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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

422–425

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kessler, Michael, u. Max Seckler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie, Kirche, Katholizismus. Beiträge zur Programmatik der Katholischen Tübinger Schule von J. Ratzinger, W. Kasper u. M. Seckler. M. reprographischem Nachdruck d. Programmschrift J. S. Dreys von 1819 über d. Studium der Theologie.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2003. X, 410 S. 8 = Kontakte, 11. Geb. Euro 49,00. ISBN 3-7720-8008-1.

Rezensent:

Gunther Wenz

1811 erschien in Erstauflage Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers "Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen". Acht Jahre später publizierte Johann Sebastian Drey (1777-1853), Professor der soeben von Ellwangen nach Tübingen umgezogenen jungen Katholisch-Theologischen Fakultät, seine "Kurze Einleitung in das Studium der Theologie mit Rücksicht auf den wissenschaftlichen Standpunkt und das katholische System" (= KE). Ein reprographischer Nachdruck dieser Schrift des Gründervaters der Katholischen Tübinger Schule, deren Programmatik Einzelbeiträge von Joseph Kardinal Ratzinger, Walter Kardinal Kasper und Max Seckler gewidmet sind, ist dem aus Anlass der 150. Wiederkehr des Todestages von Drey herausgegebenen Sammelband beigegeben (145-407). Lehrreiche Hinweise zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Dreys und der KE, Beobachtungen zur Eigenart des Textes im Spiegel seines Titels sowie Angaben zu Biographie und Bibliographie bietet ein umfänglicher Artikel Secklers zum Verständnis der Einleitungsschrift von 1819 (85-143), der durch zwei kleinere Artikel zu Autor und Werk ergänzt wird (15-22.23-35).

Die KE ist neben einer dreibändigen Apologetik (Die Apologetik als wissenschaftliche Nachweisung der Göttlichkeit des Christentums in seiner Erscheinung. Erster Band: Philosophie der Offenbarung. Zweiter Band: Die Religion in ihrer geschichtlichen Entwickelung bis zu ihrer Vollendung durch die Offenbarung in Christus. Dritter Band: Die christliche Offenbarung in der katholischen Kirche. Mainz 1838-1847) das einzige Werk Dreys, das in Buchform erschienen ist. Die formale Orientierung an Schleiermacher ist offenkundig, so sehr Drey inhaltlich ganz eigene Wege geht.

Der Geist des katholischen Systems, dem die Theologie wissenschaftlich zu dienen hat, ist der Dreyschen Axiomatik zufolge durch das "Bewusstsein der kontinuierlichen Fortsetzung und lebendigen Gegenwart des Urchristentums" (123) bestimmt. Dies wird nicht nur in der KE, sondern ebenso im Eröffnungsbeitrag der ebenfalls 1819 gegründeten "Theologischen Quartalschrift" als Organ der Katholischen Tübinger Schule deutlich gemacht, in dem Drey den "Geist des Christentums und des Katholizismus" zu bestimmen suchte (ThQ [1819], 3-24.193-210.369- 392.559-575; abgedruckt in: Geist des Christentums und des Katholizismus. Ausgewählte Schriften katholischer Theologen im Zeitalter des deutschen Idealismus und der Romantik, hrsg. v. J. R. Geiselmann, Mainz 1940, 193-234). Hierauf sind ein weiterer Text Secklers (37-59), der die kultische Dimension in Dreys theologischer Architektur des Christentums herausarbeitet, und ein Beitrag Kaspers (61-83) bezogen.

