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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

471–488

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Fischer, Johannes

Titel/Untertitel:

Moralische und sittliche Orientierung. Eine metaethische Skizze.

Nach verbreiteter Auffassung hat Ethik es mit Moral und mit nichts als Moral zu tun.1 Exemplarisch dafür ist die folgende Antwort auf die Frage "Was ist Ethik?" in dem von Julian Nida-Rümelin herausgegebenen Handbuch für Angewandte Ethik: "Den Ausgangspunkt der Ethik bilden moralische Überzeugungen. Moralische Überzeugungen beziehen sich darauf, was gut ist, welche Handlung moralisch unzulässig ist, welche Verteilung als gerecht gelten kann etc. Die ethische Theorie versucht, allgemeine Kriterien für gut, richtig, gerecht etc. zu entwickeln, die im Einklang sind mit einzelnen unaufgebbar erscheinenden moralischen Überzeugungen und andererseits Orientierung in den Fällen bieten können, in denen unsere moralischen Auffassungen unsicher und sogar widersprüchlich sind."2

Wird der Begriff der Moral in dieser Weise bestimmt, dann deckt die Moral offenbar nicht den gesamten Bereich dessen ab, womit es die praktische Vernunft zu tun hat. Die Meinungen gehen allerdings auseinander bezüglich der Frage, wie derjenige Bereich der praktischen Vernunft zu bestimmen ist, der nicht Moral ist. Jürgen Habermas unterscheidet zwischen dem moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft und einem "ethischen" Gebrauch, bei dem es um Entscheidungen geht, die das Selbstverständnis einer Person berühren und mit ihrer Identität verwoben sind.3 Habermas bringt diesen Gebrauch in Verbindung mit Charles Taylors Begriff der starken Wertung, und er ist von daher der Meinung, dass auch dieser Gebrauch am Guten orientiert ist, freilich nicht in einem moralisch-normativen Sinne, sondern im Sinne der Konzeption eines guten Lebens.4 Insofern sei auch dieser Gebrauch, wenn man dem klassischen Sprachgebrauch folge,5 der Ethik zuzurechnen. In eine andere Richtung führt demgegenüber eine Differenzierung von Harry Frankfurt. Er unterscheidet zwischen der moralischen Frage, wie man sich verhalten soll, und der Frage, worum man sich kümmern soll, die ihm zufolge unsere Existenz in einer ganz anderen Weise betrifft.6 Nur die erste Frage, die es mit den Pflichten zu tun hat, die wir gegenüber anderen haben, fällt für Frankfurt in das Gebiet der Ethik, die zweite Frage beansprucht demgegenüber eine eigene Domäne. Frankfurt verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Fragen am Beispiel einer Mutter, die versucht ist, ihr Kind im Stich zu lassen, und die dies dann doch nicht über sich bringt. Was sie nötigt zu bleiben, ist nicht die moralische Erwägung, dass das Im-Stich-Lassen ihres Kindes schlecht oder falsch ist, es ist auch nicht eine sonstwie geartete Orientierung am Guten, sondern es ist Frankfurt zufolge vielmehr die Bindung durch die Richtung ihres eigenen Willens. Sie kann ihr Kind nicht im Stich lassen, weil sie es im Tiefsten nicht will. Frankfurt spricht diesbezüglich von volitionaler Nötigung. Ein anderes Beispiel, an dem er solche Nötigung illustriert, ist Luthers Ausspruch vor dem Reichstag zu Worms "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Auch hier ist es nach Frankfurts Interpretation nicht die Orientierung am Guten, die Luther am geforderten Widerruf hindert, sondern die Bindung durch den eigenen Willen. Man kann Frankfurts Ausführungen wie eine implizite Kritik an Taylors Konzeption des Selbst lesen, wonach sich dieses über die Orientierung am Guten in Gestalt starker Wertungen aufbaut.7 Folgt man Frankfurts Interpretation, dann hat das Selbst sein Zentrum im Willen, und es tritt daher am Stärksten im Phänomen der volitionalen Nötigung hervor.

Beispiele wie diese legen es nahe, von der moralischen Orientierung eine nichtmoralische praktische Orientierung zu unterscheiden, die im Folgenden sittliche Orientierung genannt werden soll.8 Moralische Urteile sind durch ein Zweifaches gekennzeichnet, durch eine evaluative oder normative Aussage und durch einen intersubjektiven Geltungsanspruch, der qua Urteil für diese Aussage erhoben wird. Mit moralischen Urteilen verständigen wir uns darüber, was in der gemeinsamen sozialen Welt als gut oder schlecht, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht usw. gelten soll. Jene Entscheidung der Mutter dagegen ist mit keinem derartigen Geltungsanspruch auf "gut" oder "richtig" verbunden. Sie resultiert allein aus ihrer Bindung an ihr Kind. Auch wenn ihre Entscheidung zu bleiben moralisch als gut bewertet werden kann, entscheidet die Mutter sich doch nicht deshalb zum Bleiben, weil dies gut ist bzw. weil es einen moralischen Wert hat.

Die Unterscheidung zwischen sittlicher und moralischer Orientierung und die Einsicht in die Eigenständigkeit der Ersteren gegenüber der Letzteren hat gerade in der evangelischen Ethik eine gewisse Tradition. In neuerer Zeit ist hier besonders an Heinz Eduard Tödts "Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung" aus dem Jahr 1988 zu erinnern.9 Theologisch dürfte dies auf eine tiefe Moralskepsis zurückzuführen sein, die dem Protestantismus eingeschrieben ist und die ihre Wurzeln in der Rechtfertigungslehre hat. Folgt doch aus dieser eine radikale Entmoralisierung des Handelns in dem Sinne, dass das Gute nicht um des Guten willen, d. h. weil es einen moralischen Wert hat, sondern um Gottes und des Nächsten willen zu tun ist. Nicht die Liebe zum Guten10 ist hiernach die Quelle des Guten, sondern die Liebe zu Gott und zum Nächsten (Luk 10, 27). Die Unterscheidung zwischen sittlicher und moralischer Orientierung ist daher die Grundunterscheidung schlechthin, an der sich eine jede evangelische Ethik zu orientieren hat.

Freilich findet man diese Unterscheidung nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit konturiert und durchgehalten, und auch bei Tödt bleibt manches klärungsbedürftig. So verwischen sich die begrifflichen Grenzen, wenn Tödt schreibt, dass Handlungen dann sittlich sind, wenn sie "von einem moralischen Bewußtsein begleitet, stimuliert und hinsichtlich ihrer Zielrichtung gesteuert werden".11 Klärungsbedürftig ist vor allem aber der folgende Punkt, der die Beziehung zwischen moralischer und sittlicher Orientierung betrifft. Sowohl Tödts als auch Habermas' als auch Frankfurts Ausführungen legen den Gedanken nahe, dass die sittliche Orientierung auf das je eigene Entscheiden und Handeln beschränkt ist, also auf das, was ich zu tun habe, während die moralische Orientierung sich auf das bezieht, was man tun soll. Das hat zur Konsequenz, dass die sittliche Orientierung für die moralische Orientierung bedeutungslos ist. Denn aus der Einsicht in das, was ich zu tun habe, folgt nichts darüber, was man tun soll.

Gegen diese Beschränkung der sittlichen Orientierung lässt sich einwenden, dass wir nicht nur in Bezug auf unser eigenes Verhalten, sondern auch in Bezug auf das Verhalten anderer unter volitionaler Nötigung stehen können - um es in Frankfurts Terminologie auszudrücken: z. B. unter der Nötigung, uns einem Aggressor entgegenzustellen, der einen Wehrlosen peinigt, und ihn an seinem Tun zu hindern. Die Richtung unseres Willens erstreckt sich offensichtlich auch auf fremdes Verhalten, indem wir diesem zugeneigt oder abgeneigt sind, es begrüßen oder ablehnen, ohne dass damit eine moralische Bewertung als richtig oder falsch, gut oder schlecht verbunden wäre. Die sittliche Orientierung ist folglich in ihrer Reichweite sehr viel umfassender zu denken. Dies ermöglicht es, eine prima facie einleuchtende Beziehung zwischen sittlicher und moralischer Orientierung herzustellen. Ist doch zu vermuten, dass bei der Verständigung darüber, was in der gemeinsamen sozialen Welt als moralisch gut oder schlecht, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht usw. gelten soll, die Richtung unseres Willens - um es gemäß Frankfurts These zu formulieren - eine ausschlaggebende Rolle spielt. Das würde bedeuten, dass sich die moralische Orientierung zu einem wesentlichen Teil, wenn nicht gar gänzlich, aus der sittlichen Orientierung speist. Das wiederum hätte für das Verständnis der Ethik zur Konsequenz, dass diese sich nicht auf Moralreflexion beschränken lässt, sondern dass sie die sittliche Orientierung als Grundlage der moralischen Orientierung mit einbeziehen muss. Ob dabei die sittliche Orientierung tatsächlich im Willen gründet, wie Frankfurt unterstellt, wird allerdings noch zu fragen sein.

