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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

431–434

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

Kritische Ausgabe. Hrsg. von A.Beutel. 1. Abt.: Schriften, 5: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797; 21798; 31799; 41806). Hrsg. von T. Jersak und G. F. Wagner.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XXXII, 244 S. gr.8. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147603-4.

Rezensent:

Wolfgang Virmond

Eine gute Ausgabe der bis vor kurzem nur in den Originaldrucken zugänglichen Werke (und womöglich der Predigten) Spaldings, des Nestors der deutschen Aufklärungstheologie, ist ohne Zweifel sehr wünschenswert. Merkwürdigerweise richtet sich das Interesse zunächst auf Spaldings letzte Schrift: Bereits 1997 erschien ein (leider modernisierter) Neudruck der 2. Auflage, 1999 dann ein kritischer Abdruck des Erstdrucks; nun also eine kritische Ausgabe aller drei Originaldrucke sowie eines postumen Drucks von 1806.

Dieses Interesse erklärt sich wohl aus der Hoffnung, einerseits die Quintessenz der (deutschen) Aufklärungstheologie und andererseits - unmittelbar vor Schleiermachers "Reden" von 1799- eine Art Inspirationsquelle für diese in der Hand zu haben. Beides trügt: Spaldings letztes Buch fällt sehr ab gegen seine früheren Werke und ist partienweise als Lebenszeugnis eines alt gewordenen Mannes zu lesen; eine Wirkung auf Schleiermacher wird sich nicht erhärten lassen (siehe Beutels Aufsatz in Schleiermacher-Archiv 19, 277-310, und die Hinweise des Rezensenten ebd., 259-261; dort im Anhang auch der wenig aufwendige kritische Abdruck der Erstausgabe von Spaldings Büchlein). Spaldings beschaulich-moralische Auffassung musste Schleiermacher gänzlich hinter sich lassen. Und wenn dennoch hier und da ein Anklang gesehen werden mag, so ist es gewiss eine parodistische Attacke auf diese Vergangenheit. Wenn nämlich Schleiermacher Motive der Aufklärung aufnahm, dann gewiss nicht solche der Berliner Spätaufklärung, gegen die ja der unerbittliche Kampf der Frühromantiker gerichtet war.

Anlage und Handhabbarkeit der neuen Ausgabe sind m. E. misslungen. - Das Konzept der Kritischen Ausgabe, von deutschen Philologen im 19. Jh. geschaffen und im 20. Jh. verfeinert, meint ja die Verbindung von drei Elementen: 1. unveränderter authentischer Text; 2. Korrektur aller Fehler, die durch Versehen des Autors, Abschreibers, Setzers entstanden sein mögen; 3. standardisierte Notierung der Varianten der Handschrift(en), Abschrift(en), Doppeldrucke sowie anderer Auflagen (darum oft historisch-kritische Ausgabe genannt).

Den Herausgebern hat vor allem Punkt 1 eingeleuchtet - tatsächlich ist ihre Wiedergabe der 2. Auflage, die als Leittext gewählt wurde, sehr akkurat und, wie mehrere Stichproben gezeigt haben, im Wortlaut zuverlässig (allenfalls 64,21f. lies ungetrennt: "höchstvortheilhaft").

Punkt 2 hingegen (dass die kritische Ausgabe Fehler im Text korrigieren und den Wortlaut der Vorlage im Apparat nachweisen muss) hat den Herausgebern nicht gefallen wollen, und so haben sie die offenkundigen und sinnstörenden Fehler des Originaldrucks in schönster Naivität reproduziert: "uns" statt "und" (149,29), "nach dem Aussprüche" (189,10), "reichlich" statt "richtig" berechnet (195,15), "engstischen" statt "mystischen" (198,31), "rechnenden" statt "rührenden" Empfindung (200,7). In all diesen Fällen mag der pfiffige Leser sich die korrekte Lesart aus den Varianten der andern Auflagen heraussuchen - doch gerade dies ist Aufgabe des Herausgebers und nicht des Lesers. Trotz des Druckfehlerverzeichnisses der Erstausgabe ist die falsche Form "ausmachen" offenbar durch alle Auflagen erhalten geblieben - also auch in der "kritischen" Ausgabe, die immerhin im Apparat notiert: "laut Druckverbesserung von a lies: ausmachten" (113; vgl. 195). - Diese Art der unkritischen Textherstellung nennt man eine "diplomatische", d. h. eine die Quelle mit allen Fehlern reproduzierende, und so wird denn zu Recht im Klappentext des Bandes der "diplomatisch getreue Text" hervorgehoben. Eine klare Entscheidung der Herausgeber für "kritische" oder aber "diplomatische" Wiedergabe hätte am Beginn der Arbeit stehen sollen.

