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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

389–391

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Häfner, Gerd

Titel/Untertitel:

"Nützlich zur Belehrung" (2Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2000. XII, 394 S. gr.8 = Herders biblische Studien, 25. Geb. Euro 51,00. ISBN 3-451-27252-0.

Rezensent:

Jens Herzer

Die Pastoralbriefe sind dafür bekannt, dass sie nur zwei sicher identifizierbare Schriftzitate aufweisen (1Tim 5,18a; 2Tim 2,19b). Eine Monographie von fast 400 Seiten zur "Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen" nimmt man daher mit einiger Erwartung in die Hand. Die an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg angenommene Habilitationsschrift besticht durch ihre klare, fast originelle Struktur. Auf den relativ ausführlichen "Einblick" zu den historischen und methodischen Voraussetzungen (1-90) folgt als Hauptteil der "Durchblick" durch die Schriftbezüge in den Past (91-254). Der "Überblick" bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse (255- 273). Ein "Rückblick" nimmt den Schriftgebrauch des Paulus ins Visier und setzt ihn ins Verhältnis zu dem der Past (274- 322); in einem "Ausblick" kommen die Apostolischen Väter zu Wort (323-366).

Der erste Teil des "Einblicks" widmet sich der historischen und literarischen Einordnung der Past sowie der Klarstellung der Voraussetzungen. Der Vf. folgt dem etablierten Konsens: Die Past sind pseudepigraphische Schreiben, die als einheitliches Korpus konzipiert wurden und als solches zu interpretieren sind (2 f.). Eine andere Auffassung ist leider nur einer vereinfachenden Polemik würdig: "[D]aß die Diskussion um die Verfasserschaft der Past zu zwei deutlich getrennten Lagern geführt hat, erklärt sich am besten aus der Anstößigkeit, die eine nachpaulinische Verfasserschaft für ein bestimmtes Bibelverständnis hat: Wer die Past für Paulus reklamiert, erkennt auch sonst im NT keine Pseudepigraphie" (2). Auch in den übrigen Fragen folgt der Vf. bekannten Positionen, etwa bei der doppelten Fiktion von Absender und Adressaten, der Gattungsfrage oder der Identifikation der Irrlehrer als judenchristliche Gnostiker (18-41). Über die Debatte um die Ursprünge der christlichen Gnosis geht der Vf. recht schnell mit dem Hinweis auf Vorformen hinweg, die den schriftlich greifbaren Quellen vorausgegangen sein müssen. Bei der Annahme von Vorformen könne man jedoch nicht sagen, wie weit diese zurückreichen und womöglich - wie oft vermutet - bereits in der Zeit des Paulus vorauszusetzen sind. Das gnostische Profil wird daher beim Vf. eher postuliert als begründet. Die Schlussfolgerungen aus den erhobenen Daten gehen zu weit, als dass sie von den Texten abgedeckt wären. Die ausführliche Darstellung der als einheitlich beschriebenen Irrlehre ist freilich berechtigt, kann doch die Art des Schriftbezuges in den Past Aufschluss über die Auseinandersetzung mit den Irrlehrern geben (18).

