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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

413–415

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

1) Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. v. K. Garber. Bd. 8: Dorpat (Tartu) Universitätsbibliothek Tartu, Estnisches Literaturmuseum, Estnisches Historisches Archiv. M. e. bibliotheksgeschichtlichen Einleitung u. e. kommentierten Bibliographie v. M. Klöker. Hrsg. v. S. Beckmann u. M. Klöker unter Mitarbeit v. S. Anders.

2) Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. v. K. Garber. Bd. 9-11: Breslau (Wroclaw) Universitätsbibliothek, Abteilung II: Staatsbibliothek Breslau (St. Bernhardin). Teil 1, 2 u. 3. M. e. einleitenden Skizze zur Geschichte d. Bibliothek v. K. Garber. Hrsg. v. S. Anders u. S. Beckmann.

Verlag:

1) Hildesheim: Olms-Weidmann 2003. 250 S. Lw. Euro 128,00. ISBN 3-487-11399-6.

2) Hildesheim: Olms-Weidmann 2004. Zus. 1036 S. Lw. Je Euro 128,00. Bd. 9 (= Teil 1) ISBN 3-487-11400-3; Bd. 10 (= Teil 2) ISBN 3-487-11401-1; Bd. 11 (= Teil 3) ISBN 3-487-11402-X.

Rezensent:

Johann Anselm Steiger

Anzuzeigen ist ein exzeptionelles Arbeitsinstrument, das jedem, der sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigt, wertvolle Dienste erweisen wird. Es handelt sich um ein Langzeitprojekt, das die Erschließung der in europäischen Bibliotheken und Archiven lagernden personalen Gelegenheitsschriften zum Ziel hat. In einer ersten Etappe ist es den Herausgebern und Bearbeitern darum zu tun, das einschlägige Material "aus dem alten deutschen Sprachraum des Ostens" (Vorwort zum Gesamtwerk, 10) zu verzeichnen. Mittlerweile sind die diesbezüglich einschlägigen Bestände der Stadtbibliothek Breslau (Bde. 1-2; 9-11), der Gymnasialbibliothek Thorn (Bde. 3-6) sowie der Altbestände besitzenden Institutionen in Reval und Dorpat (Bde. 7-8) in vorbildlich akribischer Weise erschlossen worden. Somit liegen nun die ersten elf Bände eines Mammut-Unternehmens vor, und weitere sind in Arbeit. Initiiert wurde dieses (von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hauptsächlich aber von der Volkswagen-Stiftung geförderte) Unternehmen von dem Osnabrücker Germanisten und Leiter des dortigen Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Klaus Garber, der bereits lange Zeit vor der Wende und unter häufig nicht einfachen Bedingungen Kontakte in die besagten Regionen aufgebaut hat, sich in jahrelanger Arbeit mit den frühneuzeitlichen Casualia befasst hat und als der unstreitig beste Kenner der Materie vielfältig ausgewiesen ist.

Haben die Leichenpredigten schon seit geraumer Zeit das ihnen gebührende personengeschichtliche, aber auch historisch-theologische Interesse gefunden, so gilt Ähnliches keineswegs von den übrigen anlassbezogenen Personalschriften wie Epicedien, Glückwunschgedichten etc., die lange Zeit als literarisch wie künstlerisch unbedeutendes Kleinschrifttum unsachgemäß abgewertet worden sind. Erst im Zuge der sich seit dem Ende der 60er Jahre des vergangenen Jh.s vollziehenden Intensivierung der germanistischen Barockforschung, der Etablierung stärker sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichteter Fragestellungen sowie der Einsicht, dass die Literaturgeschichtsschreibung nach den heterogenen kulturellen Räumen zu organisieren ist, hat das ehedem verpönte Kleinschrifttum das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Völlig zu Recht erkennt Garber in den Gelegenheitsschriften ein die Frühe Neuzeit prägendes "Massenphänomen zunächst im protestantischen Kulturraum" (ebd., 8) und sieht seine unvergleichliche Bedeutung darin, dass überall, wo die Schulen die notwendigen poetischen Kompetenzen zu vermitteln in der Lage waren, "flächendeckend geschrieben wurde, weil überall Hochzeiten, Todesfälle, Geburtstage, Namenstage, Jubiläen, Ehrungen etc. darauf warteten, poetisch kompetent behandelt zu werden" (ebd.). Dies setzte eine am jeweils anlassstiftenden Individuum ausgerichtete, die Epoche der Frühen Neuzeit zutiefst prägende Erinnerungskultur aus sich heraus, die im Übrigen paradoxerweise genau in der Zeit begann, in Abgang zu geraten, die sich die Individualisierung zu vollenden auf die Fahnen geschrieben hatte: in der Aufklärungszeit.

