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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

453–457

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Etzelmüller, Georg

Titel/Untertitel:

"... zu richten die Lebendigen und die Toten". Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. XV, 348 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1844-7.

Rezensent:

Christine Janowski

Diese Heidelberger Dissertation, geprägt vom Anliegen einer "realistischen Biblischen Theologie" und mitgeprägt durch nordamerikanische Theologie, hat das Ziel, "einen Beitrag zu mehr Klarheit und Realistik in der Eschatologie" zu leisten (VIII), indem sie im zugleich Sinne einer Theologie als "kirchlicher Wissenschaft" die eingetretene Distanz zwischen Theologie und gottesdienstlicher Praxis bedenkt und speziell dem kirchlichen Bekenntnis zur Wiederkunft Jesu Christi zum Gericht über die Lebendigen und die Toten nachdenkt (4). Ausgehend vom berühmten Gespräch zwischen C. F. v. Weizsäcker und K. Barth über das Problem des Weitertreibens der Physik angesichts der Atombombe und die einem modernen Menschen kaum mehr verständliche Rede von der Wiederkunft bzw. Parusie Jesu Christi wird dabei gegen einen häufigen Vorwurf, die Theologie Barths ermangele der Dimension des (futurisch) Eschatologischen, davon ausgegangen, dass sie Ressourcen dazu enthält, diesem Ziel näher zu kommen (VII).

Forschungs- und theologiegeschichtlich begründet wird im 1.Teil (9-77) zunächst der Stand der (deutschen) evangelischen Theologie des 20. Jh.s im Blick auf die Rede vom Jüngsten Gericht dargestellt sowie kritisch gewürdigt, und zwar im Neuluthertum (bis W. Elert), in der Dialektischen Theologie und in den an sie anschließenden Entwürfen (bis F.-W. Marquardt und W. Dietrich/Chr. Link), schließlich in den Entwürfen lutherischer Theologie nach 1945 (bis W. Härle). Maßstäbe von Würdigung und Kritik sind dabei: die christologische Erschließung des Gerichts, von der her das Gericht als ein heilvolles verstanden wird; die Berücksichtigung relativer Unterschiede im Blick insbesondere auf Täter und Opfer der Weltgeschichte; eine nicht bloß enthüllende, sondern auch im Blick auf die Sozialbeziehungen neuschöpferische, zurechtbringende oder auch vollendende Funktion des Gerichts als eines drei- bzw. mehrstelligen, die Ich-Du-Relation zwischen Gott bzw. Christus und einzelnen Menschen übersteigenden Kommunikationsgeschehens; mit alledem zugleich das Festhalten gesetzes- und heiligungstheologischer Bezüge.

Der 2. und umfangreichste, dem Jüngsten Gericht in der Theologie K. Barths gewidmete Teil (79-242) schreitet zunächst Barths Rede vom Gericht Gottes auf dem Wege zur Kirchlichen Dogmatik (= KD) von der 1. Fassung des Römerbriefs bis zur Ethik-Vorlesung historisch wie systematisch umsichtig ab, um im Sinne eines sich vertiefenden Erkenntnisgewinnes (statt Bruchs) rückblickend (126 f.) dessen große Bedeutung für die angezielte Rekonstruktion der Rede vom Jüngsten Gericht zu würdigen: "als Entdeckungszusammenhang, in dem wieder deutlich wurde, dass das Gericht" - zum Teil noch nicht konsequent entfaltet - "eine christologische Größe ist", d.h. hier: "als die [neuschöpferische - vgl. 83] Einheit von Ende und Anfang, mortificatio und vivificatio, Erkenntnis und Vergebung unserer Sünde, von Gesetz und Evangelium", als Hoffnung für alle Menschen, durch das Gericht hindurch - "wenn auch nicht ohne Reinigung" - zurechtgebracht zu werden. Zugleich wird ein Fortschritt vom Schwanken zwischen futurum aeternum und Aktualismus des nächsten Augenblicks in Richtung auf die Parusie als eines zwar nicht durch die Zeit entstandenen, aber zeitlichen Ereignisses und als Entsprechung zur schon innerhalb der Münsteraner Eschatologievorlesung vollzogenen Antizipation der Zeit-Ewigkeits-Relation von KD 31 (vgl. 118 ff.) hervorgehoben, die einer "endgültigen Erlösung" Raum gibt und der Einsicht in die Differenz zwischen Versöhnung und auf die gesamte Schöpfung rückbezogener Erlösung (vgl. 120 ff.) entspricht. An diesen Erkenntnissen müssen sich "deshalb" die Ausführungen von KD, was die Zukunft Christi angeht, "messen lassen" (127).

