), sondern in der autonomen Beziehung des Einzelnen zu Gott (102 f.).

Kapitel 5 ("Orality and textuality", 106-133) zeichnet das EvTh ein in den Kontext der zeitgenössischen "scribal and oral culture" (109 f.). Dieser Zugang hat Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung zwischen EvTh und kanonischen Evangelien ("secondary orality" [88]) und EvTh und Q ("relation of oral texture" [113]) sowie für die kompositions- und redaktionskritische Theoriebildung zum EvTh (118-129), die sowohl den Einfluss der kanonischen Evangelien auf das EvTh als auch dessen Zugang zu von diesen unabhängiger Überlieferung in ein tragfähiges Modell zu integrieren hat (132). Insgesamt ("Epilogue", 134-138) sieht U. die Relevanz des EvTh (Datierung um 100-140 n. Chr. [134 f.]) weniger bei der Suche nach historischer Jesusüberlieferung als für die Geschichte des Christentums im 1. und 2. Jh. (136-138).

Stellen-, Namen- und Sachregister erschließen den Band, der nicht nur einen profunden Überblick zum Thema, sondern auch pointierte Stellungnahmen und Anstöße für die weitere Forschung bietet.