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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

425–428

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg

Titel/Untertitel:

Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XIV, 513 S. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 46. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-148305-7.

Rezensent:

Michael Roth

Die Mainzer Habilitationsschrift geht aus von der Beobachtung, dass die Berufung auf die Schrift als das maßgebliche Fundament des christlichen Glaubens für die Entstehung des Protestantismus von zentraler Bedeutung ist, andererseits aber das in der altprotestantischen Orthodoxie formulierte Schriftverständnis durch die historische Kritik aufgelöst wurde, so dass jeder Versuch, an einem protestantischen Schriftprinzip festzuhalten, vor der Aufgabe steht, sich mit den Einsichten des historischen Bewusstseins auseinander zu setzen. Ein solches Prinzip aber - so L.- kann von seiner methodischen Umsetzung nicht abgelöst werden. "Die Verhältnisbestimmung von Prinzip und Methode ist also, so die Ausgangsthese, die entscheidende Herausforderung, der sich eine protestantische Schriftlehre unter den Bedingungen der Neuzeit stellen muss" (3). Dabei jedoch sei eine doppelte Fragerichtung impliziert: "Erstens geht es darum, wie sich die Vergegenwärtigung des geschichtlichen Grundes der christlichen Religion über den Abstand der Zeiten hinweg vollzieht. Daraus leitet sich dann zweitens die Frage ab, wie sich diese Vergegenwärtigung zur Spannung zwischen Unverfügbarkeit und methodischer Erschließung verhält" (3).

Seinem Vorhaben entsprechend untersucht L. in acht Kapiteln die grundsätzlichen Veränderungen, die die Anwendung historischer Methoden für das Schriftverständnis nach sich zieht, und beabsichtigt, anhand exemplarischer und repräsentativer Darstellungsformen die wesentlichen Entwicklungslinien der Verhältnisbestimmung von Schriftprinzip und historischer Kritik nachzuzeichnen. Im ersten Kapitel (11-64) widmet sich L. zunächst dem Neuansatz in der protestantischen Schriftlehre, insofern Aufstieg und Fall des Schriftprinzips von Luther bis zum Ende des 18. Jh.s als diejenigen Problemkonstellationen gelten können, die für die Schriftlehre unter den Bedingungen der Moderne kennzeichnend seien. Werde in der Orthodoxie versucht, die Autorität der Schrift durch äußere Kriterien abzusichern, so seien es gerade diese Argumente für die Autorität der Heiligen Schrift, die durch die aufkommende Bibelkritik zersetzt würden. Von hier ausgehend erörtert L. in einem zweiten Kapitel (66-142) die Transformation der Schriftlehre in der positionellen Theologie des 19. Jh.s. L. arbeitet heraus, dass hier verschiedene Fragen in das Problembewusstsein der protestantischen Theologie traten, wie die Frage, "welche Funktion religiösen Texten aus längst vergangenen Zeiten für die Genese und inhaltliche Bestimmung der christlichen Religion in der Gegenwart zukam" (67). Zudem zeigt L., dass durch den Aufstieg der exegetischen Fächer und die exegetische Praxis die Frage nach der Legitimität der Anwendung der historischen Kritik überholt wurde und die Frage Raum griff, wie die Ergebnisse der historischen Kritik in ein angemessenes Schriftverständnis zu integrieren sind. Das dritte Kapitel (Schrift und religiöse Erfahrung [143-184]) ist der Auseinandersetzung mit Richard Rothe und Johann Christian Hofmann gewidmet. Durch den Aufstieg der Geschichtswissenschaften und die wissenschaftlichen Erfolge der historischen Kritik sei die protestantische Schriftlehre vor die Aufgabe gestellt gewesen, den geschichtlichen Charakter der biblischen Schriften zu reflektieren und so den göttlichen Anspruch der biblischen Texte mit ihrem historischen Charakter zu vermitteln. L. arbeitet heraus, dass die durch die exegetische Wissenschaft hervorgerufene Krise nicht in erster Linie in dem historischen Abstand zwischen Gegenwart und Text bestand, sondern vielmehr in der Einsicht in die Vielfältigkeit der biblischen Aussagen. In der Auseinandersetzung mit Rothe und Hofmann arbeitet L. es als ihr Verdienst heraus, deutlich gemacht zu haben, dass es einer ausschließlich subjektiven Begründung schwer möglich ist, die historische Methode in die Lehre vom Schriftprinzip zu integrieren. Im vierten Kapitel (185-257) betrachtet L. den innerprotestantischen Kulturkampf um das Schriftprinzip in der Ära des Kulturprotestantismus, in dem sich eine erhebliche Verschärfung der jeweiligen Argumentationsstrategien in der Verhältnisbestimmung von Schriftprinzip und historischer Methode feststellen lasse. Ist das kulturelle Klima der Zeit geprägt von einem rasanten wissenschaftlichen Aufschwung und einem fundamentalen Fortschritts- und Wissenschaftsglauben, "[s]o fungiert die Verhältnisbestimmung von Schriftprinzip und Methode für die Epoche des Kaiserreichs als Linse, in der sich die Adaptionsfähigkeit der protestantischen Theologie an die moderne Kultur in besonderem Maße bricht" (186). Im fünften Kapitel (Prinzip statt Methode [258-276]) untersucht L. Barths Rückbesinnung auf das reformatorische Schriftprinzip. L. macht deutlich, dass nach Barth ein methodisch verantwortetes Auslegungsverfahren das eigentliche Verstehen des Textes nicht ermöglichen kann. "In theologischen Kategorien gesprochen entbindet die radikale Autonomie Gottes von allen menschlichen Verfügungsmöglichkeiten einer Erschließung der göttlichen Wirklichkeit" (275). Im sechsten Kapitel (277-345) widmet sich L. unter dem Titel "Die Rückkehr der Methode" den Positionsbestimmungen im 20. Jh. Hierbei geht es L. auch darum zu zeigen, inwiefern Rudolf Bultmann die wesentlichen Grundeinsichten der Barthschen Wort-Gottes-Theologie teilte und doch in der Frage, wie man die Texte der Bibel methodisch erschließen kann, zu einer ganz anderen Einschätzung gelangte. Im siebten Kapitel (346- 400) verdeutlicht L. "Prinzip und Methode als ökumenische Herausforderung" und untersucht die wichtigen Impulse, die die historische Kritik dem ökumenischen Gespräch gegeben hat. Im achten Kapitel (401-439) wendet sich L. der Diskussion der Gegenwart zu, die zwar darin einig zu sein scheine, dass es keinen Weg hinter die historische Kritik zurück gibt, andererseits aber ebenso einhellig urteile, dass das, was das Schriftwort zum Gotteswort macht, nicht mit historischen Methoden erschlossen werden kann, so dass die historische Kritik methodisch in der Luft zu hängen droht. Ausführlich wendet er sich dabei u. a. den Konzeptionen von Reinhard Slenczka und Falk Wagner zu.

