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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

419–422

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Seidel, J. Jürgen

Titel/Untertitel:

Die Anfänge des Pietismus in Graubünden.

Verlag:

Zürich: Chronos 2001. 575 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8. Geb. Euro 32,90. ISBN 3-0340-0513-X.

Rezensent:

Holger Finze-Michaelsen

Seidels Publikation - es handelt sich um die im Jahre 2000 an der Zürcher Theologischen Fakultät vorgelegte Habilitationsschrift des Pfarrers von Zürich-Leimbach - ist eine minutiöse, vor allem auf handschriftliche Quellen aus deutschen und schweizerischen Archiven gestützte Monographie über die Anfänge des Pietismus im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden (damals: "Freistaat der Drei Bünde"). Erstmals wird diesem Thema in einer detaillierten Quellenstudie nachgegangen und der Versuch einer Gesamtschau unternommen. S. bemerkt, dass die bisherigen Publikationen "den Pietismus in Bünden in den gesamtschweizerischen bzw. europäischen Kontext im herkömmlichen biographischen Sinne" gestellt hätten, "ohne die staats-, (psycho)sozial-, mentalitäts- und religionspolitischen Hintergründe der Bündner Bevölkerung zu berücksichtigen" (27). S. ist bemüht, dieses von ihm diagnostizierte Defizit (das sich als Pauschalurteil allerdings kaum halten lässt) zu beheben (31-67).

In der einleitenden Darstellung der eigentlichen "Anfänge des Pietismus in Bünden" (69-115) stellt S. fest: "Der Pietismus hat im evangelischen Bünden erst relativ spät einzelne Spuren im Volks- und Glaubensleben hinterlassen" (71). Während in anderen Ländern Europas, aber auch in der übrigen Schweiz (z.B. Bern) die Auseinandersetzungen um das neue Phänomen bereits längst entbrannt waren, sind derartige Spuren für das Bündner Kirchengebiet erst zu Beginn des 18. Jh.s greifbar. "Erste Hinweise, dass auch in Bünden neben den Gottesdiensten in der Kirche von einem Laien erweckliche Zusammenkünfte durchgeführt wurden, stammen aus dem Jahre 1718" in Davos (73).

Breit belegt sind dann in der Folgezeit die Verbindungen zwischen Graubünden und den Institutionen A. H. Franckes in Halle. Bereits 1714 werden die ersten Schüler von ihren Eltern in das "Paedagogium Regium" bzw. in die "Schola Latina" zur Ausbildung gegeben. Zwischen 1714 und 1752 nennt S. als Bündner Schüler namentlich 31 im "Paedagogium", elf in der "Schola" und 26 als Studenten der Universität, insgesamt also 68. Besonders ausführlich kann S. paradigmatisch die Verbindungen des Grüscher Pfarrers Andreas Gillardon d. Ä. (1661- 1723) einschließlich seiner Nachkommen belegen (88-113), der als Leser der Franckeschen Erbauungsschriften (ab 1701) wohl zu den ersten Bündnern zählt, die die Verbindung nach Halle suchten; er korrespondierte mit Francke und platzierte als einer der Ersten seinen gleichnamigen Sohn (1697-1751) in der "Schola". Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buß- und Bekehrungsideal Halles in Graubünden nur in sehr milder Form wirkte, weshalb es anfänglich auch kaum zu heftigen antipietistischen Gegenreaktionen kam. Seine Vertreter waren "mit ihrer Kritik an der Bündnerkirche wie an den Prädikanten auffallend zurückhaltend" (111) und bemüht, "separatistischen Tendenzen mit scharfer Polemik entgegenzuwirken" (113). Auch die lutherische Prägung der Halleschen Theologie scheint im reformierten Teil des Freistaates kaum zu konfessionalistischen Animositäten geführt zu haben. S. resümiert, "dass die Jünger Franckes wohl kritisch betrachtet, aber insgesamt geduldet wurden, und ihre Vertreter unter den Pfarrern starken Zulauf fanden" (115).

Den zentralen und, was die Forschungsergebnisse betrifft, ergiebigsten Teil seiner Monographie widmet S. Pfarrer Daniel Willi (1696-1755) - ohne Zweifel "der herausragendste Vertreter des Bündner Pietismus im 18. Jahrhundert" (117). Er stellt die Darstellung (117-269) unter die Überschrift: "Ein Verfechter von Gewissensfreiheit und biblischer Wahrheit".