Damit ist umrissen, worum es in den folgenden Überlegungen gehen soll. Sie haben ein zweifaches Ziel, nämlich einerseits den Unterschied zwischen moralischer und sittlicher Orientierung herauszuarbeiten und andererseits die Beziehung zwischen beiden Arten von Orientierung zu verdeutlichen. Ich nehme dazu die moralische Orientierung zum Ausgangspunkt, um von dieser Seite her die Schnittstelle zur sittlichen Orientierung zu identifizieren. Das ist insofern kein einfaches Unterfangen, als in Bezug auf die Theorie der Moral so gut wie alles strittig ist. In dieser Situation muss sich die Darstellung darauf beschränken, die metaethischen Alternativen und Grundentscheidungen zu markieren und gewisse Plausibilitätsgründe für die gewählten Optionen anzugeben, ohne dass im Rahmen dieses Aufsatzes der letzte Beweis für diese angetreten werden kann. Insofern hat das Folgende den Charakter einer Skizze, die einen Überblick darüber gibt, welche Probleme hier im Detail zu bearbeiten sind. Ich habe die im Folgenden eingenommene Position an anderer Stelle ausführlich begründet und muss den Leser, der Genaueres darüber wissen möchte, hierauf verweisen.12

II.

Die erste metaethische Grundentscheidung betrifft die Frage, ob Äußerungen moralischen Inhalts überhaupt den Status von Urteilen haben, d. h. wahr oder falsch sein können.13 Die metaethische Position des Nonkognitivismus bestreitet dies. Ihr zufolge handelt es sich bei solchen Äußerungen um die Expression von Gefühlen oder um den Versuch, die Gefühle und Einstellungen anderer zu beeinflussen, oder nach einer anderen Version um die Abgabe von Empfehlungen. Hat der Nonkognitivismus Recht, dann kann es bezüglich moralischer Wertungen keine wirklichen Kontroversen geben. Wir können dann nur konstatieren, dass sich unsere Gefühle, Beeinflussungsversuche und Empfehlungen unterscheiden. Aber es gibt in Bezug auf sie kein wahr oder falsch bzw. richtig oder falsch. Kritiker des Nonkognitivismus machen geltend, dass dies kontraintuitiv ist, da wir offensichtlich Kontroversen über die moralische Zulässigkeit von Embryonenforschung, von aktiver Sterbehilfe und anderem mehr führen. Ohne dass hier auf diese Debatte näher eingegangen werden kann, sei im Folgenden unterstellt, dass moralische Wertungen Urteilscharakter haben und wahr oder falsch sein können. Das entspricht heute einem weitgehenden Konsens.

Die zweite für das Verständnis moralischer Orientierung und Urteilsfindung eminent folgenreiche metaethische Grundentscheidung betrifft die Frage, ob moralische Urteile einen urteilstranszendenten Bezugspunkt haben oder ob sie ihre evaluative bzw. normative Geltung wechselseitig voneinander ableiten, wobei auch empirische und begriffliche Urteile in diese Ableitungsbeziehung eingehen können. Letztere Auffassung liegt kohärentistischen Ansätzen zu Grunde.14 Ihnen zufolge bezieht ein moralisches Urteil seine Geltung daraus, dass es sich logisch konsistent in den Gesamtzusammenhang der Urteile eines Überzeugungssystems einfügt.

In der Tat stehen unsere moralischen Urteile in einem logischen Zusammenhang, der über ihre Begründung gestiftet ist. Wenn das Verbot der verbrauchenden Forschung an Embryonen damit begründet wird, dass das menschliche Leben von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an schutzwürdig ist, dann folgt aus dieser Begründung, dass auch die Empfängnisverhütung mittels der Spirale moralisch unzulässig ist, sofern dadurch Embryonen an der Einnistung gehindert und zum Absterben gebracht werden. Hält man Letzteres für zulässig, dann hat dies logisch zwingend Rückwirkungen auf die These von der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens von Anfang an, mit der das Verbot der Embryonenforschung begründet wird.15 Das Beispiel verdeutlicht, dass die Herstellung logischer Kohärenz ein wesentlicher Bestandteil aller moralischen Urteilsfindung ist. Beim Nachdenken über moralische Probleme sehen wir uns nicht selten mit der Frage konfrontiert, inwiefern wir unter Berufung auf eine bestimmte Begründung in diesem Fall so urteilen können, wenn wir doch in Widerspruch zu dieser Begründung in anderen Fällen ganz anders urteilen. Das Beispiel verdeutlicht zugleich, dass die Herstellung logischer Konsistenz nicht nur top down in einer Richtung verläuft, sondern dass moralische Prinzipien und Urteile sich wechselseitig korrigieren können. Konsistenz kann in diesem Beispiel hergestellt werden, indem entweder das Prinzip der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens von Anfang an oder aber das Urteil über die Zulässigkeit der Empfängnisverhütung mittels der Spirale revidiert wird.

Die für unseren Zusammenhang entscheidende Frage ist nun, ob moralische Urteile ihre Geltung allein aus ihrer kohärenten Einbettung in die Urteile eines Überzeugungssystems beziehen. Wäre es so, dann könnte ein moralisches Urteil, das im Widerspruch zu einem vorhandenen Überzeugungssystem steht, niemals zu dessen Revision und Korrektur führen. Denn es müsste nach kohärentistischer Voraussetzung als falsch gelten. Dagegen spricht jedoch, dass sich ein moralisches Urteil unserer Erkenntnis sehr wohl als wahr aufdrängen kann, obgleich es mit unserem vorhandenen Überzeugungssystem inkompatibel ist, mit der Folge, dass das Überzeugungssystem korrigiert und mit dem Urteil kompatibel gemacht werden muss. Man denke sich den Fall, dass jemand der Auffassung ist, dass ein Schwangerschaftsabbruch unter allen Umständen moralisch unzulässig ist, weil menschliches Leben nicht angetastet werden darf. Er erlebt nun in seiner näheren Umgebung einen Schwangerschaftskonflikt, unter dessen Eindruck er zu der Einsicht kommt, dass in diesem Fall ein Schwangerschaftsabbruch moralisch nicht verurteilt werden kann. Er sieht sich also genötigt, auf Grund des Einzelfallurteils "Dieser Schwangerschaftsabbruch ist moralisch nicht zu verurteilen" die Regel "Schwangerschaftsabbrüche sind immer und unter allen Umständen moralisch zu verurteilen" zu korrigieren. Die Geltung seiner neuen Einsicht leitet sich in diesem Fall nicht aus ihrer kohärenten Einordnung in die Urteile seines Überzeugungssystems ab, sondern es ist umgekehrt die Veränderung seines Überzeugungssystems eine Folge seiner neuen Einsicht. Es kennzeichnet gerade rigide und hermetisch geschlossene Überzeugungssysteme, dass sie die Anerkennung der Geltung von Urteilen davon abhängig machen, dass sich diese kohärent in sie einfügen und sie nicht etwa in Frage stellen.

Beispiele wie dieses sprechen für die These, dass moralische Urteile auch einen urteilstranszendenten Bezugspunkt haben, von dem her sie einen solchen Grad an Evidenz und Gewissheit beziehen können, dass sie sich gegen bisher geltende Überzeugungen durchzusetzen vermögen. Wenn dem so ist, dann greift ein einseitig kohärentistisches Modell moralischer Geltung bzw. Wahrheit zu kurz. Im Folgenden wird unterstellt, dass moralische Urteile einen urteilstranszendenten Bezugspunkt haben.

