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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

381 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef

Titel/Untertitel:

Säkularisierung - ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. VIII, 333 S. m. Tab. gr.8. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-16-148214-X.

Rezensent:

Hubert Knoblauch

Nachdem die Säkularisierung über Jahrzehnte unbezweifelt galt, wird sie in den letzten Jahren immer häufiger in Frage gestellt. Während Peter Berger in den Vereinigten Staaten eine "Desäkularisierung" verkündet, nimmt man sich hierzulande noch immer sehr unbeholfen des unerwarteten Überlebens, ja Auflebens der Religion an. Und so ist man gespannt auf Pollacks Infragestellung, da er sich als einer der namhaftesten Religionssoziologen hierzulande vor allem durch seine Studien zur Kirchlichkeit in Ostdeutschland und Osteuropa einen Namen gemacht hat.

Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der Religion in Deutschland. P. präsentiert dazu zwölf meist schon zuvor veröffentlichte Aufsätze, in denen er verschiedene empirische Aspekte der hiesigen Religion, aber auch einige grundlegende theoretische Fragen behandelt. Der Titel des Buches zitiert den Titel eines Aufsatzes, den Luckmann schon 1969 weitsichtig verfasst hatte. Wer allerdings vermutet, P. würde sich auf Luckmann stützen, irrt gewaltig. Schon einleitend stellt sich P. deutlich gegen dessen These von der "Universalität der Religion". Auch an Luhmann bemängelt er dessen funktionale Ausrichtung, die eine zu große Breite und mangelnde Spezifizierung zur Folge habe. Gegen die bekannte Kritik an funktionalen Definitionen stellt er seine "substantial angereicherte" Definition, die vom Problem der Kontingenz als dem Bezugsproblem der Religion ausgeht. Dieses allgemeine Bezugsproblem variiere nun historisch und sozial auf verschiedene Weisen. Die Religion stelle nur eine dieser Weisen dar, die sich durch die Überschreitung der Lebenswelt und die Bezugnahme auf diese Lebenswelt auszeichne. Damit sei eine Verbindung von funktionalen und substantialen Aspekten der Religionstheorie gelungen, die uns helfen könne, die religiös-kirchliche Situation in Deutschland zu verstehen.

Empirisch behandelt P. vor allem die vielfach beklagten Prozesse der Entkirchlichung. So finden wir zahlreiche Statistiken, die die weidlich bekannten Unterschiede der Kirchlichkeit zwischen Ost- und Westdeutschland aufzeigen: Im Westen und im Katholizismus wird mehr geglaubt, öfter in die Kirche gegangen, häufiger gebetet etc. (als im Osten bzw. bei den Protestanten). (Diese Beobachtungen ziehen sich durch mehrere Aufsätze, die durchaus eine härtere Hand bei der Überarbeitung und Anordnung verdient hätten.)

Als besonders schwergewichtig empfindet es P., dass die "außerkirchliche Religiosität" keineswegs deutlich belegbar sei. Dieses Thema nimmt er in mehreren Artikeln auf, in denen er sich vehement gegen die Luckmannsche These der Individualisierung wehrt. Mit Daten über Reinkarnationsglauben, Kirchgang oder Glauben an Gott kann er auf der einen Seite eine Tendenz zur Deinstitutionalisierung der Religion erkennen.Andererseits aber sieht er in seinen Zahlen keinen Hinweis auf die Ausbildung alternativer Formen der Religiosität. Aufschlussreich ist vor allem der Artikel, der sich nicht auf Deutschland beschränkt. Mit dem internationalen Vergleich des Verhältnisses von Staat und Recht möchte er der von Vertretern des Rational Choice Ansatzes vertretenen These begegnen, dass religiöser Pluralismus und Konkurrenz die Religion nicht schwäche, sondern belebe. Wie er mit ziemlich einfachen Indikatoren zeigt, wird die Religion vielmehr dann geschwächt, wenn sie in die Nähe der politischen Herrschaft gerät und mit politischen Interessen identifiziert wird.

