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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

440–442

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kippenberg, Hans G., u. Martin Riesebrodt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Max Webers "Religionssystematik".

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. VIII, 349 S. gr.8. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-16-147501-1.

Rezensent:

Christian Albrecht

In den ersten Julitagen des Jahres 1913 erhielt Max Weber von seinem Freund und ehemaligen Freiburger Kollegen Heinrich Rickert einen Sonderdruck von dessen Abhandlung "Vom System der Werte". Weber schrieb zu jenem Zeitpunkt intensiv an einem Text, der nach Typen von Gemeinschaftshandeln fragte, die durch die verschiedenen Religionen begründet werden und in denen die unterschiedlichen religiösen Prägungen der modernen Kulturen angelegt sind. In seinem Dankesschreiben an Rickert kündigte Weber an, sich durch die Zusendung des eben entstehenden Manuskriptes revanchieren zu wollen: "Ich freue mich sehr auf Ihre Systematik, schicke Ihnen dann als Gegengabe das Mscr. meiner Religionssystematik."

Webers Text ist dann erst 1921/22 postum, nämlich unter der Überschrift "Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)" als Kapitel IV des zweiten Teils von Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlicht und jüngst im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe wieder ediert worden (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hrsg. von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Tübingen: Mohr Siebeck 2001 [Max-Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 22/2]. Dort auf S. 86 auch das obige Zitat aus dem noch unveröffentlichten Brief Webers an Rickert). Im Zusammenhang mit der Editionsarbeit haben Hans G. Kippenberg, Religionswissenschaftler in Bremen, und Martin Riesebrodt, Religionssoziologe in Chicago, 1998 und 2000 zwei Fachtagungen zu Webers Religionstext veranstaltet, die in dem hier vorzustellenden Band dokumentiert sind. Webers Charakterisierung seines Textes entnehmen sie das programmatische Stichwort, das diesem Sammelband den Titel lieferte. Die Herausgeber konzedieren, dass dieser Titel sehr hoch gegriffen ist. Aber sie verbinden mit ihm eine Interpretationsthese. Sie zielt - neben der Unterstreichung des Einflusses, den Rickerts Wertphilosophie der Jahre 1913/14 auf Weber gehabt habe - vor allem darauf, dass Webers fragmentarischer Text, der bekanntlich von sich aus nicht ohne Weiteres seine eigene, einheitliche Fragestellung zum Ausdruck bringt, in Wahrheit doch eine systematische Religionserklärung enthalte, die sich aber erst erschließe, wenn man den Einfluss der zeitgenössischen religionswissenschaftlichen Debattenlage auf Weber sehr viel höher veranschlage, als dies gemeinhin der Fall sei.

Diese These basiert auf folgender Voraussetzung: Webers grundsätzliche Frage nach der Tragweite religiöser Bewusstseinsinhalte für die Entstehung der Moderne, die seine Arbeiten von früh an bestimmt hat, habe bereits am Schluss der Protestantischen Ethik eine methodische Zuspitzung erfahren, der zufolge Weber eine Vertiefung der Einsichten kaum noch von neuen Fakten erwartete, sondern von der Einordnung der bekannten Fakten in ein neues Paradigma. Nun habe eben der Paradigmenwechsel, den die englische Religionsforschung um die Jahrhundertwende mit der Ablösung von Edward Burnett Tylors Animismus durch den Präanimismus von Robert Ranulph Marett vollzogen habe, Weber den gesuchten Impuls gegeben. Es sei vor allem der darin zum Ausdruck kommende Umschwung der Wahrnehmungsperspektive von Religion gewesen, dem zufolge Religion nicht mehr einfach als ein archaisches menschheitsgeschichtliches Phänomen verstanden wurde, sondern als ein Niederschlag gegenwärtiger, psychisch sich niederschlagender Erfahrung von Macht, die dann zu Vorstellungen ausgearbeitet werde. Weber habe sich durch diesen religionswissenschaftlichen Perspektivenwechsel angeregt und bestärkt gefühlt bei der entschlossenen Ausarbeitung eines Religionsverständnisses, demzufolge Religion als eine Funktion zur Vermittlung der Beziehung des Subjektes zur Welt verstanden werden müsse, von der spezifische Formen des Gemeinschaftshandelns ausgehen, die zugleich die Konstitution der modernen Rationalitätskulturen bestimmen.

