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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

394–396

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Karrer, Martin

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Hebräer. Kapitel 1,1-5,10.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Würzburg: Echter 2002. 278 S. 8 = Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, 20/1; Gütersloher Taschenbücher, 520. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-579-00520-0 (Gütersloher Verlagshaus).

Rezensent:

Claus-Peter März

Lange Zeit zählte der Hebräerbrief wegen seiner schwer zugänglichen Theologie zu den "Außenseitern" des Neuen Testaments. Seit mehr als 20 Jahren aber zeigt sich ein wachsendes exegetisches und theologisches Interesse an dieser ungewöhnlichen Schrift. Als deutlicher Indikator für diesen Wandel kann die beachtliche Zahl von Hebr-Kommentaren gelten, die in diesen Jahren erschienen sind - darunter wegweisende Auslegungen wie die von H. Hegermann (1988), H. W. Attridge (1989), E.Gräßer (1990-97), H.-F. Weiß (1991) und A. D. de Silva (2000). Der erste Band der Auslegung des Hebr in der Reihe "Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament" von M. Karrer reiht sich angemessen und mit eigenem Profil in diese Linie ein.

K. legt besonderes Gewicht auf die Klärung der Methodenfrage und begründet detailliert den von ihm gewählten "Interpretationsansatz" (29-32) bzw. die aus dem Text hervorgehende "Leseführung" (47-55). Er entscheidet sich angesichts der sorgfältig disponierten rhetorischen Gestaltung des Schreibens und der vom Verfasser bewusst gewählten Anonymität "für eine dem Werk verpflichtete, gemäßigt rezeptionsästhetische Lektüre", freilich "ohne die Gewinne historischer Betrachtung aufzugeben" (32). Der Hebr wird dabei als Zeuge einer "liminalen Theologie" aufgenommen, die die Adressaten bleibend auf jene "Schwellenüberschreitung" verpflichten will, die sie mit der Taufe und dem Eintritt in die christliche Gemeinde vollzogen haben. Weil diese Neuorientierung des Lebens zugleich eine gewisse Distanz von der paganen Umwelt und den Rückzug aus vertrauten gesellschaftlichen Vollzügen bedeutete, war sie auch mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden. Schon im Vorgriff versucht der Hebr deshalb, alle möglicherweise aufkommende Neigung zur Anpassung zu unterlaufen, und schärft jenes Gotteswort ein, das "den Umbruch über die Schwelle schuf" (53).

K. wendet sich damit gegen die weit verbreitete Vorstellung, der Hebr reagiere auf eine akute Glaubenskrise bei den Adressaten. Seiner Meinung nach werden diese vielmehr auf ihre neue Existenz als "Hörer des Wortes" hin angesprochen und im Folgenden dazu aufgerufen, in der Hingabe an dieses Wort nicht nachzulassen (1,1.2a; 2,1-4; 3,1-4,13). Wenn der Verfasser dabei auf Bedrohungen und konkrete Anzeichen von Haltlosigkeit und fortschreitender Glaubensschwäche verweise (etwa 5,11-6,3; 10,18-25.32 f.; 13,7-17 u. a.), dann müsse dies nicht als "direkte Abbildung der externen Faktizität zur Zeit des Schreibens" (47) verstanden werden, sondern als rhetorisches Mittel, das dem paränetischen Bemühen Nachdruck verleihen wolle.

Die innere Einheit dieses ersten Teiles liegt für K. eindeutig in der Worttheologie, die nicht nur den Abschnitt rahmt ( 1,1.2a und 4,12 f.), sondern auch die unterschiedlich gearteten Teiltexte thematisch zusammenhält. Vom Wort her bestimmt sich die Intention des Schreibens; die Worttheologie begründet seine entschiedene Orientierung an der "Schrift", an die sich Gott in der Sicht des Verfassers so nachdrücklich gebunden hat, dass er einzelne Schriftzitate geradezu als göttliche "Sprechakte" aufnimmt (61). Als antwortende Rede ist auch das Bekenntnis von dieser übergreifenden Worttheologie umfangen (vgl. 4,12 f.!). Vom religionsgeschichtlichen Kontext her erweise sich der theologische Entwurf des Hebr als ein Versuch, das Christentum einerseits als "Tochterreligion des Judentums" und andererseits "als den paganen Kulten überlegene Religion" (91) zu begreifen.