Nun zu Punkt 3, den Varianten. Tatsächlich hat Spalding (wie auch in seinen früheren Büchern) mit jeder neuen Auflage den Text beträchtlich verändert und insbesondere erweitert. Dies kann in einer kritischen Ausgabe zu erheblichen drucktechnischen Schwierigkeiten führen und die Übersichtlichkeit gefährden, weshalb etwa die 1. Auflage und die 2. bis 4. Auflage von Schleiermachers "Reden" in zwei getrennten Bänden der Kritischen Gesamtausgabe erschienen sind. Die Spalding-Herausgeber jedoch erklärten ein "neuartiges wissenschaftliches Editionskonzept" (xvii) für erforderlich.

Demzufolge gibt es vier verschiedenartige und an verschiedenen Orten befindliche Apparate: 1. "Satzfehler" sind S. xvi f. aufgelistet (für die 2.Auflage sind dies 6 Stellen); 2. "orthographische Abweichungen" sind xix pauschal notiert (die Erklärung dazu fehlt bzw. ist unverständlich); 3. am Fuß der Textseiten findet sich der Variantenapparat (hier "Fußapparat"), mit dem Text verknüpft durch Exponenten, die zugleich die Auflage erkennen lassen, unterstützt durch / und und || als Abgrenzungszeichen; schließlich 4. der "Seitenapparat", der insbesondere die umfangreichen Zusätze und Erweitungen der 3. Auflage - erkennbar durch typographische Auszeichnung (kleinere Schrift) und die genannten Abgrenzungszeichen sowie die Auflagenbezeichnung - in den Text einschiebt. Dies ist nicht nur ablenkend und verwirrend (so bricht S. 46 der Leittext der 2.Auflage mitten im Satz ab; es folgen fast zwei Seiten der 3.Auflage in Petitdruck; dann wird der Leittext in Grundschrift wieder aufgenommen), sondern entstellt auch Spaldings Absatzgliederung. Durch die Einschübe entstehen nämlich im Leittext Absätze, von denen nicht erkennbar ist, ob sie authentisch sind. Die Prüfung der Quelle hat ergeben, dass die Herausgeber einen Absatz "erfunden" haben z. B. 55,18; 70,27; 77,4; 79,35; hingegen sind etwa die Absätze 88,27; 93,5; 96,24; 102,3 die des Originaldrucks.

Bei der Absatzgliederung wird es wirklich kritisch; sie gehört (mit der Interpunktion) zu den semantischen Elementen des Textes und darf noch viel weniger verändert werden als die bloße Orthographie. - Dabei wird es noch kurioser dadurch, dass die Edition die erste Zeile eines Absatzes nicht einzieht, obwohl sich dies in jahrhundertelanger Buchkultur zur klaren Unterscheidung der Absätze und mithin besseren Lesbarkeit bewährt hat. Schließt nämlich zufällig die letzte Zeile eines Absatzes mit dem Zeilenende (und ist auch kein Abstand zwischen den Absätzen eingeschoben), so ist der Absatz nicht mehr erkennbar und also verschwunden. Ein scharfäugiger Leser mag vielleicht 17,23; 68,10; 166,20 noch einen Absatz ausmachen, keinesfalls aber in 171,29. (Es handelt sich hierbei offenbar nicht um eine Verlagsentscheidung, denn Vorwort und Einleitung der Herausgeber haben den Erstzeileneinzug.)

Selbst wenn also der Leser sich an die vier Apparate und die vielen verwirrenden Zeichen im Text und an die Texteinschübe gewöhnen sollte (nur Engel können so viel Geduld haben), so hat er dennoch - wegen der doppelt fehlerhaften Absatzgliederung - keinen wirklich zuverlässigen Leittext.