Es folgt eine auf Grund der Unabgeschlossenheit von KD notwendige Rekonstruktion von deren Eschatologie aus KD selbst, zu der Barth selbst ermuntert hat (127). Diese Rekonstruktion setzt mit den eschatologischen Grundentscheidungen in der Arbeit an KD in den 30er Jahren (KD I/1-II/1) so ein (127-150), dass sie zunächst danach fragt, wie die Einsicht in die Differenz von Versöhnung und Erlösung die Prolegomena prägt. Hauptergebnisse: 1. Das existenztheologische Verständnis von Erlösung als Werk des heiligen Geistes in KD I/1 wird vor einer bloß noetisch verstandenen subjektiven Seite des Offenbarungsgeschehens geschützt und zugleich in seinem Aktualismus kritisiert (127 ff.). 2. Der von Barth in KD I/2 signalisierte Umbau im Blick auf die Erlösungslehre, in der die bisher als subjektive Seite des Offenbarungsgeschehens aufgefasste Erlösung in der Versöhnungslehre untergebracht wird, entspricht der wiedergewonnenen Einsicht in die Differenz von Versöhnung und Erlösung (s. o.) und lässt das christliche Leben in der Hoffnung gleichsam das Scharnier von Versöhnungslehre und Erlösungslehre sein (132 ff.). 3. Deren Gehalt wird im Blick auf das Jüngste Gericht vorläufig so erschlossen, dass ein Umbau der Gerichtskonzeption, wie er in der Erwählungslehre vorliegt (dazu 151 ff.), absehbar wird (139 ff.).

Im Blick auf die Schöpfungslehre werden bezüglich der Eschatologie bzw. Neuschöpfung oder auch Erlösung Klärungen ausgemacht (171-188). Diese beziehen sich insbesondere auf das in der Auferstehung Jesu und den 40 Tagen offenbar gewordene Ziel der ganzen Schöpfung und eben damit auch aller geschaffenen Zeit (172 ff.), auf unseren Tod als Zeichen des Gerichtes im Unterschied zum stellvertretenden Gerichtstod Christi (177 ff.) und auf das trotz allem noch ausstehende endgültige Gericht über das Nichtige, das dessen begrenzte, nämlich reinigende Funktion in diesem Gericht ebenso wenig ausschließt wie das Mitstreiten der Christen gegen das Nichtige schon jetzt (181 ff.).

Im Blick auf die Gerichtskonzeption der Versöhnungslehre (189-242) schließlich werden gegen eine einseitige Betonung von KD IV/1 und damit des für uns/für alle "gerichteten Richters" auch die beiden anderen Teile von KD IV so berücksichtigt, dass das Jüngste Gericht zugleich das Gericht des königlichen Menschen bzw. Menschensohns (212 ff.) als eines in der Tradition alttestamentlicher Prophetie stehenden "Parteigängers der Armen" mit der Folge einer "Doppelperspektive auf die Sünde der Menschen" ist und mit der "Offenbarung der Heiligung und des Lohnes der guten Werke" verbunden ist. Entsprechend kommt es in ihm zur öffentlichen Offenbarung der universalen Verlorenheit, die zugleich deren "Ausschaltung" bzw. kreative, auch physische Errettung einschließende Vergebung (207 f.) impliziert, zur Offenbarung relativer Unterschiede und zugleich der universalen Sozialität samt der diakonischen Tätigkeit an und in dieser (238).

