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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

461–463

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Syreeni, Kari

Titel/Untertitel:

Uusi testamentti ja Hermeneutiikka. Tulkinnan fragmentteja.

Verlag:

Helsinki: Suomen Eksegeettinen Seura 1995. VI, 346 S. gr.8 = Suomen Eksegeettisen Seuran Julkaisuja, 61. Kart. FIM 120,-. ISBN 951-9217-16-9.

Rezensent:

Ismo Dunderberg

Das finnische Buch von Kari Syreeni, Ordinarius für Neues Testament in Uppsala, Schweden, faßt in modifizierter Fassung seine Aufsätze aus den Jahren 1987-1994 zusammen, deren Schwerpunkt im hermeneutischen Verständnis des Neuen Testaments liegt.

Im ersten Hauptteil, in dem es um "Grundlagen der Auslegung" (3-82) geht, stellt der Vf. Aspekte der allgemeinen Hermeneutik dar und diskutiert ausführlich andere Versuche über die neutestamentliche Hermeneutik (von Frederik Torm, Peter Stuhlmacher, Hans Weder und Klaus Berger). Anstelle der theologischen Hermeneutik plädiert der Vf. selbst für eine historische Hermeneutik (7), die ihren Platz zwischen der historischen Exegese und der theologischen Aktualisierung habe (84). Laut Vf. ist die Perspektive der historischen Hermeneutik im Vergleich zu der der historisch-kritischen Exegese insofern umfangreicher, als sie auch Leser bzw. Leserin mit in den Verständnisprozeß einbezieht. Der Vf. betont, daß in diesem Prozeß allerdings kein direktes Verständnis des Textes möglich sei; das Verstehen setze immer einen "Mittler" bzw. "hermeneutischen Schlüssel" zwischen dem Text und Leser bzw. Leserin voraus. Da der Verständnisprozeß nicht nur in einem Zirkel (oder in einer Spirale) um Text und Ausleger bzw. Auslegerin kreise, sondern auch durch den Mittler zwischen ihnen, schlägt der Vf. vor, daß man anstatt des üblichen Begriffs vom "hermeneutischen Zirkel" eher über eine "hermeneutische Schleife" handeln solle.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das vom Vf. entworfene Modell der hermeneutischen Auslegung. Der Ausgangspunkt dieses Modells ist die Schichtung der Auslegung. Der Text habe keinen Wert an sich, sondern sei ein Mittel, mit dem der Autor bzw. die Autorin etwas zu vermitteln sucht (46). Deshalb forme die Textualität nur eine Schicht der Auslegung, die auf zwei andere Schichten, die der Ideologien und die der konkreten Lebenswelt, gegründet ist. Aus diesen drei Schichten bestehe die "paradigmatische" bzw. "vertikale" Tiefendimension, die neben der "syntagmatischen" bzw. "horizontalen" Betrachtungsweise, die sich auf die literarische Interpretation des Textes allein konzentriert, beachtet werden müsse.

Dieser Schichtung der Auslegung entspricht das Modell des Vf.s von den "drei Welten der menschlichen Wirklichkeit". In diesem Modell wird zwischen der textuellen, der symbolischen und der konkreten Welt folgendermaßen unterschieden: Die "textuelle Welt" beziehe sich auf die "innere Bedeutung des Textes (oder anderer Kulturobjekte)", während die "symbolische Welt" die ideologische Dimension des Textes und des/der Auslegenden andeute und die "konkrete Welt" für die reale Lebenswirklichkeit der beiden stehe (44-45). Das Modell ist eine einsichtige Kombination aus zwei in verschiedenen Fachgebieten entfalteten Ideen. Einerseits setzt es die in der Literaturwissenschaft übliche Unterscheidung zwischen der literarischen Fiktion und der konkreten Welt voraus, andererseits entnimmt es der von Peter L. Berger und Thomas Luckmann entwickelte Wissenssoziologie die Vorstellung, daß man zwischen der konkreten Lebenswelt und der symbolischen Welt, durch die die Lebenswelt legitimiert wird, unterscheidet. (Im Blick auf das Modell des Vf.s trägt meines Erachtens das dreistufige ontologische Modell von Karl Popper, auf das sich der Vf. in diesem Zusammenhang auch beruft, weniger aus.)