Wie steht es nun mit den andern Auflagen? - Obwohl die Ausgabe "die Texte aller Auflagen verfügbar macht" (xv), und zwar "mühelos" (xviii), sind die 1. und 3. Auflage, die "gleichermaßen abgedruckt" sind (xv), für den Leser nicht rekonstruierbar, denn auch wenn ein Geduldsengel unter Berücksichtigung aller vier Apparate den Text einer Ausgabe beisammen hätte (was jedoch wegen des pauschalisierenden Verfahrens des zweiten, unbegreiflichen Apparates auf S. xix nicht wirklich möglich ist), so wäre er doch betrogen, denn es werden überhaupt nur Varianten des Wortlauts und (meist belanglose) orthographische Varianten (dies/dieß; fürs/für's, Samen/Saamen) mitgeteilt; die semantisch bedeutsamen Varianten der Zeichensetzung und der Absatzgliederung werden grundsätzlich nicht notiert: ohne dass allerdings der Leser irgendwo auf diese unbillige Einschränkung hingewiesen würde. -

Die 4., postume Auflage ist übrigens ohne jeden kritischen Wert; ihre besonders zahlreichen orthographischen Varianten dienen lediglich der Verwirrung des Lesers und hätten darum gar nicht aufgenommen werden dürfen.

Die "Lesbarkeit", die die Herausgeber als "erstes Editionsprinzip" aufstellen (xvii), ist mithin gänzlich missglückt - die wissenschaftliche Korrektheit, die doch an oberster Stelle hätte stehen sollen, ist freilich auch nicht erreicht. Das Sachregister ist mit 34 zweispaltigen Seiten in Petitdruck dem schlichten Text schon nicht mehr angemessen, es ist eher ein unvollständiges Wortregister; die wenigen "Erläuterungen" (ca. 1 Seite) hingegen sind oft unpassend, denn dass Racine "neben Corneille als der bedeutendste französische Dramatiker des 17. Jahrhunderts" gilt (202) oder dass Cicero "römischer Staatsmann, Redner und Philosoph" war (203), findet sich in jedem einbändigen Handlexikon und gehört darum nicht in eine kritische Ausgabe. Die Einleitung ist enttäuschend knapp; die Liste der erhaltenen Exemplare allzu unvollständig (z. B. die Berliner und Brandenburger Exemplare fehlen); die Rezeptionsgeschichte nur angedeutet.

Warum eigentlich die Herausgeber ihr postmodernes "Editionskonzept" entwickelt haben, bleibt unerfindlich. Im Rahmen der traditionellen Kritischen Ausgabe hätten sich die (semantischen) Abweichungen der 1. und der 3. Auflage problemlos darstellen lassen als lemmatisierter Variantenapparat nach Seite und Zeile, ohne Exponenten im Text, unter korrekter Berücksichtigung von Interpunktion und Absatzgliederung, und zwar mit drei Optionen: a) je ein Variantenapparat für 1.und 3. Auflage, untereinander am Seitenfuß, gefolgt von dem eigentlichen kritischen Textapparat (für alle drei Auflagen), wobei freilich viele Seiten keinen Leittext, sondern nur Apparat zeigen dürften; b) etwas eleganter wäre die Notierung der Varianten im Anhang; entweder untereinander oder hintereinander (jeweils mit geeignetem Textapparat); c) Varianten der Erstausgabe unter dem Text, die "langatmigen" und "weitläufigen" Einschübe der 3. Auflage, durch die der Text "verwässert" wird (xv), im Anhang. - Da (anders als bei Hölderlin) bei Spaldings Texten kein irdischer Leser an den bloß orthographischen Varianten interessiert ist, sollte der Verzicht darauf nicht schwer fallen.

Aber muss es denn immer gleich eine derart aufwendige Edition sein? Wäre bei einem so bescheidenen Autor wie Spalding ein fotomechanischer Nachdruck nicht hinreichend? Und wenn man doch einen Neusatz wünscht (vieles spricht dafür), dann wäre es durchaus sinnvoll und würde zugleich den geringsten Aufwand an wissenschaftlicher Finesse und Satztechnik bedeuten, alle drei Auflagen (oder vielleicht auch nur zwei Auflagen) vollständig hintereinander (jeweils mit knappem textkritischem Apparat) in einem Band abzudrucken. Den Textvergleich könnte in diesem Fall der Leser selbst leisten, und durch Hinweise im Apparat würde der Herausgeber ihn gewiss unterstützen. Dies Verfahren wäre kein Novum, denn bei Neufassungen von Gedichten (etwa Hölderlins) ist es längst selbstverständlich, und auch bei Prosaschriften (wie etwa Schleiermachers "Kurzer Darstellung", KGA I/6) hat es sich bewährt. Der größere Umfang des Bandes wäre unschädlich. Und es fiele damit auch die nur durch Willkür entscheidbare Frage nach dem zu wählenden Leittext weg - Schleiermacher etwa kannte wohl nur die Erstausgabe.