Die dritte metaethische Grundentscheidung betrifft die Frage, von welcher Art dieser urteilstranszendente Bezugspunkt moralischer Urteile ist. Gemäß der heute dominierenden Position des "moralischen Realismus"16 handelt es sich bei diesem Bezugspunkt um moralische Tatsachen. Ihre vordergründige Plausibilität bezieht diese Auffassung aus einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsmodell, wonach wahren Aussagen Tatsachen korrespondieren, die sie wahr machen. Strittig ist unter den moralischen Realisten, welcher Art diese Tatsachen sind. Die Position des metaethischen Naturalismus rechnet mit "natürlichen" Tatsachen als Wahrheitsbedingung moralischer Urteile, wobei die Frage, was genau in diesem Zusammenhang "natürlich" heißt, selbst Gegenstand der Diskussion ist. Ein Beispiel für die Naturalisierungsstrategie ist der Versuch, das moralische Urteil "X ist gut" als sachidentisch mit dem deskriptiven Urteil "X liegt im Interesse von Y" zu erweisen.17 Nichtnaturalistische Positionen rechnen demgegenüber mit evaluativen und normativen Tatsachen. Das Urteil "Abtreibung ist moralisch verwerflich" hat hiernach seine Wahrheitsbedingung in der Tatsache der moralischen Verwerflichkeit der Abtreibung, die unabhängig von unseren subjektiven Meinungen darüber existiert und die auch existieren würde, wenn niemand sie je erkennen würde. Nach dieser Auffassung kommt moralischen Wertqualitäten eine genauso objektive Realität zu wie empirischen Eigenschaften, also etwa der Kugelform der Erde. Einer anderen realistischen Variante zufolge sind moralische Wertqualitäten in Analogie zu sekundären Qualitäten wie Farben zu begreifen, die wir auf Grund des Zusammentreffens der objektiven Beschaffenheit eines Licht reflektierenden Gegenstandes mit der Beschaffenheit unseres Sehapparates erkennen.18 Nach dieser Version gibt es moralischen Wert nicht ohne Beteiligung eines wahrnehmenden Subjektes, wenn er auch seine Grundlage in der objektiven Beschaffenheit von Handlungen oder Situationen hat. Diese Auffassung versucht zugleich eine Antwort zu geben auf die epistemische Frage, wie wir denn moralische Tatsachen, wenn es sie gibt, erkennen können.

Es ist auch hier nicht möglich, in die Einzelheiten der äußerst differenzierten Debatte einzutreten. Es sei hier lediglich der Grund genannt, weshalb im Folgenden der realistischen Option nicht gefolgt wird. Kritisch lässt sich gegen sie einwenden, dass sie mit der Unterscheidung zwischen "subjektiv" und "objektiv" eine Differenzierung, die in der Reflexion auf das moralische Urteil auftritt, in die basale Perspektive des Urteils selbst projiziert, indem sie unterstellt, dass dieses auf objektive Tatsachen bezogen ist. In der Reflexion beziehen wir uns auf uns selbst als moralisch Urteilende, und wir können unser Urteil in Verbindung bringen mit "subjektiven" Faktoren wie Gefühlen, Wünschen, Willensregungen usw., die bei unserem Urteil beteiligt sind, sowie mit "objektiven", von uns und unserem Urteil unterschiedenen Merkmalen der beurteilten Handlung oder Situation. Aber dies trifft nicht die basale Perspektive des moralischen Urteils. Bei diesem sind wir intentional nicht auf uns selbst gerichtet, mithin auch nicht auf anderes als von uns und unserem Urteil Unterschiedenes und in diesem Sinne Objektives. Wir sind vielmehr auf die Situation oder Handlung gerichtet. Die für das Verständnis des moralischen Urteils zentrale und entscheidende Frage ist, was genau es ist, das uns in der basalen Perspektive des Urteils gut oder schlecht urteilen lässt. Die Tatsache, dass in der Reflexion das moralische Urteil sowohl zu subjektiven Faktoren als auch zu objektiven Faktoren der Situation oder Handlung in Beziehung gesetzt werden kann, deutet darauf hin, dass es sich bei dem Gesuchten um etwas handelt, das auf der vorreflexiven Ebene beide Seiten umfasst. Dies legt es nahe, die erlebte Situation bzw. Handlung, die als erlebte den Erlebenden miteinschließt, als den urteilstranszendenten Bezugspunkt moralischer Urteile anzunehmen. Dabei ist nicht nur an das reale, sondern auch an das im Vorstellen sich vollziehende Erleben zu denken. Im Unterschied zur Analogie der sekundären Qualitäten in Gestalt von Farben ist hier der Urteilende als Person involviert, was sich daran zeigt, dass er in der Reflexion sein Urteil in Verbindung bringen kann mit Gefühlen wie Sympathie, Abscheu oder Empörung.

Folgt man dieser Linie - und natürlich bedürfte dies einer viel eingehenderen Begründung, als sie im Rahmen dieser Skizze gegeben werden kann -, dann hat die Moral ihren urteilstranszendenten Bezugspunkt weder in subjektiven Faktoren, die wir uns in der Reflexion zuschreiben, wie Gefühlen, Wünschen, Einstellungen usw. noch in objektiven Faktoren in Gestalt moralischer Tatsachen. Die erlebte bzw. widerfahrende Situation oder Handlung entzieht sich dieser aus der Perspektive der Reflexion getroffenen Aufspaltung. Gewiss, ex post können wir beschreiben, wie es uns subjektiv ergangen ist: die Gefühle, die wir in diesem Augenblick empfunden haben, die Gedanken, die wir hatten. Doch setzt solche Selbstzuschreibung von Gefühlen und Gedanken bereits die Distanz der Reflexion auf das Erlebte voraus, die es erlaubt, erlebendes Subjekt und erlebte Situation voneinander zu unterscheiden und objektive Merkmale der Situation und subjektive Reaktionen einander zuzuordnen. Im Augenblick des Erlebens fehlt diese Distanz. Um dasjenige zu bezeichnen, was in diesem Augenblick unser moralisches Urteil lenkt und uns gut oder schlecht urteilen lässt, hat sich in der metaethischen Debatte der Begriff der Intuition eingebürgert.

Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, dass auch dieser Begriff einen subjektiven mentalen Zustand bezeichnet und sich insofern nicht prinzipiell von Gefühlen oder Gedanken unterscheidet. Das hängt damit zusammen, dass er in der Regel prädikativ gebraucht wird im Sinne der Aussage "X hat die Intuition, dass p"19 und in diesem Gebrauch mit einer subjektiven Überzeugung gleichgesetzt wird. Doch lässt sich hier fragen, was eine intuitive Überzeugung von anderen Überzeugungen unterscheidet, wenn nicht die Tatsache, dass sie intuitiv ist. Das bedeutet, dass der Begriff, recht verstanden, adverbial zu gebrauchen ist und in diesem Gebrauch etwas über die Art des Zustandekommens eines Urteils, einer Überzeugung oder einer Handlung aussagt: "X urteilt intuitiv, dass p." Der Begriff sagt mit anderen Worten etwas über das Urteilen aus und nicht über urteilende Subjekte und deren mentale Zustände. Vielleicht wird man einwenden, dass beim intuitiven Urteil doch innere Zustände wie Überzeugungen, Einstellungen oder Gefühle ursächlich mit beteiligt sind. Doch lässt sich demgegenüber fragen, ob die reflexive Selbstzuschreibung von subjektiven Zuständen nicht sekundär ist gegenüber dem ursprünglichen Eingenommensein durch die widerfahrende bzw. erlebte Situation. Wir sehen, wie ein Aggressor einen Wehrlosen peinigt, und sind intuitiv in Anspannung und Bewegung, noch bevor wir reflexiv dessen inne werden, dass wir in Anspannung und Bewegung sind, was wir dabei fühlen, denken usw.

Die Neurobiologie hat wahrscheinlich gemacht, dass der intuitive Antrieb in einem entwicklungsgeschichtlich älteren Teil des Gehirns lokalisiert ist, der dem Menschen mit höher entwickelten Tieren gemeinsam ist. Dort lassen sich verschiedene psychomotorische Zentren ausmachen, die in Reaktion auf entsprechende Situationen bestimmte Verhaltensweisen - Fürsorge, Fluchtverhalten usw. - steuern, und zwar in einer Weise, die aller Reflexion unvordenklich vorausliegt. Dies stützt die These, dass der Bereich des Intuitiven von allem zu unterscheiden ist, was wir uns reflexiv als Gefühl, Überzeugung usw. zuschreiben.

