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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

434–437

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Voigt, Christopher

Titel/Untertitel:

Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XII, 265 S. m. Abb. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 121. Lw. Euro 64,00. ISBN 3-16-147872-X.

Rezensent:

Christopher Spehr

Was führte zur Umformung der protestantischen Theologie im 18. Jh.? Neben der Einführung der preußischen Pressefreiheit und freien Meinungsäußerung unter Friedrich II. waren dies vor allem ausländische Einflüsse, allen voran der sich von England aus verbreitende Deismus. So urteilte 1798 der Marburger Dogmenhistoriker Wilhelm Münscher und begründete damit eine Interpretation, die von August Tholuck in seinem "Abriß einer Geschichte der Umwälzung, welche seit 1750 auf dem Gebiete der Theologie stattgefunden" (1839) hat, fundiert bis weit ins 20. Jh. in der protestantischen Theologiegeschichtsschreibung Aufnahme erfuhr. Die These, der englische Deismus habe die protestantische Aufklärungstheologie in Deutschland entscheidend geprägt, schien zum unumstößlichen theologischen Allgemeinwissen zu gehören.

Dass diese These der rezeptionsgeschichtlichen Überprüfung jedoch keineswegs standhält, belegt eindrücklich der Theologe Christopher Voigt in seiner Göttinger Dissertation "Der englische Deismus in Deutschland". In ihr untersucht er "die Rezeption englisch-deistischer Literatur in Deutschland auf der Grundlage von Nachrichten und Rezensionen in deutschen gelehrten und theologischen Zeitschriften zwischen 1696 und 1750, um darauf aufbauend die Deutung dieser Literatur in den entstehenden Kompendien der 1750er und 1760er Jahre nachzuzeichnen" (3). Der heuristische Fokus auf über 30 ausgewertete und akribisch im Literaturverzeichnis aufgeführte Zeitschriften ermöglicht V. eine nuancenreiche Darstellung differenzierter Deismus-Diskurse in Deutschland. Anhand dreier Rezeptionsphasen des Deismus, jenes "Grundzugs der Religionsphilosophie der Aufklärung" (Günter Gawlick), welcher in England ab dem letzten Jahrzehnt des 17. Jh.s durch "Literaten zweiten und dritten Ranges" (Ernst Troeltsch) zu einer keineswegs einheitlichen religiös-theologischen Ausdrucksgestalt des sich allmählich formierenden Bürgertums avancierte, entwirft V. für Deutschland ein von "ersten Wahrnehmungen" (Kapitel I) über "erste Annäherungen" (Kapitel II) bis hin zu summierenden "Aufarbeitungen" (Kapitel III) reichendes Bild.

Weil John Tolands "Christanity not mysterious" (1696) von der klassischen Historiographie als Anfang des englischen Deismus gewertet wird, beginnt V. seine Untersuchung mit der Rezeption dieses Werkes in Deutschland. Dort wurde es zwar einer fragmentarischen Aufnahme unterzogen, aber erst im Jahr 1722 durch Johann Lorenz Mosheim in dessen Schrift über Toland ausführlicher dargestellt. Deutlich intensiver rezipiert und mittels des Atheismusvorwurfs vielfach stigmatisiert wurden in Deutschland Tolands lateinisch verfasstes Buch "Adeisdaemon" (1709) und Anthony Collins "A Discourse of Free-Thinking" (1713). Collin's Traktat wurde darüber hinaus explizit in die zeitgenössische Debatte um Vorurteilskritik und Denkfreiheit integriert. Insgesamt blieb die englisch-deistische Literatur bis 1730 im Bewusstsein der deutschen Zeitgenossen ein "gänzlich unprofiliertes Phänomen" und eine weitere Äußerung des "ohnehin vielgestaltigen Atheismus" (61).

Mit der Wahrnehmung von Thomas Woolstons Wunderkritik und Matthew Tindals "Christianity as old as the Creation" (1730) begann um das Jahr 1730 eine neue Phase der Deismusrezeption. Nun vermehrte sich der Eindruck, dass die religionsphilosophische Literatur aus England von dem seit über einem Jahrhundert bekämpften Atheismus zu unterscheiden sei. Wie in England führte auch in Deutschland Woolstons Meinung, die Wunderberichte der Evangelien seien nicht wörtlich zu verstehen, zu größter Empörung. Zahlreiche englische Widerlegungsschriften wurden in Zeitschriften angezeigt oder als deutsche Übersetzung publiziert. In diesem Zusammenhang entstand nicht nur der Begriff "englischer Deist", der im Rahmen der deutschen Rezeption von Humphrey Dittons Apologie "A discourse concerning the resurrection of J. C." (1712) in Anlehnung an Johann Lorenz Mosheim seit 1732 geprägt wurde (78). Auch die Forderung nach deutschen Übersetzungen englischer Deisten und nach differenziertem Umgang mit heterodoxen Texten wurde laut. 1741 bracht Johann Lorenz Schmidt Tindals "Christianity" unter dem Titel "Beweis, daß das Christentum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben" anonym in deutscher Übersetzung heraus.