In diesem mit gutem Grund längsten Unterkapitel zu KD werden ganz besonders eigenständig und jedenfalls von der Anlage der Versöhnungslehre her begründet auf weiterführende Weise die zunächst nur vermuteten Ressourcen einer "realistischen" Eschatologie, speziell Gerichtskonzeption, bei Barth in Entsprechung zur schon den 1. Teil leitenden Kriteriologie ausgeschöpft. Dabei werden auch in diesem Teil immer wieder Fragen aufgeworfen, die sich schließlich zuspitzen auf die Frage, wie denn das von Barth schon früher wieder bemühte "Läuterungsfeuer" die dem Einzelnen geltenden Retraktionen bewirkt sowie den Opfern ihr Recht verschafft bzw. die kommunikativen Sozialbeziehungen und Sozialstrukturen zurechtbringt und also - im Anschluss an die Fragmente seiner Versöhnungsethik - Gerechtigkeit als die rechte Ordnung der Welt schafft (242).

Genau dieser Frage geht der 3. Teil des Werkes (243-320) im kritischen Anschluss an die Erkenntnisse Barths zu Gunsten einer für eine Dissertation ungewöhnlichen, konstruktiv-imaginativen Rekonstruktion der Rede vom Jüngsten Gericht in biblisch-theologischer Orientierung, insbesondere an der Menschensohnüberlieferung, zu Gunsten einer entsprechenden "Verfeinerung" der Sprachfähigkeit des christlichen Glaubens in unserer Zeit (243) nach, um anschließend zusammenfassend in einem 4. Teil (321-330) die Frage des Heidelberger Katechismus "Was tröstet dich die Wiederkunft Christi zu richten die Lebendigen und die Toten?" aufzunehmen zu Gunsten der Apologetik seiner "realistischen" Antwort, die zugleich gegen die historisch ihr entsprechende Tradition des klassischen eschatologischen Dualismus ausgelegt wird.

Die untereinander zusammenhängenden Hauptergebnisse, die sich am Aspekt der "Aufrichtung des Rechts im Gericht des Menschensohnes" (256-320) orientieren, sind: 1. Der Begriff der sich in unserer Rechtfertigung (nicht nur noetisch) offenbarenden Gerechtigkeit Gottes bei Barth und anderen ist durch den einer ausgleichenden bzw. "korrektiven" Gerechtigkeit, die sich auf geschehenes Unrecht gegenüber den Opfern der Weltgeschichte bezieht, so zu ergänzen, dass dies zum Abschied von gewissen reduktionistischen, der Ich-Du-Kommunikation verhafteten Denkfiguren von Gott und der Gottesbeziehung führt (245 ff.).

2. Das Gesetz ist theologisch nicht nur in seiner alle Menschen unter den Ungehorsam verschließenden Funktion, sondern auch in seiner Bedeutung für die relativen Unterschiede zwischen Menschen auf Grund der an den Armen und Elenden orientierten guten Werke zu verstehen (252 ff.).

3. Von daher ist die biblische Rede von einer doppelgesichtigen eschatologischen Vergeltung bzw. von Lohn in ihrer "Realistik" wieder so aufzunehmen, dass sie die Vernichtung des Unrechts - ja nach Matthäus - der Unrechtstäter als solcher gegenüber allen "schwärmerischen Visionen einer universalen Versöhnung" in sich schließt (262 ff.).

4. Entsprechend wird Mt 25,31-46, klassisch nun einmal die Hauptstelle für den orthodoxen eschatologischen Dualismus, ohne weitere hermeneutische Begründungen um der öffentlichen Wiederherstellung der Würde der Opfer und zugleich der Entmachtung wie Beschämung der Täter willen gegen allversöhnlerische Tendenzen (angeblich) erst der Neuzeit sowie gegen faktisches "Strafrecht ohne Opfer" zu Gunsten einer "realistischen" eschatologischen Scheidung im Sinne des Sich-nicht-mehr-Sehen-müssens als Bedingung der Möglichkeit des Vergessen-könnens (unter Rekurs u. a. auf äthHen 62: 276, jedenfalls nicht auf Neutestamentliches) stark gemacht (269 ff.). Dabei wird zugleich im Sinne des universalen, systematisch aktualisierten Völkergerichts nicht nur an Individuen, sondern auch an ganze Völker bzw. Kollektivpersonen und von da aus an Strukturen gedacht (284ff.), trotz der hier einmal eingestandenen "Gefahr, den Himmel [?] politisch zu sehr aufzuladen" (287), also menschlich-allzumenschlich zu theologisieren.

