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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

409–411

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias, and Michael Tilly [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Book of Acts as Church History. Apostelgeschichte als Kirchengeschichte. Text, Textual Traditions and Ancient Interpretations.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 454 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 120. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017717-X.

Rezensent:

Ulrich Schmid

Das anzuzeigende Buch versammelt 17 Untersuchungen - acht in englischer und neun in deutscher Sprache - zum Text von Apg und zu dessen altkirchlicher Auslegung. Es bietet Zusammenfassungen der einzelnen Artikel in englischer und deutscher Sprache und schließt mit umfangreichen Registern zu den aufgebotenen "Stellen (in Auswahl)", "Sachen" und "Autorinnen und Autoren".

Im Einzelnen sind vertreten: J. Keith Elliott, An Eclectic Textual Study of the Book of Acts; Stanley E. Porter, Developments in the text of Acts before the Major Codices; Christopher Tuckett, How early is the Western Text of Acts?; Marco Frenschkowski, Der Text der Apostelgeschichte und die Realien antiker Buchproduktion; Eldon Jay Epp, Anti-Judaic Tendencies in the D-Text of Acts: Forty Years of Conversation; Heike Omerzu, Die Darstellung der Römer in der Textüberlieferung der Apostelgeschichte; Michael W. Holmes, Women and the Western Text of Acts; Ann Graham Brock, Appeasement, Authority, and the Role of Women in the D-Text of Acts; Friedrich Wilhelm Horn, Apg 8,37, der Westliche Text und die frühchristliche Tauftheologie; Paul Metzger, Zeitspiegel: Neutestamentliche Handschriften als Zeugnisse der Kirchengeschichte. Die Frage nach einer Hoffnung für Israel bei Lukas; Jenny Read-Heimerdinger, The Apostles in the Bezean Text of Acts; Josep Rius-Camps, The Gradual Awakening of Paul's Awareness of His Mission to the Gentiles; Tobias Nicklas, Vom Umgang mit der Schrift: Zeugen der Apostelgeschichte als Quellen christlichen Kultur- und Soziallebens; Michael Tilly, Juden, Christen und Heiden im Actatext der Peschitto. Beobachtungen zu einer syrischen Übersetzung der Apostelgeschichte; Susanne Müller-Abels, Der Umgang mit "schwierigen" Texten der Apostelgeschichte in der Alten Kirche; Martin Meiser, Textttraditionen des Aposteldekrets - Textkritik und Rezeptionsgeschichte; Katharina Greschat, Taten und Verkündigung der zwölf Apostel. Zitation und Rezeption der Apostelgeschichte bei Aphrahat.

"Verbunden", so die Herausgeber in ihrem Vorwort, "sind die einzelnen Beiträge vor allem durch die Erkenntnis, dass nicht allein die Rekonstruktion des Urtextes, sondern auch die Frage nach den Trägern der frühchristlichen Textüberlieferung zu den zentralen Aufgaben neutestamentlicher Textkritik gehört." Aus dieser Erkenntnis so etwas wie ein Programm zu machen, bemühen sich die beiden Herausgeber in einer Einleitung mit dem Titel "New Testament Textual Criticism at the Crossroads". Leider bleibt dem Rezensenten dabei manches unverständlich. Das ist nicht zuletzt der sich häufig in Andeutungen und unpräzisen Fragen erschöpfenden Darstellung der Autoren geschuldet.

Was etwa soll die folgende generalisierende Frage bedeuten, auf die die Herausgeber selbst keine Antwort geben? "To what extent does it matter that none of the Church Fathers had available to them the biblical text in its current form?" (4) Wenn damit mehr als die triviale Feststellung gemeint sein sollte, die Kirchenväter hätten die aktuelle Ausgabe des "Nestle-Aland" nicht in Händen gehalten, dann legt sich jedenfalls mit Blick auf den Text von N-A27 (und jeder beliebigen anderen modernen Ausgabe) als Gegenfrage nahe: How do you know?

Deutlich ist in jedem Fall, dass den Herausgebern die Frage nach dem "Urtext" als alleinige Aufgabe der neutestamentlichen Textkritik nicht ausreicht. Dazu muss die Frage nach den Motiven der Variantenbildung auf dem Hintergrund altkirchlicher theologischer Auseinandersetzungen und sozio-kultureller Verhältnisse treten. Apg ist für derartige Fragestellungen geradezu prädestiniert, denn die Varianz ihrer Textüberlieferung, insbesondere mit Blick auf den so genannten "Westlichen" Text, ist bekanntlich enorm. Apg ist damit ein exzellenter Ausgangspunkt, um sich jenseits der "normalen" textkritischen Aktivitäten mit wirklich interessanten Überlieferungsphänomenen beschäftigen zu können (3: "With respect to the variants in the textual traditions of the New Testament, the principle concern is not the contemplation of philological details without acknowledging the relevance for the meaning of the text, rather it concerns an historical question of extreme theological interest.").