L.s historische Untersuchung ist detailliert und materialreich. Sie gewährt gelungene Einblicke in die Auseinandersetzung der protestantischen Theologie mit der historischen Kritik. Allerdings hätte man sich statt einer historischen eine stärker systematische Darstellung gewünscht, die deutlicher an unterschiedlichen Argumentationslinien orientiert ist.

Im Blick auf seine historischen Untersuchungen gibt L. abschließend einen Ausblick (440-469): "Die Schrift als Vermittlungsmedium religiöser Erfahrung im Kontext christlicher Erinnerungskultur". L. beginnt seine Überlegungen mit der Feststellung, dass erstens die Bibel "durch und durch Menschenwort [ist], das wie andere Texte auch den historischen Bedingungen ihrer Entstehung und Überlieferung ausgesetzt ist" (440), und zweitens diese biblischen Texte "verarbeitete Ausdrucksgestalt von Transzendenzerfahrungen" (440) sind. Damit habe eine Formulierung des Schriftprinzips sich der Aufgabe zu stellen, zu zeigen, wie einer vergangenen Transzendenzerfahrung "eine bleibende Vermittlungskraft zum Aufbau gegenwärtiger religiöser Erfahrung zugewiesen werden soll", und dabei auch "den inneren Zusammenhang zwischen der in den Texten vorliegenden Erfahrungsverarbeitung und dem Erfahrungsgrund" (440) zu bedenken. Bei der Frage, wie die "Umsetzung von in Text geronnenem Erfahrungsausdruck und eigenem Erfahrungsaufbau auf der Ebene des individuellen Bewußtseins geleistet werden kann" (451), seien die Einsichten der Rezeptionsästhetik von besonderem Wert, insofern sie sich ausdrücklich mit der erfahrungsproduktiven Wirkung von Texten beschäftigen. Vor allem seien auch kulturtheoretische Überlegungen zu bedenken. Das protestantische Schriftprinzip gewinnt nämlich nach L. vor dem kulturtheoretischen Hintergrund Plausibilität, insofern es zu verstehen ist als "ein Korrektiv, das der Angst vor Sinnverlust durch Entropie [Jan Assmann] begegnet" (457). Damit aber lasse sich das Schriftprinzip nur dann gegenwärtig verantworten, wenn man ernst nehme, dass es in der christlichen Überlieferungs- und Kulturgeschichte fortwirkt. "Ein Element religiöser Symbolisierung ist vielmehr dann als schriftgemäß erfaßt, wenn es sich über den Nachvollzug des überlieferungsgeschichtlichen Vermittlungsprozesses auf die zentralen biblischen Ausdrucksmotive religiöser Erfahrung zurückbinden lässt" (460). Ein wesentliches Element der religiösen Erinnerungskultur - so L. - sei die Textpflege, die in gegenwärtiger Verantwortung jedoch nur unter Einbeziehung der historischen Kritik betrieben werden könne. Besteht das entscheidende Problem der Verhältnisbestimmung von Prinzip und Methode in der "Spannung zwischen der unverfügbaren Selbsterschließung Gottes durch die biblischen Schriften und dem durch einen methodischen Zugriff ermöglichten Verstehen der Texte" (467), so weist L. darauf hin, dass Unverfügbarkeit nicht mit Nichtnachvollziehbarkeit gleichzusetzen sei: "Wenn eine methodische Erschließung der biblischen Schriften sich darum bemüht, durch den Aufweis von lebensweltlicher Evidenz die Plausibilität der biblischen Ausdrucksgestalten und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Bearbeitungsformen diskursiv zu ermitteln, dann erzwingt sie damit keinesfalls die Syntheseleistung der religiösen Erfahrung. Das ist entsprechend ihrem Grundcharakter als einem Ergriffenwerden auch gar nicht möglich" (469).