Das Handbuch leistet eminent wichtige Grundlagenforschung und erfasst einen prominenten Teilbereich der frühneuzeitlichen Literaturdenkmäler des (nicht nur, aber vor allem) im letzten Jh. in Mitleidenschaft gezogenen östlichen Teils des deutschen Sprachraums. Erfasst werden sämtliche verfügbaren Quellen, die selbständig erschienen sind und deutlich einen personenbezogenen Anlass erkennen lassen - bis einschließlich 1800. Wie wichtig diese Erschließungsarbeit ist, dürfte jedem unmittelbar deutlich sein: Von nicht wenigen Gelegenheitsdrucken dieser Zeit sind nur noch wenige Exemplare bzw. häufig gar nur Unikate überliefert. Im höchsten Maße begrüßenswert ist zudem der Umstand, dass das Erscheinen des Handbuches begleitet wird von der Edition sämtlicher Quellentexte in Gestalt von Mikroformen. Auf diese Weise werden nicht nur die bibliographischen Daten, sondern auch die Quellen selbst als Volltexte zugänglich.

Auf vier Bände des Handbuchs sei hier näher eingegangen. Die Bände 9-11 verzeichnen den im Hinblick auf das personale Gelegenheitsschrifttum wichtigsten Teilbestand der im Zweiten Weltkrieg wundersamerweise verschont gebliebenen Breslauer Stadtbibliothek, nämlich der St. Berhardin-Bibliothek. Die Bestände befinden sich heute in der Universitätsbibliothek Breslau. Die insgesamt 2460 ausgewerteten Drucke lassen ein einmaliges Bild der Geistes- und Kommunikationsgeschichte im frühneuzeitlichen Schlesien entstehen, in die selbstverständlich auch zahlreiche akademische und kirchliche Theologen der Zeit involviert waren. Neben sehr prominenten Namen begegnen unter den Gefeierten, Gestorbenen und Beiträgern auch weniger oder gar nicht Bekannte, die sich dem kulturellen Gedächtnis im Medium der Kasualliteratur (und häufig nur hier) eingeschrieben haben. Hat man es in Breslau mit einem gewachsenen Bestand an Gelegenheitsschriften (mit deutlichem Schwerpunkt im 17. Jh.) zu tun, dessen Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann, so bietet sich in Band 8 (Dorpat/Tartu) ein durchaus anderes Bild. Auf Grund der hier bibliotheksgeschichtlich betrachtet völlig differenten Konstellationen (Abtransport der alten Universitätsbibliothek Dorpat nach Schweden 1709, Wiederaufbau von 1800 an) findet man hier eine kleinere, eher zufällig (etwa durch Schenkungen, Nachlässe und antiquarische Ankäufe) zusammengetragene Sammlung von hauptsächlich aus dem 18. Jh. stammenden Casualia, die indes gleichwohl wichtige Bezüge zur Region des Ostseeraumes aufweisen und ebenfalls von hohem Quellenwert sind.

Hat man sich in die die Benutzung der Bände betreffenden Erläuterungen einmal eingearbeitet, bereitet die Arbeit keine Schwierigkeiten. Die einzelnen bibliographischen Einträge sind sehr übersichtlich und detailliert gearbeitet und enthalten eine Fülle von Informationen zu Druckort, Drucker/Verleger, Provenienz, Adressaten, Autoren etc. Die Wiedergabe der (häufig sehr umfangreichen) Titelwortlaute haben die Bearbeiter auf das jeweilige Incipit beschränkt. Wäre man anders verfahren, hätte dies zu einem erheblich größeren Raumbedarf geführt, dem Benutzer allerdings auch ein wesentliches Mehr an Informationen geboten. Gleichwohl wird man die Entscheidung, die Titel auf das Kürzeste zu beschränken, angesichts der Tatsache, dass die Volltexte der Drucke flankierend ediert werden, rechtfertigen können.

Die Bände werden durch nicht weniger als elf Register (Autoren, Komponisten, anlassstiftende/angesprochene Adressaten, sonstige Personen, Drucker/Verleger [alphabetisch und nach Orten], Anlassorte, Anlässe, poetische Formen, Sprachen) erschlossen, die die Benutzung erheblich erleichtern.

Eigens der Erwähnung wert sind die dem Katalogteil vorgeordneten bibliotheksgeschichtlichen Skizzen (von Klaus Garber [Bde. 9-11] bzw. Martin Klöker [Bd. 8]), die nicht nur stilistisch glänzend geschrieben und entsprechend spannend zu lesen sind, sondern zudem eine Fülle von Informationen zur bibliothekshistorischen Situation der beiden Standorte, zu Bestandsaufbau (und -verlusten) etc. im Kontext der jeweiligen lokalen Institutionen- und Geistesgeschichte enthalten. Die Vorworte lassen erkennen, dass nicht nur das in den Bänden beschriebene Quellenmaterial von hoher historischer Bedeutung ist, sondern auch das in ihnen dokumentierte Erschließungsprojekt selbst, das eine lange Vorgeschichte hat. Die jetzt vorliegenden Arbeitsergebnisse zeugen nicht nur von Begeisterung für die literarische Kultur der Frühen Neuzeit, hohem Talent der Wissenschaftsorganisation, akribisch-bibliographischem und philologischem Spürsinn, sondern auch von europäischem Geiste und vor allem: von der Sehnsucht nach Aussöhnung zwischen Ost und West.