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Ausgabe: | April/2005 |
Spalte: | 443–445 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Willers, Ulrich [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. |
Verlag: | Münster-Hamburg-London: LIT 2003. VI, 239 S. gr.8 = Religion - Geschichte - Gesellschaft, 25. Kart. Euro 20,90. ISBN 3-8258-5561-9. |
Rezensent: | Bernd Hildebrandt |
Ist mit der Proklamation des Todes Gottes für Nietzsche die Theodizeefrage nicht erledigt? Dieser Frage geht dieses Buch nach. Es dokumentiert Vorträge einer Tagung der Katholischen Akademie Rabanus Maurus sowie einige zusätzliche Beiträge. Die Beiträge beziehen sich nicht alle direkt auf die Theodizeefrage im engeren, an die europäische Aufklärung anschließenden Sinn. Gleichwohl bringen sie, wenn ein "Jenseits von Gut und Böse" für die sachgerechte Bearbeitung des Themas vorausgesetzt wird, wichtige Aspekte einschließlich Überlegungen zum "Recht ohne Moral bei Nietzsche" (R. Witzler) und biographischer Beobachtungen zur Sprache. So erfahren wir von der Religiosität des Kindes Nietzsche (J. Figl) und im Aufsatz von G. Hoedl von Nietzsches Überformung des Bildes seines Vaters durch das ihm noch einzig mögliche Christentum, nämlich in den Typos der mild-resignativen evangelischen Praxis Jesu. Ein Beitrag des Herausgebers U. Willers zum Verhältnis Nietzsches zu Pascal und ein gemeinsamer Aufsatz von L. Bendel-Maidl und R. Bendel zur christlichen Mystik als Zugangsweise zu Nietzsche zeigen Perspektiven auf, die Nietzsche durchaus als spirituellen Atheisten bzw. "als Atheist aus Religion" erscheinen lassen.
Dass Nietzsches Bruch mit der christlichen und philosophischen Tradition und sein Aufbegehren gegen die Vernunft selbst Ausdruck einer Vernunftpassion sind, will Ch. Türcke mit seinem Beitrag aufweisen. Türckes Fazit, Nietzsche sei "die fleischgewordene Revolte gegen die Abstraktion" (32), macht auf die Schwierigkeiten im Umgang mit Nietzsches Denken aufmerksam, Für diese liefert J. Simons Beitrag weitere Gründe, indem er Nietzsches Denken auf den Gegensatz von apollinischer Einheit und dionysischer Pluralität zuspitzt.
Was kann dann aber noch Theodizee im Zeichen des Dionysos besagen, wenn damit die Abkehr von einer Sinnverankerung des Lebens im Transzendenten zu Gunsten vorbehaltloser Lebensbejahung gemeint ist? M. Striet beantwortet diese Frage so, dass er eine Entwicklung in Nietzsches Umgang mit der Theodizeefrage konstatiert, die über die Abkehr von einer moralischen Weltbetrachtung hinaus schließlich mit der Toterklärung des Subjekts auch die Theodizee-Empfindlichkeit still stelle. Dieser Antwort stehen freilich andere gegenüber, die deutlich machen, dass Nietzsche die Fragen von Leid und Not des Daseins niemals bagatellisiert, geschweige denn verdrängt hat.
Nietzsche will, wie der Herausgeber einleitend betont, aufstören und verunsichern. Verunsicherung stellt sich denn auch angesichts der Lektüre der Beiträge mit ihren zum Teil kontroversen Interpretationen von Nietzsches Denken ein. Wie nun allerdings mit den unterschiedlichen Lesarten umzugehen ist, welche Einwände jeweils von anderer Warte aus erhoben werden könnten, wird offen gelassen. Auch die Einführung des Herausgebers, in der die einzelnen Beiträge pointiert vorgestellt werden, lässt die Unterschiede stehen und muss dies wohl auch angesichts der Gegensätze.
Dass Nietzsche die der klassischen Theodizeeproblematik zu Grunde liegenden Fragen aufnimmt, ist in den Beiträgen allenthalben spürbar. Er kehrt jedoch die traditionelle Argumentation um, wenn er mit dem Tod Gottes als Aufrichtung eines Jenseits von Gut und Böse auch das Übel als den Gegensatz des Guten verschwinden sieht und zu einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins gelangt. Das meint nun nicht etwa eine positivistische, vielmehr eine durchaus als religiös zu interpretierende Lebenshaltung. Hierfür steht zum einen der Begriff des "amor fati", zum anderen stelle Nietzsche, wie W. Stegmaier in seinem Beitrag herausarbeitet, in dem er sogar von einer Theologie Nietzsches sprechen kann, nicht Religion und Religiosität an sich in Frage, vielmehr eine solche, die sich von der Moral her verstehe und sie zu ihrem Kriterium mache. Aber wiederum kann das nicht, wie die Aufsätze von E. Heinrich, J. Salaquarda und A. Sommer mit je eigenen Fragestellungen zeigen, in eine christentumsfreundliche Auffassung Nietzsches, jedenfalls das paulinische Christentum betreffend, umgemünzt werden. Letzteres lebt Nietzsches Interpretation zufolge, der allerdings J. Salaquarda mit Gründen widerstreitet, aus dem Ressentiment, und steht im radikalen Gegensatz zum erstrebten Ziel des Übermenschen, der sich durch "Totalverfügung über sein Wollen und Schaffen" auszeichnet (E. Heinrich). A. Sommer fragt schließlich nach einer Theologie, die durch die Kritik des "Antichrist" hindurchgegangen ist. Aber auch wenn deren Positionen im Einzelnen als Anfragen für das Verständnis des Christlichen durchaus konstruktiv bedacht werden sollten, was A. Sommer auch ansatzweise unternimmt, würde selbst im günstigsten Fall einer nachantichristlichen Theologie keine Synthese mit dem nietzscheanischen Antichristentum möglich sein.
In seinem Epilog fragt U. Willers, welche Funktion Nietzsches Denken für die christliche Bewältigung der Theodizeeproblematik zukomme. Willers unterstreicht, dass Nietzsches Insistieren auf den zutiefst ambivalenten Welterfahrungen den Christen daran erinnern könne, dass christlicher Glaube auch immer Leiden an Gott bedeute. Willers geht zudem kritisch auf die Rede vom (nur) mitleidenden Gott ein. Auch sie löse nicht die Theodizeeproblematik. Letztlich "kann auch der glaubende Mensch und mit ihm und in ihm die reflektierende Theologie nur hoffen, daß, was geglaubt wird, der Beginn einer Wirklichkeit ist, die alles Hoffen übersteigt" (219). So wird am Schluss klar ausgesprochen, dass die Theodiezeefrage bleibt und bleiben muss. Sie neu in einem weiten Horizont des Denkens reflektiert zu haben, ist das Verdienst des Bandes.