Ein Vorzug der hier skizzierten Auffassung liegt darin, dass sie einen Bestandteil von Moraldiskursen erhellen und verständlich machen kann, der sowohl bei einer einseitig kohärentistischen als auch bei einer realistischen Moralauffassung außerhalb des Blickfelds bleibt. Gemeint ist die diskursive Bedeutung der Narrativität. Es ist in Debatten über moralische Fragen eine häufig zu beobachtende Strategie, dass wir einem Anderen einen konkreten Fall - z. B. eines Schwangerschaftskonfliktes - vor Augen führen, indem wir davon erzählen, um ihn in der Vorstellung mit dessen Erlebnisqualität zu konfrontieren und auf diese Weise sein intuitives Urteil zu beeinflussen. Wir setzen einander solchermaßen dem Test aus, ob wir eine moralische Überzeugung auch unter dem Eindruck eines solchen Falles noch aufrechterhalten können. Auf diese Weise werden unsere moralischen Überzeugungen an die Lebenswirklichkeit zurückgebunden und an den Situationen überprüft, mit denen Menschen tatsächlich konfrontiert sind und in denen sie entscheiden und handeln müssen. Einseitig kohärentistischen Ansätzen und überhaupt Moralauffassungen, die keinen urteilstranszendenten Bezugspunkt der Moral kennen, fehlt jede solche Rückbindung und realistische Moralauffassungen, die die Sphäre der Moral als ein Universum von Tatsachen denken, haben keinen Bezug zur Narrativität. Denn im Unterschied zu einem Bericht bildet diese nicht die Tatsächlichkeit der Wirklichkeit ab, sondern lässt vielmehr an der Wirklichkeit teilhaben, wie sie sich dem Erleben darbietet bzw. widerfährt.20

Bei manchen rationalistisch eingestellten Ethikern kann man freilich auf Argwohn treffen bezüglich dieser Rolle der Narrativität in Moraldiskursen. Sie steht unter Verdacht, ein bloß manipulativer Appell an die Betroffenheit zu sein. Dass sie in dieser Weise eingesetzt und strategisch auf subjektive Betroffenheitsgefühle beim Adressaten abgestellt werden kann, soll nicht bestritten werden. Doch muss sie nicht so eingesetzt werden. Es gilt hier zu sehen, dass die narrative Vergegenwärtigung einer Situation für das imaginative Miterleben die betreffende Situation unter genau dem Aspekt präsentiert, unter dem sie für das Leben derjenigen Menschen Bedeutung hat, die sich in dieser Situation befinden, d. h. die sie erleben, erleiden, sich an ihr freuen oder die durch sie vor eine existentielle Entscheidung gestellt werden. Würde man die Narrativität aus Moraldiskursen verbannen, dann würde man damit eben dasjenige aus ihnen verbannen, was uns die Bedeutsamkeit von Situationen oder Handlungen für die davon betroffenen Menschen nahe bringt und einschätzen lässt.

Es sei hier nur am Rande notiert, dass die Frage, ob der urteilstranszendente Bezugspunkt evaluativer Urteile die Gestalt von Tatsachen oder von widerfahrender bzw. erlebter Wirklichkeit hat, auch weitreichende theologische Implikationen hat. Ist eine Aussage wie Mk 10,18, wonach allein Gott gut ist, in einem realistischen Sinne zu interpretieren? Ist also das Gutsein Gottes im Sinne einer objektiven Tatsache zu begreifen, welche Gott unabhängig von allem menschlichen Wahrnehmen und Meinen zukommt? Oder drückt sich in der Rede von der Güte Gottes aus, wie Gott von Menschen erfahren wird als der, der sich hinabbeugt zu den Niedrigen und Schwachen, der aus dem Tod errettet usw.? Solche Formulierungen evozieren Vorstellungen, die das intuitive Urteil "gut" auf sich ziehen. Es ist in diesem Zusammenhang an Luthers reformatorische Einsicht zu erinnern, dass Ausdrücke wie Gerechtigkeit Gottes, Heiligkeit Gottes oder Güte Gottes nicht Gott beschreiben, wie er in sich ist, sondern vielmehr artikulieren, wie Gott sich dem Menschen mitteilt, nämlich als der, der gerecht, heilig oder gut macht.21 Man kann noch weitergehen und fragen, ob nicht alle - also nicht nur die evaluativen - Fundamentalaussagen des christlichen Glaubens wie etwa "Herr ist Jesus (Christus)" (Röm 10,9 u. ö.) oder "Er (Jesus Christus) ist auferstanden" (Mt 28,6 u. ö.) in dem Sinne aufzufassen sind, dass sie nicht Tatsachen konstatieren, sondern erlebte bzw. widerfahrende Wirklichkeit artikulieren. Das hat dann Konsequenzen für das Verständnis der Wahrheit solcher Aussagen.22 Der Mainstream heutiger Theologie scheint freilich eher realistisch orientiert zu sein.23

Mit dem Begriff der Intuition ist nun offenbar die Schnittstelle erreicht zwischen moralischer und sittlicher Orientierung. Es wurde bislang bewusst nicht von moralischen Intuitionen gesprochen, denn die intuitive Reaktion auf eine Situation oder Handlung kann zwar, muss aber nicht in einem moralischen Urteil bestehen. Sie muss überhaupt nicht in einem Urteil irgendwelcher Art bestehen, sondern sie kann unmittelbar in eine Handlung oder in ein bestimmtes Verhalten münden wie im Beispiel des Aggressors, der einen Wehrlosen peinigt und dem wir uns spontan entgegenstellen. Statt von moralischen Intuitionen soll daher von sittlichen Intuitionen gesprochen werden. Sie bilden gemäß der hier gezeichneten Skizze den urteilstranszendenten Bezugspunkt moralischer Urteile. Das bedeutet, dass die moralische Orientierung in der sittlichen Orientierung wurzelt.



III.

Wie ist nun die sittliche Orientierung näherhin zu denken? Zunächst ist auf eine offen gebliebene Frage aus der Einleitung zurückzukommen, nämlich auf Harry Frankfurts Akzentuierung des Willens bei der Beschreibung jener Art von Orientierung, die er von der moralischen abgrenzt. Sie hat hiernach ihre Wurzeln in etwas, das wir von Subjekten prädizieren und als Teil ihres Selbst betrachten. Und nicht nur dies, sie ist nach Frankfurts Beschreibung primär auch auf das Selbst bezogen. Er unterscheidet nämlich die moralische Frage, wie man sich verhalten soll, und die Frage, worum man sich kümmern soll, in der Weise, dass die erste es mit dem Problem der Regelung der Beziehungen zu tun hat, die wir zu anderen Menschen unterhalten, während die zweite sich dafür interessiert, wie wir mit uns selbst umgehen sollen, wozu wir verstehen müssen, was uns wesentlich ist.24 Hierfür kommt nach Frankfurts Meinung der Richtung des Willens ausschlaggebende Bedeutung zu. Die volitionale Nötigung, unter der jene Mutter steht, ist der stärkste Ausdruck dessen, was ihr wesentlich ist und worum sie sich folglich kümmern soll.

Doch wirft gerade dieses Beispiel Rückfragen auf. Geht es bei dem Entscheidungskonflikt jener Mutter wirklich um die Frage, wie sie mit sich selbst umgehen soll? Wenn man sie fragen würde, warum sie bei dem Kind bleibt, würde sie dann nicht antworten: um des Kindes willen, statt: um ihrer selbst willen? Kennzeichnet es nicht das Phänomen des Sich-Sorgens um etwas, dass in der intentionalen Perspektive der sich-sorgenden Person der Gegenstand ihrer Sorge der primäre Grund ist für ihr Verhalten und nicht sie selbst? Gewiss ist es denkbar, dass die Mutter auf jene Frage antwortet: Wenn ich mein Kind im Stich gelassen hätte, dann hätte ich damit nicht leben können. Aber warum hätte sie damit nicht leben können? Doch wohl, weil sie ihr Kind im Stich gelassen hätte.

An Frankfurts Ausführungen zeigt sich ein Problem, das überall da virulent wird, wo die Grundlage der sittlichen Orientierung in subjektiven Zuständen aufgesucht wird, im Willen, im Selbst, in Gefühlen, Bedürfnissen, Interessen usw. Die sittliche Nötigung, in einer bestimmten Weise zu handeln, geht dann nicht von der erlebten Situation aus in dem Sinne, dass diese gewissermaßen nach der Handlung ruft, sondern von der eigenen Subjektivität, und so verwandelt sich die sittliche Orientierung in Selbstsorge. Indem wir tun, was uns wesentlich ist bzw. wozu wir durch uns selbst genötigt sind, kümmern wir uns zuerst um uns selbst und um anderes nur insoweit, wie wir uns auf Grund unserer eigenen Disposition darum kümmern müssen. Demgegenüber zeigen Frankfurts eigene Ausführungen und Beispiele, entgegen der Interpretation, die er ihnen angedeihen lässt, dass das Selbst sich gerade im Wegschauen von sich selbst und im Sich-Sorgen um anderes entwickelt. Grenzenlose Selbstzentriertheit lässt das Selbst kollabieren.