Die Aktualität von Drey - in der durch Johann Adam Möhler weiter entwickelten Wesensbestimmung des Katholizismus (Die Einheit in der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus dargestellt im Geist der Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte, 1825; Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, 1832) - sieht der Kardinal entscheidend in der Idee des in seiner Kirche sich selbst tradierenden und fortwirkenden Christus praesens gegeben. Von dem Gedanken der Kirche als Christus prolongatus sieht Kasper diese Idee durch die Einsicht unterschieden, dass Christus in der Kirche als seinem Leib zwar wirksam fortlebe, ohne dass deshalb die Kirche der fortlebende Christus sei, weil dieser ihr als ihr Haupt stets auch gegenüberstehe. Mit Kaspers eigenen, im "Blick auf die Katholische Tübinger Schule" (7-13) in ihrer ersten Generation formulierten Worten: "Die Kirche ist eine lebendige geschichtliche Realität. Sie ist zwar nicht einfach der gegenwärtige Christus, aber Christus ist in der Kirche präsent" (10). Das Leben der Kirche vollzieht sich entsprechend in einer dialektischen Doppelbewegung von Regression und Progression, wie Kasper unter Bezug namentlich auf Möhler ausführt: "Regressiv muss sie immer wieder an der ein für allemal geoffenbarten Wahrheit Maß nehmen; sie bedarf der ständigen Erneuerung aus dem Ursprung, und das heißt nicht zuletzt, der ständigen Erneuerung aus dem Zeugnis der Schrift. Gleichzeitig muss sie sich progressiv auf die jeweils neue Situation einlassen und auf die Zeichen der Zeit achten. In dieser Doppelbewegung führt sie der Geist immer wieder neu ein in die ganze Wahrheit (Joh 16,13)." (73 f.)

Was den Begriff katholischer Theologie anbelangt, den die KE in seinen inhaltlichen Momenten entwickelt, so bestimmt ihn Drey zusammenfassend als "die Construcion des christlichreligiösen Glaubens durch ein Wissen auf der Basis der katholischen Kirche, in ihrem Geiste, und mit dem Zwecke, mit diesem Wissen auf eine angemessene Weise in jener Kirche zu wirken nach der Absicht des Christentums" (KE 55). Kardinal Ratzinger, dessen Anmerkungen zur Aktualität der KE dem Sammelband vorangestellt sind (1-6), sieht in dieser Definition die "bei Drey in einzigartiger Weise gelungene Verkettung von bleibender Positivität und zugleich entschiedener Rationalität des christlichen Glaubens ... sehr schön zum Vorschein [kommen]" (4). Positive Geschichtlichkeit und Notwendigkeit der Vernunft bleiben immer beieinander. "Geschichte löst sich nicht auf in Vernunft, sondern bleibt unüberholt, Christentum bleibt immer positiv. Aber Positivität wird nie Positivismus, sondern gibt uns gerade jenes Licht, auf das wir von innen her warten." (Ebd.)

Die enzyklopädische Darstellung der Hauptteile des theologischen Studiums, wie Drey sie im entscheidenden Zweiten Hauptstück seiner KE gibt, bestätigen diese Charakteristik. Vorangestellt sind in einem ersten Hauptstück einleitende Erörterungen zu den Fundamentalbegriffen der Enzyklopädie, nämlich zu Religion, Offenbarung und Christentum sowie zu Theologie, insonderheit zur christlichen, näherhin kirchlichen Theologie samt ihrem Umfang, ihrem Inhalt und ihrer Einteilung. Bevor zum Schluss des Einleitungsteils die Voraussetzungen des theologischen Studiums erörtert werden, wird der Begriff definiert, den theologische Enzyklopädie von sich selbst hat. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, die drei Hauptteile des theologischen Studiums in untergeordnete Teile zu zerlegen und methodisch abzuklären.

Die drei Hauptteile des theologischen Studiums sind nach Drey folgende: 1. Historische Propädeutik; 2. Wissenschaftliche Theologie im eigentlichen Sinne; 3. Praktische Theologie. Letztere bietet technische Anleitungen zum Kirchenregiment und zur Kirchenverwaltung bzw. zum Kirchendienst, wobei das Kirchenregiment sich auf den universalkirchlichen Zusammenhang bezieht, in dem jede Kirchengemeinde steht, die Kirchenverwaltung oder der Kirchendienst hingegen auf das Gemeindeleben, ohne welches die Universalkirche nicht zu denken ist. Die historische Propädeutik ist der Tatsache geschuldet, dass das Christentum eine geschichtliche Größe und ohne historische Betrachtung nicht zu erfassen ist. Wesentliche Gegenstände historischer Propädeutik sind die Bibel als die kanonische Urkunde des Christentums, welche genetisch, textkritisch, philologisch und hermeneutisch zu behandeln ist, sowie die Christentumsgeschichte, deren äußere Betrachtung deren tatsächlichen Verlauf ins Auge fasst, wohingegen ihre innere Dimension an der Entwicklung des christlichen Lehrbegriffs und des gemeinsamen christlichen Lebens in der, so Drey, kirchlichen Genossenschaft zu erkennen ist.

