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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

457–459

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kunath, Jochen

Titel/Untertitel:

"Sein beim Anderen". Der Begriff der Perspektive in der Theologie Wolfhart Pannenbergs. M. e. Vorwort v. W. Pannenberg.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. 305 S. gr.8 = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 30. Kart. Euro 25,90. ISBN 3-8258-5868-5.

Rezensent:

Hans-Peter Großhans

Friedrich Nietzsche hatte einst in "Jenseits von Gut und Böse" behauptet, "das Perspektivische" sei die "Grundbedingung alles Lebens". Jochen Kunath bestätigt in seiner Münsteraner Dissertation weitgehend diese Behauptung, indem er die grundsätzliche Bedeutung der Perspektivität für Glaube und Theologie herausarbeitet. Als paradigmatischen theologischen Ansatz untersucht er dazu die Theologie Wolfhart Pannenbergs und versucht zu zeigen, dass am Begriff der Perspektive sich nicht nur eine theologische Erkenntnislehre, sondern auch das theologische Begreifen des Menschen überhaupt entfalten lässt. Zudem sei Perspektivität eine notwendige Voraussetzung, um Wahrheit unter den endlichen Bedingungen menschlichen Lebens erreichen zu können.

In der Theologie von Wolfhart Pannenberg ist Perspektivität allerdings kein Grundbegriff. Nach K. kann jedoch "der Begriff der Perspektive ... als ein verdichteter Begriff der Theologie Pannenbergs angesehen werden", und zwar "hinsichtlich der materialen Entfaltung der Theologie und auch hinsichtlich dessen, was Theologie selbst ist" (13). Wolfhart Pannenberg selbst weiß sich dabei durchaus richtig verstanden, denn in seinem kurzen Vorwort zu dem Buch bescheinigt er K., dass ihm "eine nicht nur originelle, sondern auch durchaus treffende Darstellung" seiner Theologie gelungen sei.

K.s Untersuchung ist aufgeteilt in sechs Kapitel, die von 15 durchlaufenden Paragraphen weiter untergliedert werden. Er setzt im ersten Kapitel ein mit einer knappen, aber zugleich materialreichen systematischen Skizze zum Verständnis von Perspektivität in Philosophie und Theologie. Sein eigenes Verständnis von Perspektivität, mit dem er dann die Theologie Pannenbergs rekonstruiert, gewinnt K. vor allem in Auseinandersetzung mit dem Perspektivenbegriff bei D. Ritschl und I. U. Dalferth. Mit diesem vorläufigen Begriff der Perspektive geht K. im Durchgang durch Pannenbergs Theologie und Wissenschaftstheorie der Leitfrage nach, "wie Pannenberg unsere Perspektive mit der Gottes verbunden sieht" (53).

Ein wesentliches Merkmal menschlicher Perspektivität ist ihr "dialektisch-ambivalente[r] Vollzug" (71): Zwar habe jeder Mensch immer eine bestimmte Perspektive, doch er habe auch die Möglichkeit, "einen Standpunkt jenseits seiner selbst einnehmen zu können" (72), was nicht nur voraussetzt, dass der Mensch die Fähigkeit dazu hat, sondern auch, dass die Perspektiven nicht gegeneinander abgeschlossen sind. Es ergibt sich ein interpretatorisches Beziehungsgefüge der Perspektiven, und zwar sowohl zwischen späteren und früheren Perspektiven als auch zwischen der eigenen Perspektive und den Perspektiven anderer.

Mit ihrer Endlichkeit und Ambivalenz bleibt nach K.s Urteil für Pannenberg Perspektivität mangelhaft und unvollkommen. Gerade aus dem "bleibenden Abstand zur Zukunft (Gottes) entsteht notwendig Perspektivität" (76). Damit findet nun auch "die Vergewisserung keinen Abschluß. ... Der Mensch kommt im Prozeß der Standpunkteinnahme und des Standpunktwechsels nicht zu endgültiger Gewißheit" (79).

Nach der Möglichkeit einer "gewissen Perspektive" (80) fragend rekonstruiert K. die anthropologische Konzeption Pannenbergs und kommt zu seiner "Hauptthese": "Menschliche Perspektivität ist für Pannenberg exklusive Fähigkeit des menschlichen Bewußtseins und so ein vortreffliches Signum menschlichen Lebens überhaupt" (80). Dass der Mensch einen Standpunkt jenseits seiner selbst einnehmen und stetig seine Perspektiven wechseln könne, hänge vor allem mit der "Exzentrik des menschlichen Bewußtseins" zusammen. Diese Exzentrik ermögliche dem Bewusstsein, aus sich herauszutreten und einen Gegenstandsbezug aufzubauen. Die Sachlichkeit des menschlichen Bewusstseins repräsentiere in außerordentlicher Weise die Exzentrik menschlichen Lebens, womit allerdings die starke erkenntnistheoretische These verbunden wird, dass dabei das Wesen der Sache nicht nur gedeutet, sondern begriffen, beschrieben und dargestellt werden kann. Folglich kann auch in Perspektiven "etwas" wahr sein. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Mensch sein Selbst auch tatsächlich transzendiert und nicht auf sich selbst und den einmal eingenommenen Standpunkt fixiert ist. - Perspektivität wird vielmehr zur Sünde, wenn sie unsachlich wird und also ein Mensch nur einen Standpunkt einnimmt, seine Perspektive absolut setzt und so das eigentliche dialektische Wesen seiner endlichen Perspektivität verkennt. Aus der sündigen Perspektivität wird der Mensch befreit, wenn er "auf den Standpunkt extra se in Christo versetzt" wird.