Nach der hier gezeichneten Skizze ist Frankfurts Beispiel so zu interpretieren, dass die Nötigung, bei dem Kind zu bleiben, von der erlebten oder in der Vorstellung antizipierten Situation des Verlassens des Kindes ausgeht. Die intuitive Wirkung dieser Situation ist es, die zum Bleiben bewegt, und weil sie von dieser Bewegung ergriffen ist, ist die Mutter außer Stande, sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen und das Kind im Stich zu lassen.

Ein ähnliches Problem wie bei Frankfurt begegnet in Tödts "Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung". Dort wird der Begriff des sittlichen Urteils geradezu über eine Reflexionsbestimmung eingeführt, nämlich als ein Sich-Verhalten-zu, das als sittliches sein Kriterium in dem hat, was den Sich-Verhaltenden "in seinem Wirklichkeitsverständnis unbedingt angeht".25 Das ist für Tödt die personale Existenz und deren Einheit in der Vielfalt ihrer Bezüge, "so daß als sittlich nur gilt, was mit ihr in Übereinstimmung steht".26 Auch hiernach hat die sittliche Orientierung ihre Grundlage und ihr Kriterium in der Subjektivität.

Die Beispiele ließen sich vermehren.27 In allen diesen Beispielen wird die sittliche Orientierung nicht von ihrer eigenen basalen Perspektive her begriffen, sondern sie wird über Reflexionsbestimmungen - Wille, Einheit der Person, Gewissheit usw. - konstruiert. Demgegenüber gilt es zu sehen, dass die sittliche Orientierung, indem sie durch widerfahrende bzw. erlebte Handlungen und Situationen bestimmt ist, sich der Verortung in der Subjektivität entzieht. Es ist, reflexiv betrachtet, gleichermaßen die erlebte Situation wie das Erleben der Situation, wodurch das intuitive Verhalten ausgelöst wird, ohne dass dies entweder auf das eine oder auf das andere verrechnet werden könnte. In der vorreflexiven basalen Perspektive steht sogar nur die Situation vor Augen, die zu einem entsprechenden Verhalten bewegt und uns gewissermaßen zuspielt, was wir hier und jetzt zu tun haben.28

Was nun des Näheren die Struktur der sittlichen Orientierung betrifft, so müssen drei Ebenen unterschieden werden, auf denen sie sich bewegt: das Erleben, die Artikulation des Erlebten und das Verstehen des solchermaßen Artikulierten.29 Was zunächst das Erleben angeht, so hat die sittliche Intuition offenbar die Struktur, dass nicht einfach etwas, sondern vielmehr etwas in etwas erlebt wird, nämlich das Vorhandensein oder auch das Fehlen von etwas im Vollzug oder Geschehen von etwas anderem. So kann eine Handlung liebevoll oder lieblos, freundlich oder unfreundlich vollzogen werden und je nachdem sind wir ihr intuitiv zugeneigt oder abgeneigt. Oder, um ein anderes Beispiel zu geben: Wir erleben, wie eine Gruppe von Rowdies einen wehrlosen Jugendlichen misshandelt und wie keiner der umstehenden Passanten diesem zu Hilfe kommt und somit dasjenige ausbleibt, was hier geschehen müsste. Auch das berührt unsere sittliche Intuition und lässt uns negativ auf das Verhalten jener Passanten reagieren. Die Beispiele verdeutlichen, dass wir in der sittlichen Perzeption Situationen und Handlungen zweifach erleben, einmal die Situation bzw. Handlung selbst und zum anderen das, was in und mit ihr geschieht oder eben nicht geschieht. An Letzterem macht sich die intuitive Bewertung des Ersteren fest.

Es ist diese Struktur des Etwas-in-etwas-Erlebens, die in der tugendethischen These aufgenommen wird, dass dasjenige, was uns eine Handlung oder ein Verhalten als gut oder schlecht bewerten lässt, die Haltung des Handelnden ist, die wir in der Handlung erleben.30 Doch ist zu fragen, ob diese These nicht aus zwei Gründen zu kurz greift. Das, was wir in dem Verhalten jener Passanten erleben und was uns diesem gegenüber negativ eingestellt macht, ist das Ausbleiben des durch die Situation geforderten Eingreifens. Erst sekundär verbinden wir damit eine Haltung wie Gleichgültigkeit oder fehlende Zivilcourage. Zum anderen ist zu fragen, ob nicht dasjenige, worauf sich die intuitive Perzeption bezieht, der propositionalen Strukturierung und somit der Zuschreibung als Haltung oder Tugend vorausliegt und in der Gerichtetheit eines Geschehensverlaufs besteht, der in dem betreffenden Verhalten entweder realisiert oder nicht realisiert wird. Dafür spricht, dass auch höher entwickelte Tiere, die über keine Sprache verfügen, offenbar zu intuitiver Perzeption fähig sind.

Die Struktur des Etwas-in-etwas-Erlebens setzt eine bestimmte "Einstellung" der intuitiven Perzeption voraus auf das, was in anderem gegenwärtig ist oder fehlt, z. B. auf ein bestimmtes situationsangemessenes Verhalten, das entweder stattfindet oder ausbleibt. Die Frage ist, wie solche Einstellung sich formt und bildet. Auf einer elementaren, auch bei höher entwickelten Tieren anzutreffenden Stufe dürfte hier prägend sein, wie das eigene Lebensumfeld erlebt wird. So prägt die Art und Weise, wie Menschen im eigenen Lebensumfeld miteinander umgehen, die intuitive Vorstellung davon, welches Verhalten einem Menschen gegenüber angemessen ist, so dass wir dort, wo dieser Vorstellung zuwider gehandelt wird, intuitiv aufgeschreckt sind. Man braucht sich zum Kontrast nur Kinder und Jugendliche in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten zu vergegenwärtigen, in denen das Quälen, Erniedrigen und Töten von Menschen alltäglich ist. Sie entwickeln andere Intuitionen davon, was einem Menschen angemessen oder unangemessen ist. Kants Überlegungen zu Pflichten, die wir in Ansehung von Tieren haben, trägt diesem Aspekt Rechnung, dass wir unsere Intuition vor Verrohung schützen müssen, indem wir bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen moralisch ächten oder auch rechtlich verbieten, die uns durch bloße Gewöhnung sittlich desensibilisieren würden.

Auf einer zweiten Stufe kommt die Prägung der Intuition über die Imagination hinzu mittels narrativer Medien sprachlicher oder bildhafter Art. Auch hierdurch werden Intuitionen davon vermittelt, welches Handeln und Verhalten in Situationen einer bestimmten Art angemessen oder unangemessen ist. Diesbezüglich kommt nicht zuletzt den religiösen Überlieferungen fundamentale Bedeutung zu. In der Prägung über die Imagination liegen schier unbegrenzte Möglichkeiten der Bildung der sittlichen Sensibilität, und sie kann ein wichtiges Korrektiv darstellen gegenüber der Prägung durch die faktisch erlebte Realität.

Es ist in der Struktur des Etwas-in-etwas-Erlebens enthalten, dass nach der Sachgemäßheit von Intuitionen gefragt werden kann: Ist dasjenige, was in etwas Anderem erlebt oder in der Vorstellung mit diesem assoziiert wird, in diesem Anderen tatsächlich enthalten? Wenn etwa in Deutschland die fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen, wie sie durch die Bioethikkonvention des Europarates zugelassen wird, mit Szenarien der NS-Medizin assoziiert wird, dann ist zu fragen, ob dies angesichts der strengen Kautelen, an die solche Forschung in der Bioethikkonvention gebunden wird, sachlich angemessen ist. Hier wird offenbar etwas in etwas gesehen, das darin so nicht enthalten ist.