Besonders reizvoll wird das Buch dort, wo es sich mit den Sonderentwicklungen in Ostdeutschland auseinander setzt. So zeichnet er ein nachvollziehbares, in manchen Teilen (Kapitel 11) sehr feinfühliges und originelles Bild der Entkirchlichung in der DDR, die, wie er betont, vorrangig politische Ursachen hatte, und der dramatischen Entwicklung nach 1989, die das "Paradox" enthalte, dass die Kirche, die erstmal die Nähe zum Volk gesucht habe, nach der Wende als Herrschaftskirche erschien. Der ausbleibende religiöse Aufschwung wird durch den "Entfremdungsprozess" erklärt, der Ostdeutschen alle religiösen Ideen suspekt erscheinen ließ (130).

Ungewöhnlich für P. sind schließlich die eher "qualitativen" Beiträge zur Evangelisation als religiöser Kommunikation und zu den religiösen Dimensionen im Werk Christoph Heins. Im einen Fall hat er es mit einer Pro-Christ-Veranstaltung zu tun, die er als eine Form sozialer Bewegung betrachtet. Das ergibt durchaus Sinn. Ob allerdings die Luhmannsche Begrifflichkeit der Kommunikation (Mitteilung, Information, Verstehen) spezifisch genug ist, um die Besonderheiten der dort gehaltenen Predigt Ulrich Parzanys zu erfassen, bleibt auch nach der ausführlichen Analyse fraglich.

Mit einem Fragezeichen habe ich auch die weitaus anregendere, einfühlsamere und weniger theorie-mechanische Lektüre der Texte von Christoph Hein versehen, den P. wohl als mustergültigen Autoren der vermeintlich "gottlosen" DDR betrachtet. Denn gerade an diesem Beitrag zeigen sich auch die Probleme des Zugangs von P., die durchaus ans Grundsätzliche seiner Religionsdefinition rühren: Lesen wir doch dort etwas überrascht, dass das Überschreiten der Erfahrung die Bewältigung des Kontingenzproblems bedeutet (280). Ist also die Transzendenz die Lösung der Kontingenz? Tatsächlich scheint P.s Definitionsversuch den Eindruck zu vermitteln, Kontingenz und Transzendenz ("Überschreitung der Lebenswelt") zu verknüpfen. Allerdings tut sie das auf eine theoretisch nicht nur synkretistische, sondern inkonsistente Weise: Sein Begriff der (religiösen) Kontingenz ist unmittelbar an den des (sozialen) Systems im Luhmannschen Sinne gebunden. In einem solchen System hat jedoch die "Lebenswelt" ebenso wenig ihren Platz wie die "Erfahrung" (die ja nicht einmal Teil des sozialen Systems ist).

Neben der Theorie ist aber auch seine Argumentation für eine nur teilweise Säkularisierung am Beispiel Deutschlands keineswegs sehr überzeugend: Denn die neuere These der Desäkularisierung etwa Bergers bezieht sich ja gerade nicht auf Deutschland (und Europa), das für ihn lediglich eine kleine Insel der Säkularisierung in einem Meer der Religion ist. Auch die scharfen Attacken gegen Luckmann verfehlen doch sehr ihr Ziel. Zum einen hat Luckmann selbst nie eine Individualisierungsthese vertreten, sondern redet durchgängig von Privatisierung (ein Begriff, den P. leider nur anschneidet). Zweitens sind P. offenbar die substanzialisierenden Veränderungen des Luckmannschen Religionsbegriffes, auf die ich mehrfach hingewiesen habe, noch gar nicht aufgefallen. Und schließlich wurde ihm schon von anderer Seite vorgehalten, dass er die Ausprägungen eines weiten Religionsbegriffes nicht mit einer Empirie erfassen kann, die einen engen kirchensoziologischen Religionsbegriff operationalisiert.

Von dieser Kritik abgesehen sei das Buch Lesern und Leserinnen, die sich für die Situation der kirchlichen Religion in Deutschland interessieren, dennoch empfohlen. Es enthält eine Reihe von höchst bedeutsamen Daten, feinfühlige Rekonstruktionen der kirchlichen Entwicklungen und ihrer jetzigen Zustände - und schließlich gibt er den Kirchen auch noch zahlreiche nützliche Ratschläge an die Hand.