Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1999

Spalte:

398 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

VanderKam, James C. and William Adler [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Jewish Apocalyptic Heritage in Early Christianity.

Verlag:

Assen: van Gorcum; Minneapolis: Fortress Press 1996. XII, 286 S. gr.8 = Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum. Section III, 4. Pp. hfl. 80.-. ISBN 90-232-2913-4.

Rezensent:

Peter von der Osten-Sacken

Dieser Band der angesehenen Reihe "Rerum Iudaicarum ..." vereint unter seinem weitgespannten Titel fünf Studien, die sich nach dem kurzen Vorwort der Herausgeber der vernachlässigten Aufgabe annehmen, "die christliche Aneignung jüdischer Apokalyptik" zu untersuchen (XI). Dies geschieht allerdings nicht flächendeckend, vielmehr gehen die Beiträge "einer begrenzten Anzahl bedeutender Themen" nach und suchen so Einblicke in "wichtige Aspekte frühchristlicher Verwendung, Bearbeitung und Bewahrung jüdischer apokalyptischer Traditionen" zu vermitteln (XII). Obwohl sie sich auf das 1.-4. Jh. beziehen (XII), ist das Neue Testament mit seinen Zeugnissen nur an einigen wenigen Stellen einbezogen. Das Gew icht liegt auf dem 2.-4. Jh. Entsprechend geht es im wesentlichen um die Verwendung jüdischer apokalyptischer Traditionen oder auch ganzer Apokalypsen in der Alten Kirche, in der sie überliefert worden sind und überlebt haben, in der Regel eher an den Rändern als im Zentrum.

Beiträge von William Adler eröffnen und beschließen den Band. In seiner Einleitung (c.1 = 1-31) kritisiert er am Beispiel des vielzitierten Apokalyptik-Beitrags von Philipp Vielhauer traditionelle Weisen, sich jüdischen und christlichen apokalyptischen Zeugnissen über eine Definition des Begriffs "Apokalyptik" zu nähern (3-8). Ansätze dieser Art sind nach Adler vielfach von dezidiert theologischen Interessen bestimmt; deshalb gelte es, im Sinne eines angemessenen historischen Zugangs zum literarisch Tradierten, die christlichen Überlieferungszusammenhänge der jüdischen Apokalypsen ins Augen zu fassen und zu fragen: "Wie haben Christen dieses literarische Erbe wahrgenommen und klassifiziert? Welche Funktion und welchen Status hatten diese Dokumente in den christlichen Gemeinden, die sie bewahrten? Wie wurden sie für den christlichen Gebrauch erweitert und bearbeitet?" (8) Nachdem er diese Fragen in groben Zügen an Themen exemplifiziert hat, die in den weiteren Beiträgen detaillierter aufgenommen werden, zeigt VanderKam, wie das 1. Henochbuch als ganzes, sodann die Henoch-Tradition über Gen 6,1-4 und schließlich die Gestalt Henochs in der frühchristlichen Literatur rezipiert worden sind (c.2 = 33-101). Die neutestamentlich relevanten Menschensohnaussagen des Gleichnisbuches werden, obwohl V. zu einer Frühdatierung dieses literarkritisch umstrittenen Teils des 1. Henochbuches neigt, nicht mitbehandelt, weil sie insgesamt hinreichend traktiert seien. Ähnlich wie V. entfalten auch der Autor des dritten Beitrags, Theodore A. Bergren, und später Adler in seinem Schlußkapitel ein relativ eng begrenztes Thema ebenso detailliert wie präzise. Bergren bietet unter dem Titel "Christlicher Einfluß auf die Überlieferungsgeschichte von 4., 5. und 6. Esra" eine Rekonstruktion der Kompositionsgeschichte der apokryphen Esrabücher, deren Ergiebigkeit für das Thema freilich nur schwer zu erkennen ist (c. 3 = 102-127). Adler wiederum widmet sich am Beispiel der Auslegungsgeschichte von Dan 9,24-27 in der Alten Kirche dem Phänomen, daß jüdisch-apokalyptische Themen in nicht-apokalyptische literarische Gattungen integriert worden sind (Chronologie/ Universalgeschichte; c.5 = 201-238).