Der zweite Hauptteil besteht aus Einzelstudien, die, der methodischen Einleitung folgend, als "Schleifen der Interpretation" bezeichnet werden (83-333). Die meisten von ihnen sind exegetisch-hermeneutische Untersuchungen zu neutestamentlichen Themen: "Die Theologie und die historische Hermeneutik der Bergpredigt" (83-114); "Das lukanische Doppelwerk als das Evangelium der Paradigmen" (115-142); "Die ,Anwesenheit’ Jesu in den Evangelien" (143-165); "Das Gottesbild der Gleichnisse Jesu" (193-215); "Gesetz und Evangelium als eine hermeneutische Frage" (216-237); "Die größte [unter ihnen] ist die Liebe (1Kor 13)" (238-270); "Die stroherne Epistel? Aspekte zur Gedankenwelt des Jakobusbriefes" (271-301); "Ein offenes Buch: Johannes-Apokalypse und Dekonstruktion" (302-333).

Neben diesen Studien findet sich auch eine theoretische Darstellung der "Hermeneutik der Metapher" (166-192). Die Einzelstudien folgen dem im ersten Hauptteil entwickelten hermeneutischen Modell nicht mechanisch, sondern erhellen seine verschiedenen Teilaspekte. Das theoretische Modell des Vf.s zeigt sich in diesen Studien vor allem dadurch, daß in ihnen relativ viel Raum der Erhellung der Gesamtideologie des jeweiligen Textes und seiner mutmaßlichen Entstehungssituation gewidmet ist.

Im Rahmen der methodischen Diskussion ist es ein spezielles Verdienst des Vf.s, daß er auf die Integration der unterschiedlichen Ansätze der exegetischen Wissenschaft zielt. Zu oft werden in der exegetischen Forschung konträre Alternativpositionen besetzt: Entweder wird der Text unkontrolliert als ein direktes Zeugnis des Alltagslebens bewertet, ohne seine literarische Eigenart hinreichend zu beachten, oder die historisch-soziologische Fragestellung wird auf Kosten der literarischen Analyse des Textes schon von vornherein ausgeklammert. Sowohl das anspruchsvolle hermeneutische Modell des Vf.s als auch seine Einzelstudien spiegeln hingegen einen offenen methodischen Ansatz wider, in dem historische, soziologische und literaturwissenschaftliche Methoden einander nicht ausschließen, sondern ergänzen.

Außerdem ist das hermeneutische Modell des Vf.s so beschaffen, daß es nicht nur in bezug auf die neutestamentlichen Texte, sondern auch für die methodisch reflektierte Interpretation anderer Texte hilfreich sein kann. Dies entspricht auch dem Vorhaben des Vf.s, statt einer speziell theologischen Hermeneutik eine generelle Theorie der humanistischen Hermeneutik zu entwickeln. Dabei betont er kaum zu Unrecht, daß die Voraussetzungen des Verstehens für alle humanistischen Wissenschaften die gleichen seien (5).

Angesichts der großen Bedeutung, die der Vf. der allgemeinen historischen Hermeneutik beimißt, fällt doch auf, wie sehr er sich in seinen Einzelstudien mit theologischen und besonders lutherischen Fragestellungen beschäftigt. So gibt er z. B. als das Ziel einer von seinen Studien an, "das Verhältnis von Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium zu neutestamentlichen Interpretationen zu klären" (218), während der Aufsatz über den Jakobusbrief von Luthers Auslegung dieser Schrift ausgeht und sich in der Studie über 1Kor 13 außer einer detaillierten Exegese des paulinischen Liebesbegriffs und von 1Kor 13 auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Anders Nygren’s These über die göttliche und menschliche Liebe (eros und agape) findet.

Auffallend im Blick auf die hermeneutische Theorie des Vf.s ist auch seine Konzentration auf die Schriften des Neuen Testaments. Daher stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Stellung des neutestamentlichen Kanons im hermeneutischen Ansatz des Vf.s. Auch wenn der Kanon für eine eher theologisch orientierte Hermeneutik ein fast selbstverständlicher Ausgangspunkt wäre, so ist zu fragen, ob er eine notwendige Voraussetzung der historischen Hermeneutik des Vf.s ist. Im Grunde scheint sich der Vf. für die Hermeneutik der "urchristlichen Literatur" auszusprechen (71), doch bleiben seine Überlegungen in bezug auf den Kanon offen, denn er begnügt sich mit der Feststellung, einerseits könne der Kanonbegriff im Rahmen der historischen Hermeneutik insgesamt abgelehnt werden, andererseits sei es allerdings möglich, im Kanon eine tatsächliche geschichtliche Größe zu sehen (68-69).

Das Buch schließt mit einem Sachregister und einer englischen Zusammenfassung (335-346). Da nur zwei von den hier publizierten Aufsätzen auch in englischer Sprache vorliegen, wäre eine englische oder deutsche Übersetzung bzw. Edition dieses Buches, das von methodischer Innovation und sorgfältiger Argumentation geprägt ist, dringend zu wünschen.