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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

387 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gregory, Andrew

Titel/Untertitel:

The Reception of Luke and Acts in the Period before Irenaeus. Looking for Luke in the Second Century.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVI, 426 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 169. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-148086-4.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Die Oxforder Dissertation, die ursprünglich nach Spuren lukanischer Pneumatologie in der frühchristlichen Literatur des 2.Jh.s fragen wollte, dann aber die grundsätzliche Rezeption von Lk und Act untersucht und damit auch vom Titel her in die Nähe der in gleicher Reihe 1987 erschienenen Berner Dissertation von Wolf-Dietrich Köhler "Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus" rückt, zeigt vor allem eines: Wie schwierig es angesichts der Quellenlage ist, bei sorgfältig kritischer Methodologie zu sicheren Ergebnissen in der Frage der Rezeption von kanonischen Texten im 2. Jh. zu gelangen.

Nach einführenden Überlegungen vor allem zu Zielsetzung, Struktur und Methodik der Untersuchung (1-21) gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile: die umfängliche Frage nach der Rezeption des Lk (22-298) und die schmalere Untersuchung zur Rezeption von Act (299-351); beides mündet in eine kurze Zusammenfassung (352-354). Schon diese Zweiteilung zeigt, wie methodisch vorsichtig und inhaltlich unsicher der Vf. im Hinblick auf eine geschlossene Rezeption des lukanischen Doppelwerks im 2. Jh. ist; erst Irenäus bezeugt Lk und Act - und zwar explizit als Evangelium des Lukas und als Doppelwerk.

Damit sind wir bei der kritischen Methodologie: Bis zu Irenäus ist fraglich, ob die kanonischen Evangelien im 2. Jh. überhaupt einen wesentlichen Einfluss ausgeübt haben (so aber Massaux) oder eher mündliche Tradition dominierte und ob die Apostolischen Väter unabhängig sind von den kanonischen Evangelien (so Koester): Selbst wörtlich identisches Material ist mithin kein Beweis für literarische Abhängigkeit (8). Der Fortbestand mündlicher Tradition "should caution us from assuming that something that looks like Luke must reflect Luke" (20). Diese Koestersche Annahme, der sich der Vf. kritisch verpflichtet weiß, verhindert faktisch jeden Beweis einer Rezeption; fortan gelten nur mehr oder minder plausible Mutmaßungen.

Andererseits darf (gegen Koester) die methodische Beweisunmöglichkeit nicht grundsätzlich dazu führen, einen möglichen Gebrauch kanonischer Evangelien im 2. Jh. auszuschließen (mit Köhler) (10). Das methodisch sicherste Kriterium für den Beweis literarischer Rezeption liegt (mit Koester) im Aufweis literarischer Abhängigkeit von spezifisch redaktionellen Passagen und Begriffen eines Evangeliums. - Die Untersuchung ist mithin methodisch kritisch verantwortet und nimmt Koesters kritische Methodik ernst: "My chosen approach to the writings of second-century Christians was the use of the criterion developed by Koester, that a text may be considered to presuppose the use of a Synoptic Gospel if it contains material which owes its origin to the redactional activity of a synoptic evangelist" (294).

Der Hauptteil zu Lk untersucht nach kurzer Forschungsgeschichte (22-26) zunächst die äußere Bezeugung, u. a. Papias, Irenäus und das Muratorische Fragment (27-54), dann die Erzähltradition über Jesus (55-115) und am ausführlichsten die Spruchtradition Jesu (116-172), bevor Marcion (173-210) und Justin der Märtyrer (211-292) als besondere Zeugen der Rezeption des Lk in den Blick genommen werden. - Die äußere Bezeugung ermöglicht keinerlei Beleg für eine Rezeption des Lk vor Irenäus, es kann nicht einmal belegt werden, dass irgendjemand bis dahin inklusive Marcion das dritte kanonische Evangelium mit dem Namen Lukas verknüpfte (53 f.). Bezüglich der Erzähltradition belegen weder Joh (besonders Lk 24,12/Joh 20,3-10) noch Ignatius v. A., die Valentinianer, die Evangelienharmonien, der längere Mk-Schluss (Mk 16,9 ff.) und viele andere eine Rezeption von Lk - außer: "the dependence of the Diatessaron on Luke can hardly be questioned ... and ... the Protevangelium of James also drew on Luke" (114). Auch bezüglich des Spruchguts Jesu, das der Vf. in Did, ApcPetr, 1+2Clem, PolPhil, Nag Hammadi und anderen Texten untersucht, kommt er zu demselben Ergebnis: dass eine Rezeption des Lk nicht zwingend belegt werden kann (171 f.).