Die Untersuchung zum Schriftgebrauch soll auch die Einheitlichkeit der Past als Schriftenkorpus bestätigen. Da hier eine Absicht der Untersuchung und ein methodisches Problem zugleich deutlich werden, sind einige ausführlichere Zitate angebracht: "Wenn sich aus 1Tim, 2Tim und Tit ein klares und einheitliches Konzept zur Rolle der Schrift erheben läßt, ist mehr geschehen als die Bestätigung des Ausgangspunktes durch eine Zirkelbewegung. Es würde sich vielmehr zeigen, daß in einer bestimmten Frage keinerlei Hinweis auf unterschiedliche Vorstellungen, und damit auch auf unterschiedliche Abfassungsverhältnisse gegeben wären. Damit ist der Grundsatz bestimmt, dem diese Untersuchung folgt: Die drei Pastoralbriefe werden als eine Größe behandelt" (13). Dass die Zirkularität des methodischen Vorgehens tatsächlich eine Voraussetzung der Untersuchung ist, macht Anm. 75 (ebd.) unmissverständlich: "Das gilt auch angesichts der Tatsache, daß der Titusbrief, anders als 1Tim und 2Tim keinen intendierten Rückgriff auf die Schrift enthält. Denn dies bedeutet angesichts der insgesamt spärlichen Schriftbezüge keinen Widerspruch. Liest man Tit zusammen mit den beiden anderen Briefen, kann, auch wenn dies paradox klingt, die genannte Fehlanzeige als Hinweis auf die Einheitlichkeit gewertet werden: Da Tit und 1Tim dasselbe Thema behandeln, kann der Verfasser auf Schriftbezüge in Tit verzichten. Weil ihm die Schrift für seine Argumentation nicht im Übermaß zu Gebote steht, wären explizite Schriftbezüge wohl auf eine Wiederholung der entsprechenden Passagen aus 1Tim hinausgelaufen." Diese spekulative Erläuterung setzt voraus, was zu erweisen ist: Die Past sind einheitlich komponiert, also muss das Schriftverständnis in 1Tim und 2Tim auch für Tit vorausgesetzt werden; und somit ist das Schriftverständnis in allen Briefen gleich, was wiederum den Grundsatz der Einheitlichkeit bestätigt. Auch traditionsgeschichtlich stimmt diese Logik nicht, denn dass zwei Schriften mit gleichartigem Schriftverständnis eine einheitliche Konzeption voraussetzen, ist zwar möglich, aber keineswegs zwingend. Das zeigt auch das Vorgehen des Vf.s im Blick auf das Schriftverständnis des Paulus (vgl. 281-312).

Die Untersuchung der Rolle der Schrift in den Past ist ein lohnendes und im Einzelnen ertragreiches Unternehmen; darin liegt der Wert der vorliegenden Arbeit. Für die Frage aber, ob diese als einheitliche Komposition anzusehen sind, trägt die Feststellung eines gleichartigen Schriftverständnisses im 1Tim und 2Tim nichts aus, da es auch unter anderen Voraussetzungen erklärt werden kann. Wenn z. B. - wie das bereits J. E. C. Schmidt und F. E. D. Schleiermacher im 19. Jh. vertreten haben - der 1Tim pseudepigraphisch ist und sich sowohl auf Tit als auch auf 2Tim bezieht, dann wäre ein dem Grundsatz von 2Tim 3,16 entsprechendes Schriftverständnis mindestens ebenso plausibel wie die Tatsache, dass Tit keinen Schriftbezug aufweist.

Als "offene Fragen", die die Untersuchung leiten, formuliert der Vf. vier Punkte: das Ausmaß des Schriftgebrauchs, das grundlegende Verständnis des Alten Testaments, die Bedeutung des Begriffes der Schrift (1Tim 5,18; 2Tim 3,15.16) sowie daran anknüpfend die Frage nach dem Verhältnis dieser Aspekte zur konkreten Aussage über die Schrift in 2Tim 3,14-17. Dass der Vf. an dieser Stelle eher das bereits in der Forschung Diskutierte prüfen als Neues finden kann, ist ihm bewusst (44).

Eine angemessene Vorstellung der profunden und sorgfältig durchgeführten Einzelanalysen des Hauptteils der Arbeit ("Durchblick") ist nicht möglich; daher will ich mich exemplarisch auf einige Bemerkungen zur Exegese von 2Tim 3,15 f. beschränken. Überzeugend ist der Nachweis, dass die Schriftaussagen "Teil einer Gemeindeleiterparänese" sind. "Es geht um die Bedeutung der Schrift in der Hand des verantwortlichen Vorstehers ...", der "durch die Schrift in die Lage versetzt wird, zum Heil für andere zu wirken" (253). "Schrift" ist das Alte Testament, das in seiner christlichen Rezeption im Kampf gegen die Irrlehrer seine Bedeutung erhält. Auch dem ist gegen den immer wieder zu findenden Bezug auf (oder: auch auf) christliche Schriften zuzustimmen. Doch ist fraglich, ob die damit verbundene Charakterisierung der Irrlehrer und die Art und Weise der Auseinandersetzung mit ihnen schon erfasst ist.