Die in früheren Zeiten heiß umstrittenen Fragen, wie Struktur, Verfasserschaft, Abfassungszeit, Adressaten, lokales Umfeld, treten für die Kommentierung, auch bedingt durch das gewählte "Lesemodell", eher zurück. K. orientiert sich zwar im Wesentlichen an dem durch Nauck begründeten dreigliedrigen Schema, hält sich aber für die Vorzüge weiterer Modelle offen: "Der Autor gewährt der Unsicherheit der Gliederung, die uns begegnet, Platz. Er tut dies zugunsten der eigenaktiven Wahrnehmung der Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser ..." (74). In der Verfasserfrage will K. wegen dessen bewusst gewahrter Anonymität keine Festlegung treffen, als Abfassungsort erscheint ihm am wahrscheinlichsten der "Umkreis von Rom" (96), in der Abfassungszeit bleibt er bei 80-100 n. Chr.

Von diesem Ansatz her lässt sich der erste Teil des Hebr (Hebr 1,1-4,13) als eine zwar vielgliedrige und differenziert ausgeführte, aber doch innerlich zusammenhängende, rhetorisch wirkungsvoll geformte Einheit verdeutlichen, die freilich im Gesamt des Schreibens nur die Einleitung darstellt. Gerahmt durch die ganz auf die Höhe Gottes ausgerichtete Worttheologie (1,1-24; 4,13 f.) hat sie in der "Erinnerung an die Größe des Menschen, die Gott durch den Weg Jesu gegen alle Not gewährleistet, ihre Mitte (2,5-18)" (230). Dem fügt sich in 3,7-4,12 eine nachdrückliche und durch den Blick auf das Schicksal der Wüstengeneration unterstrichene Mahnung an die Adressaten an, sich angesichts dieser Zuwendung Gottes doch dem Anspruch des Gotteswortes nicht zu entziehen.

Auch wenn sich mit guten Gründen weiterhin nach einer situativen Verankerung des Schreibens fragen lässt und vielleicht nicht jeder Leser K.s energischem Bemühen, nur die Worttheologie als das einigende Band in 1,1-4,13 auszuweisen, wird folgen wollen, so stellt doch der vorliegende Entwurf ohne Zweifel eine sowohl exegetisch als auch theologisch beeindruckende Verdeutlichung von Hebr 1,1-4,13 dar.

Der Kommentierung der Einzeltexte verleiht K. "ein in manchem ungewohntes Gesicht" (12). Er lässt der vorangestellten Übersetzung jeweils eine Reihe von erläuternden Anmerkungen folgen, die die gewählte Übersetzung begründen (vor allem philologische und textkritische Probleme); es folgt eine Einführung, in der die Einordnung der Texteinheit in den Gesamtzusammenhang des Hebr, die rhetorische Struktur und einzelne die Auslegung präjudizierende Sachfragen angesprochen werden; darauf folgt die eigentliche Auslegung; eine Zusammenfassung schließt den jeweiligen Abschnitt ab. Die Auslegung folgt dabei nicht durchweg versweise dem Textverlauf des Hebr, sondern ordnet bisweilen einzelne Textelemente von der Sache her zueinander, um das thematische Gewebe der Texte differenzierend herauszustellen. Der Leser, der schon durch die Einleitung grundsätzlich in die Gesamtgestalt des Textes eingewiesen ist, wird durch "Randmarginalien" über die jeweils ausgelegten Texte informiert. Dies alles ist Ausdruck eines Konzeptes, das unterschiedliche Ebenen der Informationen kenntlich machen will. Der Rezensent gesteht, dass er sich trotz großen Respekts vor dieser auf den Leser ausgerichteten Akribie bisweilen des Eindrucks einer gewissen Überorganisation nicht erwehren konnte. Streiten könnte man wohl auch über die nicht immer der Versabfolge nachgehende, sondern sachbezogenen Zuordnungen folgende Erklärung. Sie enthebt m. E. bisweilen die Auslegung den vom Text ja gerade intendierten Spannungsfeldern. Die Auslegung bekommt wegen dieses Vorgehens in manchen Phasen eher handbuchartigen Charakter. Die intensive und bisweilen bewusst ungewöhnliche Sprachgebung macht es zudem dem Leser nicht immer leicht.

Alles in allem ist festzuhalten: K. hat einen beachtlichen Einstieg in eine Kommentierung des Hebr vorgelegt. Sie führt in die Auslegung dieses schwierigen Schreibens neue Denkmöglichkeiten ein und stellt schon länger vertretene Ansätze in ein neues Licht. Der Kommentierung ist der baldige Abschluss zu wünschen.