Das gilt nach Meinung des Vf.s selbst für Marcion, der doch gemeinhin als Zeuge für eine Lk-Rezeption gehandelt wird; denn erst Spätere identifizieren Marcions noch anonymes Evangelium mit dem Namen Lukas - womöglich in anti-häretischer Absicht (Irenäus, Tertullian). So bleibt Justin: "the extant writings of Justin Martyr show a number of significant affinities with Luke-Acts ...". Die dabei im Mittelpunkt stehenden Kindheitserzählungen Jesu, die Justin kennt, müssen aber nach Meinung des Vf.s nicht notwendig über Lk vermittelt sein, sondern können auch unabhängig zirkuliert sein: "... Justin need not have connected this narrative with the rest of what we now call Luke ... there is no compelling evidence that he knew the Gospel now associated with Luke in a form which included the infancy narratives" (272). Gleichwohl gilt: "Lukan redaction is clearly present in the writings of Justin, and therefore Justin must be considered to depend on Luke" (291). Fazit: "there is extant relatively little unambiguous and compelling evidence to demonstrate the extensive use of Luke in the period before Tatian and Irenaeus, and even less evidence to demonstrate its use under the name of Luke" (293). "Only with Marcion, Tatian and Irenaeus (and perhaps with Valentinus) is the evidence sufficient to demonstrate that Luke was used as a continuous whole in something like the form in which it is known today" (297). "Even the presence of Lukan single tradition in a second-century writing may not be taken as firm evidence of the reception of Luke" (298).

Im zweiten Hauptteil zu Act betont der Vf. methodisch begründet kritisch und inhaltlich aus Sicht des Rezensenten völlig zu Recht, dass selbst wörtliche Übereinstimmungen etwa in der Erzählung über den Tod eines Märtyrers (Stephanus) in Act (7,59) und dem Brief der Kirchen von Vienne und Lyon (MartLugd) nicht zwingend literarische Abhängigkeit bedeuten müssen: "the story of the death of a martyr might easily be transmitted independently of the rest of Acts, for example in a collection of martyrdom accounts" (303; vgl. 326 ff.). Der Vf. bezweifelt insgesamt auf Grund der mangelnden Beweislage für die Rezeption von Act im 2. Jh., dass Act wirklich noch im 1.Jh. verfasst worden ist:

"... this is not to argue that Acts was either not written or not in general circulation until shortly before it was made use of by Irenaeus, but it is a reminder that this possibility may not be excluded ..." (309; vgl. 353: "the question of the dating of Luke and Acts ... should remain open with the second century as a viable option ..."). - Allein einige apokryphe Apostelakten zeigen deutliche literarische Verwandtschaft zu Act auf. Aber ob diese Texte früher als Irenäus zu datieren sind (349)? Fazit: "Acts is not at all attested in the period before Irenaeus" (mit von Campenhausen), das bedeutet aber nicht, dass Act nicht bekannt war: "The use of the we-passages in the Acts of John suggests the influence of Acts ... they do indicate that Irenaeus was not alone in his knowledge and use of Acts in the late second century" (351).

So kann als Gesamtergebnis der Studie festgehalten werden: "This investigation ... has found no evidence other than that of Irenaeus and the Muratorian Fragment to demonstrate that Luke and Acts were read as two volumes of one work" (352). "I have found no external evidence to demonstrate that Luke was used before the middle of the second century, and no evidence to prove the use of Acts until somewhat later" (353).

Erfreulich kritisch also stellt sich die Studie dar und verbietet fortan "any tendency to parallelomania" (13) - welch treffender Ausdruck für die naive Unterstellung literarischer Abhängigkeit und Rezeption allein auf Grund parallelisierbarer Textpassagen!