Was nun die zweite Ebene der sittlichen Orientierung betrifft, so sind Begriffe wie Freundlichkeit, Güte, Barmherzigkeit, Liebe, Würde, aber auch Lieblosigkeit, Grausamkeit, Erniedrigung, Feindschaft usw. sprachliche Artikulationen dessen, was der Etwas-in-etwas-Erlebens-Struktur entsprechend in Handlungen und Situationen erlebt wird und worauf die sittliche Intuition positiv oder negativ, zustimmend oder ablehnend eingestellt ist. Wobei dieses Eingestelltsein seinerseits etwas ist, das von anderen in unserem Verhalten erlebt wird und das dementsprechend ebenfalls unter diese Artikulationen fällt. Ihr Mehrwert an Orientierung liegt darin, dass sie das, worauf die intuitive Perzeption gerichtet ist, ins Bewusstsein heben und damit zu einem möglichen Gegenstand von Reflexion machen. Solche Artikulationen haben nicht bloß privaten Charakter, sondern wir teilen uns darin den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft mit. Im Blick auf ihre tugendethische Interpretation als "Haltungen" muss man sich, wie gesagt, gegenwärtig halten, dass sie sich ursprünglich auf Verhaltens- und Geschehensverläufe beziehen, deren Gerichtetheit als Fürsorglichkeit, Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Grausamkeit usw. sie artikulieren. Innerhalb der christlichen Tradition ist für diesen Sachverhalt die Erzählung Luk 10,30-35 paradigmatisch geworden, die die Gerichtetheit eines Handlungsverlaufs als "Liebe zum Nächsten" vor Augen stellt, der nicht einfach auf eine "Haltung" reduziert werden kann.

Auf der dritten Ebene des Verstehens geht es darum, dasjenige zu erfassen und zu explizieren, was durch solche Artikulationen bezeichnet wird. Deren Auslegung ist dabei selbst Weiterarbeit an der Artikulation und sie muss sich dazu immer wieder zurückbeziehen auf die erste Ebene des Erlebens, indem exemplarisches Geschehen vergegenwärtigt wird, an dem überprüft wird, ob eine bestimmte Explikation mit unserer sittlichen Intuition - bzw. mit den Quellen, aus denen diese sich speist - übereinstimmt.

Auf dieser dritten Ebene kommt es zu sittlichen Urteilen, zum Beispiel im Hinblick darauf, ob eine bestimmte Handlung als Verletzung der Würde eines Menschen aufzufassen ist oder wie eine gegebene Situation oder Handlung aus der Sicht christlicher Liebe zu beurteilen ist. Ersichtlich unterscheiden sich derartige Urteile von moralischen Urteilen. Sie sagen nicht, dass ein bestimmtes Handeln oder Verhalten gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, sondern sie beschränken sich darauf, die Implikationen sittlicher Leitorientierungen für das Verhalten in gegebenen Situationen zu verdeutlichen. Im biblischen Kontext geschieht dies exemplarisch in den paulinischen Paränesen, die voll sind von sittlichen Urteilen bezüglich der Implikationen des christlichen Glaubens und der christlichen Liebe für das Verhalten von Christinnen und Christen.

Der Begriff des sittlichen Urteils wird in der Literatur unterschiedlich gebraucht. Heinz Eduard Tödt hatte bei seinem Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung eine andere Art von Urteilen im Blick. Wie schon erwähnt, beschränkt sich bei ihm das sittliche Urteil auf das je eigene Entscheiden und Handeln. Eines der Beispiele Tödts ist ein junger Mann mit pazifistischen Neigungen, der zum Wehrdienst einberufen wird und nun über eine mögliche Wehrdienstverweigerung zu entscheiden hat. Es wird bei Tödt freilich nicht recht klar, inwiefern im Blick auf eine solche individuelle Entscheidung, wie sie der junge Mann zu treffen hat, von einem Urteil gesprochen werden kann, was ja bedeutet, dass damit ein intersubjektiver Geltungsanspruch erhoben wird.31 Verhält es sich nicht vielmehr so, dass in diesem Beispiel die individuelle Entscheidung aus einem vorausgehenden sittlichen oder auch moralischen Urteil bezüglich des Wehrdienstes resultiert, sei es, dass dieser als unvereinbar mit einer bestimmten sittlichen Orientierung, der der junge Mann sich verpflichtet fühlt, sei es, dass er als moralisch falsch oder fragwürdig beurteilt wird? Muss also nicht zwischen der sittlichen oder moralischen Urteilsfindung und der individuellen Entscheidungsfindung unterschieden werden? Eine ähnliche Frage stellt sich im Blick auf Habermas' ethischen Gebrauch der praktischen Vernunft, der einerseits ebenfalls das individuelle, mit der je eigenen Identität verwobene Entscheiden und Handeln betrifft - Beispiel ist hier etwa die Entscheidung zwischen einem betriebswirtschaftlichen Studium und der Ausbildung zu einem Theologen32 -, andererseits aber von Habermas der Ethik zugerechnet wird. Hat es die Ethik nicht mit dem Allgemeinen zu tun, das in individuelle Entscheidungsfindungen eingeht, d. h. mit den sittlichen Intuitionen, Artikulationen und Explikationen sowie mit den moralischen Werten und Normen, die wir als Angehörige einer gemeinsamen Kultur oder einer bestimmten Gemeinschaft teilen?

Die Bedeutung der dritten Ebene der verstehenden Explikation für die sittliche Orientierung liegt nicht zuletzt darin, dass sie ein Korrektiv bereitstellt gegenüber einer nur intuitiven Verhaltensorientierung. So ist der Richtungssinn christlicher Liebe dahingehend expliziert worden, dass sie den Nutzen des Nächsten sucht.33 Diese Bestimmung macht es möglich, dass im Blick auf ein sich selbst als Liebe verstehendes intuitiv gesteuertes Verhalten gefragt werden kann, ob es tatsächlich dem Nutzen seines Adressaten dient oder diesem eher schadet, wie dies nicht selten der Fall ist. Es ist daher wichtig zu sehen, dass die sittliche Orientierung alle drei Ebenen umfasst. Sie darf weder auf die Spontaneität der Intuition beschränkt werden, wie dies manchmal im Blick auf die christliche Liebe geschieht,34 noch darf sie auf die dritte Ebene des Verstehens reduziert werden, indem sie lediglich in einem bestimmten "Wirklichkeitsverständnis" oder "Menschenbild" aufgesucht wird.

Damit nun von der sittlichen Orientierung einer Person oder einer Gemeinschaft von Personen gesprochen werden kann, muss noch ein Weiteres hinzukommen, nämlich deren bewusste Entscheidung, sich in ihrem Handeln und Verhalten bestimmten Intuitionen, Artikulationen und Explikationen entsprechend auszurichten und bestimmten anderen nicht Folge zu leisten. Auch diesbezüglich können die paulinischen Paränesen als beispielhaft gelten, die sich als ein einziger Appell an eine solche Entscheidung lesen. Hier ist also der Wille gefordert, bestimmten Intuitionen Raum zu geben und sich anderen zu verweigern und sich solchermaßen zu den eigenen intuitiven Impulsen reflektiert zu verhalten. Es entspricht dabei christlicher Einsicht und Überzeugung, dass wir uns die intuitive Ausrichtung des Verhaltens und Lebensvollzugs als solche nicht selbst geben können. Hier hat die Rede vom Wirken von Gottes Geist an uns ihren Ort.

Auch wenn die christliche Rede von Gottes Geist in einem völlig anderen semantischen Bezugsfeld steht als der metaethische Begriff der Intuition, so gibt es hier doch offenbar eine enge sachliche Verbindung. Man kann mit einem gewissen Recht sagen, dass Gottes Geist sich nach neutestamentlicher Auffassung in einer bestimmten intuitiven Ausrichtung des Handelns und Lebensvollzugs manifestiert, die im Galaterbrief als "Frucht des Geistes" angesprochen und expliziert wird (vgl. Gal 5,22 f.). Danach hat die sittliche Orientierung durchweg geistlichen Charakter. Geist und Intuition ist gemeinsam, dass beides sich der Verortung in der Subjektivität entzieht. Eben dies unterscheidet den Geist der Liebe von einem Gefühl der Liebe, dass Letzteres einen subjektiven Zustand darstellt, Ersterer jedoch nicht. Man muss für einen Anderen kein Gefühl der Liebe empfinden, um ihm dennoch im Geist der Liebe zugewandt sein zu können. Wie das Intuitive, so ist auch Geist nur adverbial aussagbar: Jemand handelt oder urteilt in einem bestimmten Geist. Dies legt eine enge sachliche Verbindung nahe, die verstehen lässt, inwiefern das mit dem Wort Geist Bezeichnete Quelle sittlicher Orientierung sein kann.