5. Auf diese Weise wird in der Kraft des Geistes das so verstandene Gesetz erfüllt und aufgerichtet (288 ff.), wobei das jesuanische Gesetz bzw. Gebot der Feindesliebe und des Segnens der Verfolger völlig ausfällt.

6. Gegenüber der nahe liegenden Frage: "wie kann der Mensch dann gewiss sein, nicht auf der linken Seite zu stehen zu kommen?" (289), wird unmittelbar mit der biblischen Erwartung eines positiven Ausgangs des Gerichts für die Christen im Heiligen Geist argumentiert, in dessen Kraft sie tun, was das Gesetz will (288 ff.), auch wenn die Vollendung der Heiligung nur durch eine Diskontinuität hindurch zum Ziel des ewigen Lebens führt, nämlich durch "Vernichtung des letzten Feindes", des Todes (295 ff.), und gegebenenfalls die Rettung im Gericht "wie durchs Feuer hindurch", d. h. durch die Ummodellierung der Identitäten (298 ff.). Zugleich soll sich die eschatologische Erlösung nicht nur als heilvolle, zurechtbringende Scheidung in und an jedem Menschen, sondern auch Täter-Opfer-orientiert zwischen Menschen so vollziehen, dass die beiden Gruppen sich nicht mehr sehen sollen und müssen (309 ff.), und wird dann im Blick auf die Frage nach dem Ausgang des Gerichts recht summarisch die Hoffnung betont, dass "alles Lebensförderliche bleibt", nicht aber "alles" (316 ff.).

Diese außerordentlich konzentrierte, material- bzw. kenntnis- und perspektivenreiche Untersuchung ist zwar von hoher systematischer Kraft und nicht nur im Blick auf die Barthforschung ein Gewinn bringender Vorstoß zu nennen. Aber sie denkt Barth kritisch-konstruktiv so weiter, dass das Ergebnis in sich wiederum spannungsvoll bleibt und zudem verschiedene Fragen aufwirft, die bei bibel- und bekenntnis-hermeneutischen beginnen und damit Probleme einer systematischen biblischen und zugleich kirchlichen Theologie betreffen.

So geht z. B. die Betonung eines neuschöpferischen, zurechtbringenden Gerichts mit "Reinigungsfeuer", das teils in die Erkenntnis verlegt wird, teils dieses überschreitet (vgl. Vernichtungsterminologie), Hand in Hand mit einer mangelnden Reflexion auf den Charakter der als streng universal faktisch vorausgesetzten Auferstehung, insgesamt kosmischen Verwandlung, und also Neuschöpfung doch wohl nicht erst durch das Jüngste Gericht oder gar nach diesem. Wenn Opfer und Täter sich zudem nicht nur auf Menschen und Menschengruppen verteilen lassen, sondern Lebensaspekte in unterschiedlichen Perspektiven und Zusammenhängen betreffen, dann müsste die eschatologische Scheidung wohl dazu führen, dass sich so gut wie alle nicht mehr sehen müssen. Was aber wäre das für eine "endgültige Erlösung"? Ob schließlich die Rede von der Wiederkunft Christi einem modernen Menschen durch dies alles verständlicher wird (vgl. die Frage Weizsäckers an Barths - s.o.), bleibt wegen der weithin biblisch und dogmatisch abgedichteten Sprache fraglich. Doch wird sie in ihrer Funktion auf Grund ihres begründet vorausgesetzten Resultats jedenfalls neu plausibilisiert.