Der recht pauschale Hinweis auf das Inspirationsverständnis Philos hilft hier nicht weiter. Philo versteht die Schrift als zum Buchstaben gewordene Rede des ekstatischen Propheten, durch den hindurch Gottes Geist tönt (vgl. Praem 55); in 2Tim 3,16 hingegen geht es um das vorliegende Zeugnis der Schriften, durch das hindurch Gottes Geist wirksam ist in demjenigen, der in der Gemeinde gegen einen selektiven und ideologisierenden Missbrauch einzutreten hat. Auf die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage nach dem Verhältnis dieser Aussage über den Lehrer der Gemeinde zur Inspiration der Schrift geht der Vf. leider nicht ein. Wichtig ist allerdings die im Ergebnis formulierte Einsicht, dass die Hochschätzung des Alten Testaments sowie der spärliche und eher indirekte Bezug darauf nicht auf einen "mittelmäßigen Geist" (J. L. Houlden) schließen lassen. Auf Grund ihrer Funktion im Kampf gegen die Irrlehrer kann vielmehr der vorsichtige und grundsätzliche Umgang des Autors mit der Schrift als plausibel erwiesen werden.

Der "Rückblick" auf das Verhältnis der Rolle der Schrift in den Past und bei Paulus ist ein dem Ansatz der Arbeit entsprechend notwendiger Schritt. Da Paulus nicht zusammenhängend über die Bedeutung der Schrift reflektiert, muss sich der Vf. auf die Auswertung einiger grundlegender Stellen konzentrieren (Röm 15,4; 1Kor 10,11; 9,9 f.; Röm 4,23 f.; 2Kor 3,12-18 - in dieser Reihenfolge). Der Bezug der Schrift auf die Gegenwart der Glaubenden ("di lemas-Hermeneutik") sowie ihre paränetische Verankerung werden in den Exegesen des Hauptteils für alle diskutierten Passagen überzeugend nachgewiesen. Daraus ergibt sich die wenig überraschende Schlussfolgerung, dass die Past an paulinisches Schriftverständnis anknüpfen. "Der Schriftgebrauch der Past stellt gegenüber Paulus kein neues Paradigma dar." (322) "Das Programm in 2Tim 3,14-17 kann als Weiterführung der paulinischen Notizen gelten ..." (317). Da sich die Weiterführung einer veränderten Situation verdankt, für die die Charakteristik der Irrlehrer entscheidend ist, kommt auch hier die oben bereits formulierte Skepsis gegenüber der Identifizierung dieser Irrlehrer und damit eben der vorausgesetzten Situation zum Tragen. Dass die Schrift "jetzt nicht mehr den Glaubenden allgemein, sondern den Rechtgläubigen" gilt, wird man kaum als grundlegend veränderte Situation ansehen können. Die Formulierungen des Vf. sind entsprechend verhalten:

"Auch wenn es nicht ausgesprochen ist, steht hinter dem ersten Zitat in 2Tim 2,19 doch der Gedanke, daß das Schriftwort fraglos auf die Rechtgläubigen (im Sinne des Verfassers) zu beziehen ist. Etwas anders, aber im Prinzip wenigstens vergleichbar, liegt der Fall in 2Tim 3,8 f." (320) Für 2Tim 3,14-17 muss eine Verschiebung hin auf den Gemeindeleiter zugestanden werden, der eine vermittelnde Instanz darstellt. Ob schließlich der für Paulus prägende Aspekt der Hoffnung (vgl. Röm 15,4) bzw. der eschatologische Aspekt (vgl. 1Kor 10,11) tatsächlich "verloren gingen" (322), darf angesichts der Hoffnungs- und Zukunftsaussagen der Past gefragt werden.

Die in der Durchführung der Analysen sorgfältige und durchweg gut lesbare Arbeit trägt Wesentliches zum Verständnis des Schriftgebrauches und des paränetischen Charakters der Past bei. Das methodische caveat bleibt, dessen Berechtigung diese Untersuchung bestätigt hat und das in der Arbeit an den Past stärker zu berücksichtigen ist. Das je eigenständige Profil der Briefe kann nicht durch das Postulat einer einheitlichen Komposition aufgehoben werden, durch das man stets genötigt ist, Aussagen eines Briefes auf alle drei zu beziehen, auch wenn diese (wie hier der Tit) zu einem Thema nichts beitragen. Solchen Befunden muss methodisch differenzierter Rechnung getragen werden, ganz gleich, ob man mit der (unter Umständen auch teilweisen) Authentizität oder mit pseudepigraphischer Abfassung rechnet. Letzteres wirft (u. a.) rezeptionstheoretische Fragen auf, die bisher zwar gelegentlich gestellt, aber nicht beantwortet wurden.