Es wird damit noch einmal deutlich, warum es gerade aus der Perspektive theologischer Ethik wichtig ist, die Quelle der sittlichen Orientierung nicht in der Subjektivität zu verorten, sondern sich um eine Klärung des Phänomens des Intuitiven zu bemühen. Die Einzeichnung in die Subjektivität verstellt den Blick auf den geistlichen Charakter des Sittlichen, der für das Neue Testament eine Selbstverständlichkeit ist. Nicht die Frage nach der Authentizität des Selbst, nach dem eigenen Wollen, den eigenen Gefühlen, dem eigenen Ich-Ideal, der Einheit der eigenen Person oder nach dem Leitbild bezüglich der Bestimmung des Menschen, sondern die Frage nach dem Geist, der das eigene Leben, Urteilen und Handeln lenken soll, ist aus theologischer Perspektive die Leitfrage der sittlichen Orientierung. Soll aber das eigene Leben umfassend von diesem gelenkt werden, dann schließt dies ein, dass er auch noch bei der Antwort auf die Frage nach ihm selbst lenkend sein muss. Daher wäre jene Leitfrage nicht wirklich begriffen, würde man hier nun wiederum auf die Subjektivität, auf unser Wollen, Fühlen, unsere Gewissheiten, Leitbilder und Ich-Ideale - was für Menschen möchten wir sein? - rekurrieren, um daraus die Kriterien für die Antwort abzuleiten. Es liegt vielmehr in dieser Frage beschlossen, dass sich die Antwort nur in der Weise eines Sich-selbst-evident-Machens dessen mitteilen kann, wonach sie fragt.

Dies muss genügen, um in Grundzügen die Struktur sittlicher Orientierung zu umreißen. Theologische Ethik, so kann festgehalten werden, hat es mit der sittlichen Orientierung von Christinnen und Christen zu tun. Erst in zweiter Linie hat sie es auch mit Moral zu tun, nämlich überall da, wo es im Lichte der christlich-sittlichen Orientierung um die Frage geht, was in der gemeinsamen sozialen Welt als gut oder schlecht, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht usw. gelten soll. Die christlich-sittliche Orientierung ist dabei gleichermaßen moralfundierend wie moralkritisch gegenüber geltenden Vorstellungen von "gut" oder "schlecht" bzw. "richtig" oder "falsch". Wenn verschiedentlich gesagt worden ist, dass es keine spezifisch christlichen Normen gibt, sondern dass alles, woran man hier denken könnte, auch von Nichtchristen geteilt werden kann, so ist dem uneingeschränkt zuzustimmen. Das Spezifische der christlichen Orientierung zeigt sich nicht im Moralischen, sondern im Sittlichen.35 Die christliche Orientierung wird gerade pervertiert, wenn sie in eine moralische Orientierung am Richtigen und Falschen verkehrt wird.

Freilich, wenn die hier skizzierten Überlegungen zutreffen, dann müsste nicht nur die theologische, sondern eine jede Ethik von einem Vorrang des Sittlichen vor dem Moralischen ausgehen und demgemäß der sittlichen Orientierung ihre primäre Aufmerksamkeit zukommen lassen. Es gibt nach dem Ausgeführten kein einziges moralisches Problem, das nicht in irgendeiner Weise mit dem urteilstranszendenten Bezugspunkt sittlicher Intuitionen verwoben ist, und sei es in indirekter Weise über die Kohärenz bzw. logische Verknüpfung mit intuitiv gewonnenen Urteilen. Auf Grund der Moralzentriertheit großer Teile der heutigen Ethik verhält es sich jedoch faktisch so, dass die leitenden sittlichen Intuitionen in der Regel nicht artikuliert, reflektiert und als Gegenstand einer bewussten Entscheidung begriffen werden, sich von ihnen leiten zu lassen, sondern dass man sich ihnen mehr oder weniger unreflektiert und zufällig überlässt. Man mag sich dies etwa an gewissen medizinethischen Problemen verdeutlichen, bei denen mit dem Hinweis auf eine "Notlage" - sei es der Frau, eines Patienten oder des Arztes - für die moralische Zulässigkeit einer bestimmten Handlungsweise argumentiert wird. Welche sittliche Orientierung ist dabei leitend, die die Notlage eines anderen Menschen solchermaßen zum Argument werden lässt? Müssten wir uns dieser nicht vergewissern, um uns Rechenschaft darüber zu geben, inwiefern dies als ein Argument ernst genommen zu werden verdient, dem wir Folge leisten sollten? Und müssten wir dabei nicht bis dahin gelangen, dass wir uns der Vertrauenswürdigkeit dieser Orientierung versichern und uns davon überzeugen, dass wir uns von ihr leiten lassen sollten, sie also willentlich bejahen? Erst damit würden wir uns dem intuitiven Appell, der von der Notlage eines Anderen ausgeht, auf eine sittlich reflektierte Weise aussetzen. Doch statt dass dieser urteilstranszendenten Seite der Moral die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird, tendiert die ethische Debatte dahin, sich an Begründungs- und Geltungsfragen abzuarbeiten, und wie das einleitende Zitat aus dem Handbuch für Angewandte Ethik zeigt, erwartet man von der ethischen Theorie, dass sie dafür normative Kriterien bereitstellt.36 So sucht man urteilsimmanent nach einem Fundament für moralische Geltung, das man doch nur urteilstranszendent in der Vergewisserung der leitenden sittlichen Orientierung finden kann. Die Folge ist ein Verlust an sittlicher Bewusstheit und Artikulations- und Reflexionsfähigkeit und eine Loslösung der Moral von ihren sittlichen Grundlagen.

Die Unterscheidung zwischen sittlicher und moralischer Orientierung und die Frage des Vorrangs des Sittlichen vor dem Moralischen betrifft nicht zuletzt den Umgang mit dem geläufigen ethischen Vokabular. Ist Menschenwürde ein moralischer oder ein sittlicher Begriff? Ist das damit Gemeinte in moralischen Begriffen wie Rechten, Ansprüchen, Pflichten, gut, schlecht, richtig, falsch usw. auszubuchstabieren37 oder ist es als Artikulation unseres intuitiven Sinnes dafür zu begreifen, welche Handlungen oder auch Lebenssituationen einem Menschen als Menschen angemessen oder unangemessen sind? Stellt die Folterung eines Menschen deshalb eine Verletzung seiner Würde dar, weil sie dessen Rechte verletzt oder weil sie moralisch verwerflich ist? Oder ächten wir sie nicht vielmehr umgekehrt als moralisch verwerflich und postulieren wir nicht deshalb ein die Folter ausschließendes Recht auf Achtung der seelischen und körperlichen Integrität, weil mit der Folterung eines Menschen auf grässlichste Weise dasjenige missachtet wird, was unser sittlicher Sinn als einem Menschen angemessen ansieht? Es gibt eine Tendenz zur Moralisierung unserer sittlichen Begriffe, der es zu widerstehen gilt, um das Fundierungsverhältnis von sittlicher und moralischer Orientierung zu wahren.

Es sei zum Schluss noch einmal betont, dass diese Überlegungen nicht mehr sind als eine Skizze. Sie zeigt, wie viel hier noch zu bearbeiten und zu klären ist. Aber vielleicht ist so viel deutlich geworden, dass sich gerade für die evangelische Ethik hier ein fruchtbares Forschungsfeld auftut und dass sie die Metaethik nicht allein der Philosophie überlassen sollte. Nur dann kann sie hoffen, die Tradition, der sie verpflichtet ist, im Horizont der heutigen ethischen Debatte angemessen zur Geltung zu bringen.

Summary

Conventional wisdom states that ethics are concerned with morality and morality alone. This notion is articulated in judgements on whether or not an action is good or a verdict is fair, or that certain rights and duties exist. This essay argues that such an understanding of ethics falls short. Moral orientation has its foundation in another kind of practical orientation which is called ethical orientation. The essay analyses this orientation's structure and presents the thesis of a pre-eminence of ethical over moral orientation. According to this view, theological ethics are not primarily concerned with the moral but rather the ethical orientation of Christians. In the light of the doctrine of justification by faith, Protestant ethics in particular must insist on the primacy of ethical versus moral orientation.