Während in den deutschen Zeitschriften die Nachrichten über die englisch-deistische Literatur allmählich versiegten, begann Ende der 1740er Jahre die literarische "Aufbereitung" (119). Mit der Vergegenwärtigung des Phänomens der englischen Deisten setzten sich Christoph Gottlob Grundig in seiner "Geschichte und wahre[n] Beschaffenheit derer heutigen Deisten und Freydencker" (1748) und Georg Wilhelm Alberti in seinen "Briefe[n] betreffend den allerneuesten Zustand der Religion und Wissenschaften in Groß-Britanien" (1752-1754) auseinander. Grundig verstand den Deismus als System, zu dessen "Erzvater" er Herbert von Cherbury erklärte (120). Alberti hingegen kennzeichnete den Deismus formal als "ungläubige Publizistik" (125). Eine neue, den Leser in die Entgegnung gegen gefährliche Bücher einbeziehende Art der Apologie entwickelten John Leland und Philip Skelton. Die deutschen Übersetzungen, Lelands "Abriß der vornehmsten Deistischen Schriften" (1755) und Skeltons "Die Offenbarte Deisterey" (1756), dienten vornehmlich der Vertiefung des Wissens über den englischen Deismus. Der Vermittlung von Wissen in unterschiedlichen medialen Formen widmete sich besonders Siegmund Jacob Baumgarten. Die Aufarbeitung heterodoxer Literatur nahm er im zeittypischen Stil akademischer Gelehrsamkeit in Angriff, ohne aber der "individualisierenden, Eigentümlichkeit anerkennenden Beschreibung und Erfassung heterodoxer Phänomene" Raum zu geben (173). Auf gleicher Ebene blieb Urban Gottlob Thorschmids vierbändiges Kompendium "Versuch einer vollständigen Engelländischen Freydenker-Bibliothek" (1765-1767), indem es eine möglichst vollständige Erfassung aller englischen Freidenker in bewährter apologetisch- gelehrter Weise darzubieten versuchte. Da das Werk in "die Zeit der Auflösung der direkten Konfrontationssituation mit der englisch-deistischen Literatur" fiel (200), kam es für eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem englischen Deismus in Deutschland zu spät.

Die verdienstvolle Studie von V. macht deutlich, dass die englisch-deistische Literatur in Diskussionen, die für die Entstehung der deutschen philosophischen und theologischen Aufklärungskultur zentral waren, deutlich "präsent", aber "wirkungslos" war (212). Zwar erfolgte ein produktiver Umgang mit den Widerlegungsschriften, der zu einer deutlichen Positionierung gegen empfundene Radikalitäten und einer Verteidigung eigener argumentativer Standards führte. Eine systematisch-argumentative Aneignung englischer Deisten erfolgte in Deutschland aber nicht. Für deutsche Leser blieben die englischen Deisten offensichtlich unattraktiv.

V. hat mit seiner methodisch klaren, scharfsinnig formulierten und hervorragend lesbaren Arbeit theologiegeschichtliche Akzente gesetzt, die eine wesentliche Aufhellung des englisch-deistischen Rezeptionsprozesses in Deutschland bedeuten. Allerdings ist zu fragen, ob der englische Deismus für die Entstehung der Aufklärungstheologie in Deutschland wirklich so wirkungslos war, wie es die von V. untersuchten zeitgenössischen Zeitschriftenartikel und Kompendien nahe legen. Nahm der englische Deismus nicht gerade durch die diversen antideistischen Abwehrmaßnahmen - vornehmlich durch die zahlreichen Widerlegungsschriften gegen Woolston oder Tindals "Christianity" - Einfluss auf die theologische Diskussion in Deutschland? Welche Bedeutung hatten bei der Vermittlung des Deismus nach Deutschland darüber hinaus englische Studienreisen, wie sie beispielsweise Hermann Samuel Reimarius 1721/22 unternahm? Aber möglicherweise ist das bereits eine neue Fragestellung, die aufbauend auf V.s weiterführender Forschung einer eigenen Bearbeitung harrt.