Die historische Propädeutik dient, wie ihr Name sagt, der Hinführung zur wissenschaftlichen Theologie im eigentlichen Sinne, welche das geschichtlich Gegebene des Christentums vernünftig zu erfassen sucht, ohne es einerseits seiner Positivität zu berauben und ohne es andererseits positivistisch erstarren zu lassen. Die wissenschaftliche Theologie hebt an mit einer fundamentaltheologischen Grundlegung, die in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen historischen Christentums dessen einheitliches Wesen und damit die christliche Idee vernünftig zu erfassen sucht. Diese Idee ist durch die Vernunft nicht unmittelbar erschwinglich, sondern auf geschichtlich vermittelte Weise erschlossen, aber eben für die Vernunft erschlossen. In der Geschichte des Christentums begegnet, wenn man so will, die Vernunft dem Wirk- und Finalgrund ihrer selbst. Das zu erweisen ist Aufgabe der Apologetik als zentraler fundamentaltheologischer Disziplin, deren negativer Reflex die Polemik ist, die der Abgrenzung der wahren Idee des Christentums gegen deren Fehlbestimmungen dient.

Ziel der Apologetik, der Drey selbst, wie erwähnt, ein dreibändiges Werk gewidmet hat, ist dem Titel dieses Werkes gemäß der wissenschaftliche Nachweis der Göttlichkeit, man könnte auch sagen, der Idealität des Christentums in seiner Erscheinung, und zwar in offenbarungstheologischer, religionsphilosophischer und ekklesiologischer Hinsicht. Dabei kommt der ekklesiologischen Apologetik insofern besondere Bedeutung zu, als es die Idee der Kirche, genauer gesagt: der katholischen Kirche als der gegenwärtigen Realgestalt der christlichen Offenbarungswahrheit ist, was dem wissenschaftlich ergründeten Religionssystem jene Positivität verleiht, von welcher sich die theologische Vernunft nach Drey nur unter Gefahr des Selbstverlustes emanzipieren kann. Was für die Rechtswissenschaft der Staat, für die Medizin der körperliche Organismus, das ist für die Theologie die Kirche. Durch die Beziehung auf sie gewinnen nach Drey alle theologischen Begriffe erst ihre Realität und ohne diesen Bezug "laufen sie in luftige, haltungslose Speculation aus" (KE 54).

Hat die Apologetik im Verein mit der Polemik das Fundament wissenschaftlicher Theologie durch Aufweis der katholischen Idee kirchlichen Christentums gelegt, so ist es Aufgabe der Theologie als spezieller Wissenschaft, den Zusammenhang der Bestimmungsmomente dieser Idee systematisch, also im Sinne eines Systems zu entfalten. Die auf der Fundamentaltheologie basierende Systematische Theologie besteht nach Drey aus zwei Hauptteilen: dem System der christlichen Ideologie und dem System der christlichen Kirche. "Jenes hat den christlichen Lehrbegriff, dieses die auf den Lehrbegriff gegründete Einrichtung des christlich-religiösen Gemeinwesens darzustellen." (KE 253) Was den Lehrbegriff angeht, den das System der christlichen Ideologie zu bedenken hat, so hat er eine theoretische und eine praktische Seite. Erstere stellt die Dogmatik, Letztere die Moral dar. Auch das System der Kirche als des christlich-religiösen Gemeinwesens lässt sich in zweifacher Hinsicht betrachten, nämlich hinsichtlich seiner religiösen Innenseite und hinsichtlich seiner äußeren Gestalt. Erstere thematisiert die Theorie des christlichen Kultus, Letztere die Theorie der christlichen Kirchenverfassung.