Der Spross eines Churer Zunftmeisters und damit Angehörige der städtischen Oberschicht war zunächst Pfarrer in den Bündner Gemeinden Maladers und Thusis (1722-1733). In diesen Jahren war seine pfarramtliche Haltung bestimmt vom "Bußkampf", der Kritik an den "ungeistlichen" Verhältnissen in der Kirche und größten Selbstzweifeln, ob er wohl zum Pfarramt berufen sei. Bald überwog bei ihm das Gefühl der Frustration im Kirchendienst, da er keine Früchte seiner Predigt und Seelsorge meinte wahrnehmen zu können. Er schloss Bekanntschaft mit separatistischen Kreisen der Eidgenossenschaft und namhaften anderen Pietisten (z. B. Rock, Annoni). Nachdem er für das abgebrannte Dorf Thusis erfolgreich Geldspenden in der Schweiz sammeln und - weniger erfolgreich - dort das erste Waisenhaus Graubündens gründen konnte, legte er zur Überraschung seiner Zeitgenossen das Pfarramt nieder und privatisierte fast zehn Jahre lang in Chur, wo er "Stille, Demut und Selbstbesserung" suchte (154). Jedoch erregte seine Nähe zu separatistischen Kreisen der Stadt Anstoß, weiterhin monierte man sein Fernbleiben von Gottesdiensten und Abendmahl und unterstellte ihm die Ablehnung der reformierten Lehre in seinen nun zahlreich erscheinenden Druckschriften. Staatliche und kirchliche Organe beschäftigten sich mit dem ungewöhnlichen Fall Willi. Auf sämtlich Vorwürfe reagierte er mit dem Rekurs auf die Freiheit des Gewissens. Als die Synode von ihm die ausdrückliche Bindung seiner Lehre an die gültigen Bekenntnisschriften (Confessio Helvetiva posterior, Formula Consensus) verlangte, konterte er, er werde dies prüfen, wenn das Gleiche von allen anderen Bündner Pfarrern auch verlangt werde.

S. zeichnet das Bild eines nach außen selbstbewussten, streitbaren und geschickt operierenden Pietisten, dem jedoch aufreibende innere Kämpfe (bewegend sind die zahlreichen dramatischen Träume, die Willi aufzeichnete), Skrupel und Selbstzweifel gegenüberstehen. Trotz seiner Nähe zum Separatismus ist Willi selbst nicht zum Separatisten geworden; ja seine Erfahrungen mit diesen Kreisen ließen ihn "immer weiter von ihnen abrücken und bahnten ihm den Weg zur Rückkehr in den Kirchendienst" (238). Dies geschah 1742, als er das angesehene Churer Stadtpfarramt an der St. Regula- und an der St. Martinskirche antrat, welches er bis zu seinem Tode 1755 versah. Ein neuer Zug kam in Willis Denken, seitdem er sich in die Schriften Zinzendorfs vertieft und mit dem Grafen korrespondiert hatte. 1745 besuchte ihn erstmals ein Herrnhuter Diasporaarbeiter (J. Ph. Dörrbaum); von da an gehörte Willis Haus zu den kontinuierlichen Anlaufpunkten auf der Durchreise der "Sendboten". Die Person Willis mit ihrem Ansehen und ihren weitreichenden Verbindungen war es, die den herrnhutischen Pietismus in Graubünden "einführte", d. h. mit Wohlwollen begleitete und die entscheidenden Kontakte zu Pfarrern und erweckten Kreisen herstellte. Sie war nach 1742 eine wichtige Integrationsfigur des Bündner Protestantismus, die den Einfluss von Separatismus und Inspiriertentum dämpfte und eine Brücke zum jüngeren Pietismus schlug. "Seit Willis Tod fehlte in Bünden die entscheidende anerkannte geistige und geistliche Mitte" (329).

Im abschließenden Kapitel (271-316) referiert S. den "Herrnhutergeist in den Drei Bünden". Im Unterschied zum Hauptteil des Buches (Willi) geht die Darstellung hier nur wenig über den bisherigen Forschungsstand hinaus, auch wenn sie zahlreiche handschriftliche Quellen zitiert. In der Biographie Willis ist diese Fortführung zur "2. Generation" der pietistischen Bewegung jedoch angelegt und war darum der Darstellung bedürftig. Allerdings kann man hier kaum noch von den "Anfängen des Pietismus in Graubünden" sprechen; insofern ist der Titel der Publikation nicht ganz zutreffend. Die Herrnhuter "beerbten" den von ihnen so schroff abgelehnten Halleschen Pietismus auch in Graubünden, indem sie hier ihre ersten Anknüpfungspunkte fanden, dann jedoch Kontakte zu anderen Kreisen zu finden vermochten - Kreise, die nun weniger aristokratisch und mehr bäuerlich geprägt waren.

S. rundet seine profunde Arbeit ab mit einem umfangreichen Dokumentenanhang (333-507), der vor allem Bündner Korrespondenz mit A. H. Francke und diverse briefliche oder im Druck erschienene Äußerungen Willis wiedergibt.

Bedauerlich ist einzig, dass etliche ab 1996 erschienene Einzelstudien zum Thema S.s zwar im Literaturverzeichnis, dagegen im Text gar nicht (z. B. im Falle des namhaften Oberengadiner Herrnhuterfreundes G. B. Frizzoni, 26, Anm.) oder oft nur am Rande erwähnt sind (die 1999 erschienene, 238 Seiten umfassende Monographie über Frizzoni wird unter "diverse kleinere Arbeiten" gezählt [!], 310; der Reisebericht des Herrnhuters David Cranz von 1757 wird auf S. 61 nach einem 1913 erschienenen mangelhaften "Extract" zitiert und nicht nach der 1996 erschienenen vollständigen, kritischen Textedition). Bezugnahmen auf die jüngste Literatur zum Thema wirken nachträglich und beiläufig eingefügt; eine Auseinandersetzung mit deren Inhalt findet nur selten statt.