"So gewinnt er Anteil an der letzten und alles umfassenden Perspektive, der trinitarischen Perspektive Gottes. Hier ist und bleibt er hinausgehoben über jeden von ihm je eingenommenen Standpunkt. ... In der Unverfügbarkeit des extra se liegt die Erlösung von der sündigen Perspektivität, die sich in der ichzentrierten Perspektive manifestierte. Der sündigen Perspektive steht die Perspektive des Glaubens gegenüber" (142). Wie die trinitarischen Personen ihr Selbstsein in ihrem ekstatischen Bezug auf die jeweils anderen Personen haben, so erfüllt sich die Perspektivität im Vollzug des Wechselns auf den Standpunkt des Anderen als einem Anderen. Wie die trinitarischen Personen "eine und drei Perspektive[n]" haben, so gewinnen menschliche Personen ihre eigene Perspektive im Glauben durch einen - vergewissernden - Standpunkt jenseits ihrer selbst. "Will man ... diese erfüllte Perspektivität auf den Begriff bringen, dann kann man von der Perspektive Gottes sprechen. Diese ist das Wesen Gottes und repräsentiert seine trinitarische Einheit" (147), an welcher der Glaubende durch Christus in geisterfüllter Ekstatik Anteil bekommt.

Dieselbe Ekstatik, die den Glauben kennzeichnet, ist nach K.s Analyse bei Pannenberg auch fundamental für die Theologie (vgl. Kapitel 5). Wie der Glaube, so ist auch die Theologie "auf dem Standpunkt Gottes ganz bei sich und ganz bei der Sache" (172). Dadurch partizipiert nach Pannenberg die Theologie an der Wahrheit Gottes, die einzig, kohärent, universal und alles bestimmend ist. Andererseits muss sich Theologie auch auf dem Standpunkt Gottes ihrer Endlichkeit bewusst sein und ihre bleibende eigene Perspektivität anerkennen. Jede Theologie entwirft von "ihrem Standpunkt" aus "ihr Sinnmodell Gott" (176). So geraten die theologischen Perspektiven in Streit miteinander um "das wahrste Sinnmodell mit Erklärungsfunktion" und damit um die Frage, "welche theologische Perspektive ... die Welt, wie sie ist, als Gottes Wirklichkeit explizieren" kann (179). Aus dem theologischen Streit kann dann "die eine Perspektive des Wissens Gottes erwachsen" (179). Dies realisiert sich nach K.s Analyse nur als geschichtlicher Prozess. Die Einsicht in den Vollzug dieses Wissensprozesses ist dann eine "Theologie aus der Perspektive Gottes" (179). Damit rückt die theologische Methode in den Mittelpunkt des Interesses. Auch dabei ist inmitten des theologischen Methodenpluralismus nach der einen Methode als Überstieg aus der endlichen Perspektivität zu fragen, durch welche die Theologie ihre Einheit gewinnt.

Konsequenterweise untersucht K. den perspektivischen Vollzug der Theologie. Dabei nimmt die Darstellung von K. eine eigenartige Wendung, denn nun wird die Besonderheit der theologischen Perspektive durch die Metapher der "Tiefe" erläutert: die theologische Perspektive setze bei den in anderen Perspektiven gewonnenen Erkenntnissen an und dringe von dort aus "tiefer ein in die Weltwirklichkeit und macht sie zunehmend transparent für eine explizite Darstellung der Wirklichkeit Gottes" (209). Das Bild vom Weg des Blicks von der Oberfläche in die Tiefe setzt aber denselben Standpunkt voraus und eben nicht eine andere Perspektive, in der notwendigerweise die "Sache" anders, jedoch nicht tiefer erkannt wird.

K. rundet seine Untersuchung zum Begriff der Perspektive in der Theologie Pannenbergs mit zwei Anwendungsfällen der theologischen Perspektive ab: zum einen im Dialog mit den Naturwissenschaften und zum anderen in der Darstellung der neueren Theologiegeschichte.

K. hat nicht nur eine originelle und sachgerechte Darstellung der Theologie Pannenbergs vorgelegt, sondern auch einen dringend notwendigen und zum weiteren Nachdenken höchst anregenden Beitrag zur Präzisierung des vielfach - und häufig nur als Schlagwort - gebrauchten Perspektivenbegriffs. Darin liegt das eigentlich Verdienstvolle dieser Untersuchung, auch wenn an manchen Punkten in dem von K. rekonstruierten Modell von Perspektivität einige Unklarheiten und viele offenen Fragen bleiben. Das aber bestätigt nur das von K. dargestellte Konzept von Perspektivität und fordert zum Widerspruch heraus und zur erforderlichen Weiterarbeit an diesem Thema.