Zur Dogmatik als der der Moral vorgeordneten und zugleich auf diese hingeordneten Seite des Systems der christlichen Ideologie sei angemerkt, dass sie nach Drey "den Lehrbegriff des Christentums in der Entwickelung, die er bis jetzt erhalten hat, und in Beziehung auf die christliche Confession, deren Ueberzeugung er theilt, durch Construction des Ganzen aus seiner Idee und vermittelst systematischer Consequenz darzustellen (hat)" (KE 255). Dabei enthält sie ein fixes und ein bewegliches Element in sich. Das fixe Element der Dogmatik ist das Dogma im eigentlichen Sinne, sofern in ihm der Lehrbegriff als in seiner Entwicklung abgeschlossen vorliegt, ihr bewegliches Element ist auf den in weiterer Entwicklung begriffenen Lehrbegriff bezogen, den sie im Sinne theologischer Meinung zu gestalten sucht. Das Dogma im strikten Sinne seines Begriffs ist entweder dogma explicitum und als solches in ursprünglicher Geschlossenheit gegeben oder dogma implicitum, welches erst durch Entschluss der Kirche im Laufe ihrer Entwicklung als dogma declaratum zum Abschluss gebracht wurde.

Hinzuzufügen ist, dass nach Drey Abgeschlossenheit das entscheidende für die Kirche gültige Kriterium der christlichen Wahrheit ist, wohingegen die Meinung auch als Schulmeinung der definitiven Verbindlichkeit entbehrt, die zu konstituieren allein in der Definitionsmacht des kirchlichen Lehramtes steht. Indes kann die theologische Lehrmeinung auch und gerade in ihrer Strittigkeit zur lebendigen Fortentwicklung des kirchlichen Lehrbegriffs beitragen und ist insofern ein nicht lediglich beliebiger, sondern notwendiger Bestandteil der dogmatischen Untersuchung. Orthodox ist diese dann zu nennen, wenn sie das Bewegliche im Lehrbegriff, also die theologische Meinung im Sinne und in Übereinstimmung mit dem definierten Dogma der Kirche zu konstruieren bestrebt ist, wohingegen die Heterodoxie entweder durch Opposition zur kirchlichen Definition des Lehrbegriffs oder durch das Bestreben gekennzeichnet ist, den definitiven Status des Dogmas historisierend oder anderweitig aufzuheben. Als hyperorthodox hat die dogmatische Wissenschaft schließlich dann zu gelten, wenn sie die Beweglichkeit des kirchlichen Lehrbegriffs überhaupt leugnet oder die theologische Meinung selbst zum Dogma erhebt. Die orthodoxe Dogmatik als rechte Theorie des christlichen Lehrbegriffs unterscheidet sich von Heterodoxie und Hyperorthodoxie gleichermaßen dadurch, dass sie die Abgeschlossenheit des Dogmas der Kirche, ohne seine Definitivität zu leugnen, aufschließt für die Fortentwicklung des kirchlichen Lehrbegriffs, damit dieser offen sei für die Herausforderungen der Zeit. Daraus folgt für Drey: Die wahre Dogmatik ist weder bloße Symbolik, also einseitige Darstellung des abgeschlossenen Lehrbegriffs, noch bloße Scholastik im Sinne systematisch durchgebildeter Schulmeinung, "sondern die Verbindung zu beyden" (KE 263).

"Kann ein kleines Buch, das vor 200 Jahren als Einleitung in das Studium der Theologie geschrieben wurde, uns noch etwas sagen ...?" (1), fragt Joseph Ratzinger im ersten Satz seiner Anmerkungen zur Aktualität der KE. Man kann diese Frage in Verein mit dem Kardinal vorbehaltlos bejahen. Dreys Programmschrift ist nicht nur ein hervorragendes Dokument der Theologiegeschichte, sondern ein Text von ökumenischer Gegenwartsrelevanz. Evangelische Theologie sollte nicht versäumen, ihn intensiv zur Kenntnis zu nehmen - und sei es auch nur, um wieder einmal Schleiermachers zu gedenken und sich zu einem konstruktiven protestantischen Widerspruch auf vergleichbarem Niveau reizen zu lassen.