Fussnoten:

1) Die folgenden Überlegungen sind den philosophischen Gesprächspartnern am Ethikzentrum in Zürich gewidmet, mit Dank für eine fruchtbare und gerade auf Grund von Auffassungsunterschieden produktive Zusammenarbeit. Gedankt sei auch Philipp Stoellger für die Lektüre des Manuskriptes und daraus resultierende Rückfragen und Anregungen.

2) J. Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: Ders. (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, 1996, 2-85, 3.

3) J. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 100-118.

4) A. a. O., 113.

5) Ebd.

6) H. Frankfurt, Über die Bedeutsamkeit des Sich-Sorgens, in: Ders., Freiheit und Selbstbestimmung, 2001, 98-115.

7) Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 1996.

8) Zur Begriffsgeschichte und zur historischen Genese der Differenzierung zwischen Moral und Sittlichkeit vgl. den Artikel "Sittlichkeit; Sittenlehre" im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 9, 1995, 907-923.

9) H. E. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: Ders., Perspektiven theologischer Ethik, 1988, 21-48. Diesem Aufsatz ging eine erste Fassung voraus unter dem Titel "Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung" in ZEE, 21. Jg. (1977), 81-93. Zur Kritik vgl. J. Fischer, Leben aus dem Geist. Zur Grundlegung christlicher Ethik, 1994, 226-235.

10) Taylor, a. a. O., 177 f.

11) H. E. Tödt, Die Zeitmodi in ihrer Bedeutung für die sittliche Urteilsbildung. Anregungen aus Georg Pichts Zeitphilosophie für eine evangelische Verantwortungsethik, in: Ders., Perspektiven theologischer Ethik, a. a. O., 49-84, 50.

12) J. Fischer, Kognitivismus ohne Realismus. Eine philosophisch-theologische Kritik am moralischen Realismus, in: J. Fischer, S. Grotefeld, P. Schaber (Hrsg.), Moralischer Realismus. Theologische Beiträge zu einer philosophischen Debatte, 2004. Vgl. dazu auch J. Fischer, Jenseits der Moral. Das menschliche Handeln in religiöser Sicht, in: B. Boothe, P. Stoellger (Hrsg.), Moral als Gift oder Gabe? Zur Ambivalenz von Moral und Religion, 2004, 239-272.

13) Einen guten Überblick über den aktuellen metaethischen Diskussionsstand gibt der Artikel von Thomas Schmidt, Realismus, Intuitionismus, Naturalismus, in: M. Düwell u. a. (Hrsg.), Handbuch Ethik, 2002, 49-60.

14) Einen Überblick gibt J. Badura, Kohärentismus, in: M. Düwell u. a. (Hrsg.), a. a. O, 194-205.

15) Insofern besteht hier eine Glaubwürdigkeitslücke bezüglich der heute eingenommenen Position, wonach zum christlichen Menschenbild die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens von Anfang an gehört. Das war bis noch vor Kurzem nicht die offizielle Position der evangelischen Kirche, wie die Tolerierung der Empfängnisverhütung mittels Spirale zeigt.

16) Vgl. Th. Schmidt, a. a. O., 53 ff.

17) P. Schaber, Moralischer Realismus, 1997.

18) J. McDowell, Values and Secondary Qualities, in: T. Honderich (Ed.), Morality and Objectvity, 1985, 110-129.

19) Dieser prädikative Gebrauch und die daraus resultierende Gleichsetzung von Intuitionen mit subjektiven Überzeugungen ("beliefs", "convictions") oder Urteilen ist in der Literatur verbreitet: "Each intuition ... is a jugdment that p for some suitable class of propositions p. An intual report is a verbal report of a spontaneous mental jugdment." Alwin Goldman, Joel Pust, Philosophical Theory and Intuitional Evidence, in: M. R. DePaul, W. Ramsey (Eds.), Rethinking Intuition. The Psychology of Intuition and its Role in Philosophical Inquiry, 1998, 179-197, 179.



20) H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 51994.

21) WA 54, 185, 14 ff.

22) Vgl. dazu J. Fischer, Christlicher Wahrheitsanspruch und die Religionen, in: C. Danz, U. H. J. Körtner, Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, 2005.

23) Vgl. J. Fischer, S. Grotefeld, P. Schaber, Moralischer Realismus. Theologische Beiträge zu einer philosophischen Debatte, a. a. O., darin besonders den Beitrag von W. Schweiker.

24) Frankfurt, a. a. O., 99.

25) Tödt, a. a. O., 28.

26) Ebd.

27) Unter den zeitgenössischen Ethikkonzeptionen ist jene von Eilert Herms zu nennen, die das Kriterium des Sittlichen in der subjektiven Gewissheit hinsichtlich der Bestimmung des Menschen verortet, von der angeblich alles Handeln begleitet ist. E. Herms, Grundlinien einer ethischen Theorie der Bildung von ethischen Vorzüglichkeitsurteilen, in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, 1991, 44-55. Ders., Der religiöse Sinn der Moral. Unzeitgemäße Betrachtungen zu den Grundlagen einer Ethik der Unternehmensführung, in: Ders., Gesellschaft gestalten, a. a. O., 216-251.

28) Diese Zusammenhänge sind nicht nur für die Ethik, sondern z. B. auch für die Seelsorge von Bedeutung. Gerade für sie hat Frankfurts Explikation der Frage, worum man sich kümmern soll, eine gewisse Attraktivität, und seine Ausführungen legen eine prima facie plausible Konzeptualisierung des Selbst nahe, wonach dieses sein Zentrum im Willen hat. Das Ziel seelsorgerlicher Beratung bei jenem Entscheidungskonflikt der Mutter müsste hiernach darin bestehen, sie herausfinden zu lassen, was sie will, sei es, dass sie bei dem Kind bleiben oder dass sie dieses verlassen will. Dass darin eine fragwürdige Verkürzung liegt, dürfte deutlich sein.

29) I. U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 2003, 26 ff.

30) Vgl. K. P. Rippe, P. Schaber (Hrsg.), Tugendethik, 1998, 7-18 (Einleitung).

31) Vgl. zu diesem Problem J. Fischer, Leben aus dem Geist. Zur Grundlegung christlicher Ethik, 230-233.

32) Habermas, a. a. O., 104.

33) "Darum soll seine [sc. des Christenmenschen] Absicht in allen Werken frei und nur dahin gerichtet sein, dass er anderen Leuten damit diene und nütze sei, nichts anderes sich vorstelle, als was den anderen not ist." WA 7, 34.

34) M. Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, 1990, 153.

35) Das dürfte für jede religiöse Ethik gelten. Das bedeutet für die interreligiöse Verständigung in Fragen des Ethos, dass deren eigentliche Aufgabe und Herausforderung darin liegt, sich im Sittlichen zu verständigen, und nicht darin, sich auf eine gemeinsame Schnittmenge moralischer Prinzipien und Normen - nicht zu töten, nicht zu stehlen usw. (vgl. H. Küng, Projekt Weltethos, 1990, 82 u. 87) - zu einigen, die ihre Füllung und Konkretisierung doch nur von dem jeweiligen sittlichen Hintergrund her erhalten.

36) Vgl. Anm. 2. Bemerkenswert an diesem Zitat ist, dass die Kriterien, die die ethische Theorie bereitstellen soll, im Einklang sein sollen mit "einzelnen unaufgebbar erscheinenden moralischen Überzeugungen" (J. Nida-Rümelin, a. a. O., 3). Diese werden dabei als ein der Theorie vorgegebenes Faktum genommen. Der ethischen Theorie wird nicht die Aufgabe zugewiesen zu untersuchen, inwiefern diese Überzeugungen unaufgebbar sind, was bedeuten würde, dass man ihren sittlichen Gehalt thematisieren und reflektieren müsste. Zusätzlich ergibt sich dabei die folgende Schwierigkeit. Aus dem Faktum einer vorhandenen, für unaufgebbar gehaltenen Überzeugung lässt sich nicht auf normative Richtigkeit schließen. Geht also die ethische Theorie vom Faktum vorhandener Überzeugungen aus, dann kann sie für die daraus gewonnenen Kriterien keinen normativen Status beanspruchen, wie Nida-Rümelin dies tut (ebd.). Vielmehr kann sie nur deskriptiv die normativen Implikationen der betreffenden Überzeugungen explizieren. Damit aber hört sie auf, normative Ethik zu sein. Vgl. dazu J. Fischer, Jenseits der Moral, a. a. O., 268 ff.

37) P. Schaber, Menschenwürde und Selbstachtung. Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde, in: Studia Philosophica, Vol. 63/2004, 93-106.