Im Rahmen einer solchen Besprechung ist es unmöglich, alle Beiträge zu würdigen. Es sei jedoch erlaubt - die Intention der Herausgeber aufnehmend -, der methodischen Umsetzung ihrer "historical question of extreme theological interest" innerhalb der einzelnen Beiträge nachzugehen. Als Ansatzpunkt bieten sich die Beiträge von Holmes und Brock an, da beide die oft ventilierte Frage nach der "anti-feminist tendency", also der Herabwürdigung der Rolle von Frauen in der Darstellung des "Westlichen" Textes von Apg erneut behandeln. Brock bekräftigt diese Tendenz mit einigen Belegstellen, während Holmes über dieselben Texte differenzierter urteilt: "This evidence ... seems hardly sufficient to justify the degree of assurance that has been accorded the hypothesis of deliberate anti-feminist alterations to the Western text of Acts" (202). Holmes' Deutung der Befunde erscheint dem Rezensenten deutlich angemessener zu sein, da er die konkurrierenden Lesarten nicht nur nach ihrer möglichen ideologischen Tendenz befragt, sondern auch andere Aspekte wie Schreiberversehen und andere mehr erwägt. Häufig zeigt sich dann nämlich, dass Lesarten in diesem Sinne mehrdeutig sind, d. h. es lässt sich mehr als eine mögliche Ursache für ihre Entstehung angeben. Holmes stellt daher völlig sachgemäß die Frage: "how does one determine motive from effect?" Oder um ein Beispiel aus der "anti-feminist"-Debatte zu geben: das Fehlen des Kolons gyne onomati Damarius in D (Apg 17,34) marginalisiert im Ergebnis natürlich die Präsenz dieser Frau; es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass die Ursache für das Fehlen mechanisch bedingt war. Dergestalt methodisch sensibilisiert, wird einem beim Lesen weiterer Beiträge deutlich, wie einseitig gelegentlich die Interpretation textkritischer Befunde durch die exegetische Kompetenz moderner Forscherinnen und Forscher dominiert ist und wie wenig gleichzeitig die handwerkliche Kompetenz im Umgang mit Handschriften beigehalten wird.

Beispiele: Die Analysen Metzgers bezüglich einer "Hoffnung für Israel" beruhen beinahe ausnahmslos auf Varianten, die wahrscheinlich durch Vokalvertauschungen entstanden sind. Diese Varianten gehören zu den häufigsten itazistischen Verschreibungen nicht nur in neutestamentlichen Handschriften. Dass eine solche Lesart an einer bestimmten Stelle intentional entstanden sein soll, gehört damit zu den schwierigsten Nachweisen überhaupt. Metzger bietet noch nicht einmal einen Versuch. Read-Heimerdinger interpretiert die Singulärlesart von D (05) ei en to chrono tuto apokatastaneis eis ten basileian tu Israel ... (Apg 1,6) als "unfinished question" (271), ohne auch nur zu erwägen, dass es sich dabei ebenso gut um eine Textkorruptel, entstanden durch Dittographie, handeln könnte.

Nicht nur die Kenntnis "typischer" Kopierfehler bezogen auf bestimmte Zeiten und/oder bestimmte Handschriften und das Beachten sprachlicher Details wie die Kontextanbindung und mögliche stilistische Anstößigkeiten konkurrierender Lesarten gehören zum Geschäft. Es ist auch und gerade bei der Identifikation theologischer Motive für das Entstehen von Lesarten darauf zu achten, welche zeitnahen hermeneutischen Horizonte durch die Beachtung altkirchlicher Auslegungen und Verwendungsweisen bestimmter Lesarten erschlossen werden können. Nur so können wir auf anachronistischen Voraussetzungen beruhenden Argumenten auf die Spur kommen. Dies zeigt in exemplarischer Weise der Beitrag von Meiser. Er bietet umfangreiche Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte der verschiedenen Texttraditionen des Aposteldekrets (Apg 15,21.29; 21,25) und "hinterfragt [erfolgreich, U. S.] die Standardauffassung, dass die dreigliederige Textform des Aposteldekrets zwingend als ethische Vorschrift zu interpretieren ist" (433).