Diese - nicht mehr ganz neue - Einzeichnung Webers in die Wissenschaftsgeschichte der modernen Religionswissenschaft steht als Voraussetzung im Hintergrund des Sammelbandes: Sie soll, in der exegetischen Auseinandersetzung mit Webers Religionstext, einerseits bestätigt und gesichert werden; andererseits soll sie zugleich die vertiefte Einsicht in die äußeren Zusammenhänge und die innere Richtung von Webers Religionstext ermöglichen. Auf methodischem Wege erreicht werden soll dieses Ziel durch eine subtile Verknüpfung von Diskursanalyse und Begriffsanalyse. Die Beiträge des Bandes ermitteln im Wesentlichen die Verwendungsweisen der von Weber benutzten Schlüsselbegriffe in zeitgenössischen und überlieferten religionswissenschaftlichen Texten und Kontroversen. Für das Verständnis von Webers Text und die ihm zu Grunde liegenden impliziten Annahmen seien diese Kontroversen und ihre Träger grundlegend.

So kommt ein überraschend einheitlicher Zuschnitt des Sammelbandes zu Stande. Autoren wie Stefan Breuer, Burkhard Gladigow, Edith Hanke, Gangolf Hübinger, Björne Jacobsen, Volkhard Krech, Bernhard Lang, Klaus Lichtblau, Hubert Treiber, Hartmann Tyrell und die Herausgeber wenden sich in lexikographisch betitelten Aufsätzen Begriffen wie Religiosität, Religionsentwicklung, religiöse Vergemeinschaftungen, Magie, Zauber, Entzauberung, Polytheismus, Charisma, Prophet, Priester, Virtuose, Weltablehnung, Mystik, Askese u. a. m. zu. In dann freilich höchst individueller Perspektive wird das jeweilige religionswissenschaftliche Diskursfeld jener Begriffe vermessen, um Webers Standort in ihm zu bestimmen. Eingeleitet wird diese Sequenz von einem in Webers Religionstext einleitenden Beitrag Kippenbergs, der eine sinnvoll gekürzte und zugespitzte Fassung seiner Einleitung in MWG I/22-2 darstellt. Einen Beitrag mit einem abschließenden, systematisch resümierenden Blick auf die unter dem einheitlichen methodischen Ansatz zu Stande gekommenen detaillierten Einzelstudien enthält der Band nicht, kann ihn vielleicht auch nicht enthalten.

Immerhin darf man sich als das Thema einer solchen Ergebnissicherung vielleicht Folgendes vorstellen: Weber hat sich der notorischen Alternative der Religionswissenschaft seiner Zeit, nämlich Religionsgeschichte entweder als Weg der Selbsterkenntnis des die Welt transzendierenden Subjektes oder als Weg der kulturanalytischen Einsicht in die Bedingtheit der modernen rationalen Institutionen von religiösen Ideen zu konzipieren, verweigert. Webers Interesse, das ja nicht primär der Religion und ihrer Wirklichkeit in der Moderne, sondern der Moderne und der Bedeutung der Religion für das Verständnis ihrer Wirklichkeit galt, verfolgte die zweite Fragerichtung, um dann allerdings die erste in sie einzuzeichnen.

Im Blick auf das Interesse, das den Band leitet, mag man sich dann fragen, wem dieses Ergebnis am Ende stärker zu Gute kommt: Einem Weber, der sich, so die Botschaft des Bandes, in seinen späteren Schaffensphasen vor allem von Religionswissenschaftlern zur Ausarbeitung seiner Kulturgeschichte hat anregen lassen - oder einer Religionswissenschaft, die sich rühmen darf, Weber zu ihren produktiven Lesern zu zählen. Aber auch diese Frage zählt vielleicht zu den Scheinalternativen.