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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

442 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rapp, Friedrich

Titel/Untertitel:

Destruktive Freiheit. Ein Plädoyer gegen die Maßlosigkeit der modernen Welt.

Verlag:

Münster: LIT 2003. 200 S. gr.8 = Philosophie: Aus Forschung und Wissenschaft, 10. Euro 17,90. ISBN 3-8258-7126-6.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Die Zeiten, da die Philosophen ganze Epochen in den Blick nahmen, um ihre Tendenzen zu charakterisieren und zu kritisieren, scheinen längst vorbei. Die hypertrophen Ansprüche der Hegelianer und Marxisten bzw. Neomarxisten sind einer kleinteiligen logischen Analyse gewichen, die an Schärfe gewinnt, was sie an umfassendem Überblick verliert.

In einer solchen Situation ist es bemerkenswert, wenn der Dortmunder Philosoph Friedrich Rapp den Mut hat, an ältere Formen der Kultur- und Gesellschaftskritik anzuknüpfen, um schonungslos die Pathologien der Moderne aufzudecken. Diese Pathologien rühren seiner Meinung nach daher, dass dem Freiheitsdrang des modernen Menschen keine entsprechenden konstruktiven Leistungen gegenüberstünden, die eine ordnungsstiftende Kraft hätten. Es gilt sogar: "Die Konsequenzen der maßlosen Freiheit sind ein Tabuthema." (61) An dieses Tabu will R. rühren, weil die destruktiven Konsequenzen unseres Freiheitsdranges inzwischen Ausmaße erreicht haben, die zur Selbstzerstörung führen könnten. Die "Lebenslüge der Moderne" bestehe darin, dies nicht sehen zu wollen (111).

Das Buch hat vier Teile. In einem ersten, empirisch-deskriptiven Teil geht es um die Beschreibung der gegenwärtigen Situation und um die derzeit herrschenden problematischen Tendenzen. Der zweite Teil entwickelt die These, dass sich die gegenwärtigen Probleme auf ein maßloses Freiheitsstreben zurückführen lassen. Der dritte Teil behandelt handlungsleitende Hintergrundvorstellungen, d. h. die Prämissen, auf denen das Veränderungsstreben der Moderne beruht. Der vierte Teil fragt nach einer möglichen Abhilfe. Welche Kräfte könnten den destruktiven Tendenzen entgegenwirken?

1. R.s Situationsanalyse besteht darin zu zeigen, dass in den verschiedensten Bereichen die Emanzipation von herkömmlichen Mustern und Werten neben unstreitigem Freiheitsgewinn Pathologien erzeugt, die wir gewöhnlich nicht wahrhaben wollen. Sehr beeindruckend sind hier seine Analysen zur Kunst, die als Seismograph epochaler Befindlichkeit interpretiert wird. - 2. "Freiheit als Leitidee": Hier arbeitet R. u. a. die Dialektik zwischen einer immer effizienter werdenden sozialen Außenwelt des Menschen in den Bereichen von Wissenschaft, Technik, Industrie, Staatsbürokratie, Recht, Politik, Banken, Medien usw. heraus, der ein verunsichertes Individuum gegenübersteht, für das das Gebiet der Moral und der Kultur als Feld der beliebigen Entscheidungsfreiheit gilt, wodurch es heillos überfordert wird. - 3. "Der theoretische Hintergrund": Dieses Kapitel enthält reichhaltige Analysen und Bezugnahmen auf Philosophen wie Kant, Schelling, aber auch Bloch, Adorno, Marcuse, Heidegger oder auf Soziologen wie Luhmann und Luckmann. R. kritisiert eine heute allgemein herrschende Theorielastigkeit, die glaubt, durch bloße kritische Reflexion und rein prozedurale Vorgehensweisen Klarheit schaffen zu können. Was wir dabei vergessen, sind Tradition und Einbindung in die Gemeinschaft: "Das Individuum hat alles gewonnen, radikale Freiheit, völlige Autonomie und uneingeschränkte religiöse Selbstbestimmung - und es hat alles verloren, Bindung an die Transzendenz, fraglosen Lebenssinn und Geborgenheit in einer intakten Gemeinschaft." (167) Dieses dritte Kapitel ist außerordentlich reichhaltig und besticht durch scharfsinnige Detailanalysen. - 4. Das abschließende Kapitel "Möglicher Wandel" ist hingegen etwas problematisch. Wenn die Situation wirklich so verfahren ist, wie R. unterstellt, dann sieht man nicht so recht, welche Auswege überhaupt möglich wären.

R. diskutiert verschiedene Lösungsansätze wie freiwillige Selbstbeschränkung nach dem Vorbild von Franziskus, Pascal, Kierkegaard, Tolstoj, Schweitzer usw., zudem die "ästhetische Lebensform", die "rechte Mitte" im Aristotelischen Sinn, das Ideal der "Authentizität", die Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit in Hegels Sinn usw. All das wirft die Frage nach dem metaphysischen Fundament auf. R. beklagt immer wieder den Verlust an Transzendenz und an einer "letzten, unbedingten Sinngebungsinstanz" (100). Er spricht öfters von der "Dimension des Absoluten" (131), oder mit Hans Jonas von der "Ordnung des Kosmos, dem wir selbst angehören und in den wir als Naturwesen unaufhebbar eingeordnet bleiben" (200) usw.

Allerdings wird dieses metaphysische Fundament nirgends näher dargestellt. Dieses letzte Kapitel bringt eine gewisse Ratlosigkeit zum Ausdruck. Man fragt sich, weshalb R. diese Ratlosigkeit nicht explizit zum Thema gemacht hat. Wer wird von einem Philosophen heute verlangen können, dass er eine umfassende, in sich stimmige Metaphysik entwickelt, dazu im Stande, die Pathologien der Moderne glatt aufzulösen? Würde man nicht eher skeptisch gegenüber einem solchen Anspruch sein und haben R.s Überlegungen nicht auch sonst ihre fraglosen Verdienste, wenn sie mutig und ohne Rücksicht auf den Zeitgeist und auf eine allzu akademisch gewordene Philosophie Pathologien der Moderne namhaft machen, deren Anblick wir uns so gern ersparen?