Mit der Frage nach einer gegenwärtig zu verantwortenden Bestimmung des protestantischen Schriftprinzips widmet sich L. einer notwendigen Aufgabe. Nachvollziehbar ist auch L.s Anliegen, dass eine solche Bestimmung des Schriftprinzips nicht abgelöst werden kann von der Frage nach der methodischen Umsetzung. Dennoch stellt sich im Blick auf L.s Arbeit die grundsätzliche Frage, ob die Untersuchung nicht tiefer hätte ansetzen müssen, nämlich bei dem protestantischen Charakter des Schriftprinzips.

Ausgangspunkt der Untersuchung von L. ist die Einsicht, dass einerseits die Berufung auf die Schrift als das maßgebliche Fundament des christlichen Glaubens für die Entstehung des Protestantismus von zentraler Bedeutung ist, andererseits aber das in der altprotestantischen Orthodoxie formulierte Schriftverständnis durch die historische Kritik aufgelöst wurde, so dass das protestantische Schriftprinzip einer neuen Bestimmung bedürftig ist. Nun ist aber doch zu bedenken, dass die Neuformulierung des Schriftprinzips nicht bloß durch die historische Kritik herausgefordert wurde, sondern durch die viel grundsätzlichere Frage, ob es denn überhaupt angemessen sei, dass im Protestantismus an Stelle der Autorität des kirchlichen Lehramtes die Autorität der Schrift steht, der es prinzipiell und methodisch Rechnung zu tragen gilt. So sind die Bemühungen der Orthodoxie, die Autorität der Schrift - sei es durch ihr Alter, die Verfasserfrage etc. - zu erweisen, durch das Anliegen zu verstehen, die Autorität der Schrift in einer anderen Weise als durch die Autorität des kirchlichen Lehramtes zu begründen. Das eigentliche Problem dieser Begründungsmodelle besteht daher nicht darin, dass sie sich angesichts der historischen Kritik nicht aufrecht erhalten lassen, sondern viel grundsätzlicher darin, dass sie im Duktus der römisch-katholischen Argumentation verbleiben, insofern sie nach einer (sichtbaren) Autorität für den Glauben fragen, den sie als Gehorsam gegenüber dieser Autorität begreifen. Die Frage nach dem Schriftprinzip (und damit auch die Frage nach der diesem Prinzip angemessenen Methode) kann daher nur innerhalb einer Erörterung des protestantischen Verständnisses vom Wesen des Glaubens und der Konstitution des Glaubens (Offenbarung) beantwortet werden, die gerade die Alternative zum katholischen Modell von Autorität und Gehorsam zeigt. Nur wenn ein protestantisches Verständnis von Offenbarung und Glaube konturiert wird, lässt sich auch nach einem protestantischen Schriftprinzip fragen, dass eben die Bedeutung der Schrift innerhalb des Prozesses der Glaubensbildung erörtert.

M. E. leidet die Arbeit daran, dass sie sich zu stark durch die historische Kritik und zu wenig durch die soeben namhaft gemachten fundamentaltheologischen Fragestellungen herausgefordert sieht. Diese grundsätzliche Anfrage will freilich nicht in Abrede stellen, dass die Untersuchung wertvolle Einblicke in die Auseinandersetzung der protestantischen Theologie mit der historischen Kritik liefert.