Ein Gegengewicht oder auch eine notwendige Ergänzung zu diesen hochspezialisierten Arbeiten bildet die - wohl anregendste und wichtigste - Studie von David Frankfurter mit ihrem etwas eigenwilligen und am Ende unübersetzbaren Titel "The Legacy (Erbe, Vermächtnis) of Jewish Apocalypses in Early Christianity: Regional Trajectories" (c.3 = 129-200). Sie greift nicht nur geographisch (Kleinasien/Ägypten) und chronologisch (1.-7. Jh.) am weitesten aus, sondern ist neben der Einleitung von Adler auch thematisch am engsten auf das leitende Interesse des Buches bezogen. Frankfurters Auffassung nach bestand die Attraktivität jüdischer Apokalypsen - vornehmlich für christlich deviante Gruppen - darin, daß sie ein zweiseitiges Modell zur Begründung und Stabilisierung von Autorität boten: Die Gestalt eines Geheimwissen übermittelnden Offenbarers (oder Offenbarungsempfängers) und das literarische Dokument, in dem das Geheimwissen überliefert wurde, waren geeignet, die Akzeptanz weitergehender Offenbarung und ihrer Träger(kreise) zu erhöhen. Geleitet von dieser Ausgangsthese durchmustert der Autor die apokalyptisch affizierten Gruppen in den genannten Regionen und Zeiten, um deren Verwendung jüdischer und christlicher Apokalypsen nachzuzeichnen. Der fließende Übergang im Gebrauch beider nötigt nach Frankfurter dazu, traditionelle christlich-jüdische Abgrenzungen zu problematisieren.

Das Gewicht der in dieser Veröffentlichung akzentuierten Frage nach den christlichen Überlieferungsorten und -zusammenhängen jüdischer Apokalypsen läßt sich schwerlich bestreiten. Ebenso hat die Leitfrage nach der möglichen Funktion dieser Texte im ,antiken Kirchenkampf’ wesentliche Verwendungszusammenhänge in den Blick gerückt. Ungeachtet dessen bleiben Fragen unterschiedlicher Art.

Wichtige Arbeiten wie die von Gershom Scholem und vor allem von Carsten Colpe (Das Siegel der Propheten, 1990, u. a. zu Dan 9,24-27) sind nicht aufgenommen. Auch klingt die Publikation ohne den Versuch aus, die fünf Beiträge auszuwerten und die verschiedenen Fäden zumindest ein Stück weit zusammenzuziehen. Nicht zuletzt wird zu prüfen sein, wie weit die beherrschende und fraglos wichtige Frage nach der Funktion der jüdischen Apokalypsen für ihre christlichen Tradenten tatsächlich geeignet ist, das zur Debatte stehende Phänomen ihrer christlichen Überlieferung und Rezeption hinreichend weit zu erklären. Es will jedenfalls scheinen, als seien die Autoren in einem wesentlichen Punkt vielleicht nicht konsequent genug gewesen. Gibt man sorgsam auf die von ihnen behandelten christlichen Texte acht, so stolpert man geradezu darüber, daß für deren Verfasser die jüdischen ,Apokalypsen’ in einem außerordentlichen Gleichmaß schlicht und einfach - begrifflich und sachlich - Prophetie gewesen sind. Es schiene, gerade wenn es um eine stärker historische Annäherung an die christlichen Tradenten geht, nur folgerichtig, den Begriff "Apokalyptik" und seine Derivate zumindest versuchsweise ganz fahren zu lassen und eben den der Prophetie zu wählen, um das behandelte "apokalyptische Erbe" in seinen christlichen Kontexten historisch und theologisch zu durchleuchten. Der christliche Urzeuge, nach dessen Schrift alle "Apokalyptik" ihren Namen hat (Apc 1,1), dürfte nachweislich ihrer Selbstbezeichnung als "Prophetie" wohl als erster damit einverstanden sein.