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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

372–375

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gruenwald, Ithamar

Titel/Untertitel:

Rituals and Ritual Theory in Ancient Israel.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XIV, 278 S. gr.8 = The Brill Reference Library of Judaism, 10. Geb. Euro 89,00. ISBN 90-04-12627-9.

Rezensent:

Adrian Schenker

Dieses Buch möchte Riten der Bibel und des Judentums im Lichte zeitgenössischer Ritualdeutungen in der Religionswissenschaft verstehen. Das ist nach dem Verfasser, Ithamar Gruenwald, bisher noch nicht getan worden. G. lehrt an der Universität Tel Aviv. Sein hier zu besprechendes Buch besteht aus sechs Kapiteln, die schon früher veröffentlicht worden waren und jetzt zusammengestellt und neu gefasst als Monographie erscheinen (XII-XIII). Diese Entstehungsgeschichte erklärt die vielen Wiederholungen. Vorwort und besonders Kapitel 1 machen klar, dass G. eine behavioristische Erklärung des Rituellen vertritt. (Er verwendet stets den englischen Begriff Ritual, welchen man bald als Ritus, bald als Ritual und manchmal als "das Rituelle" übersetzen müsste.) Er reiht sich in die Forschungsrichtung ein, die Walter Burkert, René Girard und in anderer Weise auch Jan Assmann vertreten und der gemäß die Riten und Rituale nicht das sind, was die Religionen über sie sagen, sondern etwas Verborgenes oder besser: etwas Getarntes oder Kaschiertes, das man entdecken und freilegen muss. G. nennt es: Riten dekodieren (decode) (4). Er hält es für eine dringende Aufgabe, solche modernen anthropologischen Erkenntnisse für biblische und jüdische Riten und Rituale endlich fruchtbar zu machen (184).

An zahlreichen Stellen sowohl in Kapitel 1 als auch in den folgenden beschreibt oder definiert er das Rituelle (IX.2.7.13-14 usw.). Ich führe eine seiner Umschreibungen an: "The human mind models acts to make them constitutively functional in life processes that support and maintain existence" (189). Er bezeichnet sie als "behavioural" und "transformative actions" (13- 14). Ihr Zweck ist die Transformierung einer Bedrohung in eine Entspannung für den Vollzieher der Riten. Diese Transformierung ist mental (188). Im Menschen (human mind) gibt es ein spezifisches oder autonomes Bedürfnis, sich "physiologisch und psychologisch" in Riten zu äußern, analog wie es z. B. auch das Bedürfnis der sprachlichen Äußerung gibt (13 und oft). Diese rituellen Äußerungen haben ihre eigene Logik, die aus dem Vollzug der rituellen Handlung selbst erschlossen werden muss.

Daher wird G. nicht müde, ganz allgemein religiöse und insbesondere theologische Deutungen des Rituellen auszuschließen, weil sie angeblich den Blick auf das Tun des Ritus verstellen, auf das alles ankommt, wenn das Eigentliche des Rituellen erfasst werden soll. Es gibt keine allgemeine Erklärung der Riten, denn jedes rituelle Tun hat seine eigene Logik, weil es einer spezifischen Situation entspricht (7).

Kapitel 2 unterscheidet im biblischen Befund zwei verschiedene Arten von Riten: solche, die vor der Entstehung einer institutionellen Offenbarungsreligion geübt wurden, und solche, die zu einem voll organisierten religiösen System gehören. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der Genesis auf der einen Seite, aus den andern Büchern der Tora auf der andern, denn mit der Sinaioffenbarung hat sich die kulturelle und rituelle Situation verändert. G. behauptet nicht, dass die biblischen Erzählungen geschichtlich genommen werden müssten, aber sie spiegeln "paradigmatisch" zwei Stufen kultureller und religiöser Entwicklung wider (68). Diese entsprechen der Ökonomie von Schafzüchtern für die erste, der Wirtschaftsform von Ackerbauern, Rinderzüchtern sowie einer monarchisch verfasster Gesellschaft für die zweite Stufe. In der älteren (vor allem in der Genesis als einer paradigmatischen Erinnerung dargestellten) Lebensform, in der es nach G. ein "Ethos", aber keine "Religion" gab, gab es nur "spontane, ganz natürliche Riten" (70 f.).

Kapitel 4 und 5 untersuchen die Bedeutung des Rituellen im Judentum unter den in Kapitel 1 und 2 gegebenen Voraussetzungen. Hier unterstreicht G. die seiner Meinung nach festzustellende Unzulänglichkeit der Erklärung von Mythos und Ritus in der Forschungsgeschichte. Kapitel 5 bespricht den Ritus, den G. als Hauptritus ansieht, das (alttestamentliche) Opfer. Er beleuchtet es am Beispiel des Jom kippur von Lev 16, wobei er sich auf Jacob Milgroms jüngst erschienenen Leviticus-Kommentar stützt, ihn aber mit Hilfe seiner anthropologischen Ritualtheorie ergänzen möchte; die anthropologische Perspektive fehlt s. E. in Milgroms enzyklopädischer Erklärung von Leviticus. Kapitel 6 schließlich untersucht das Abendmahl Jesu vor allem in der paulinischen Darstellung im 1Kor unter den gleichen Vorzeichen. G. definiert das Opfer als "act(s) of breaking and destruction ... that mimetically (enact) the actual disturbance, or destruction" (205). "It [das Opfer] can aim at rectifying an event to which it analogically relates" (207). Es ist deutlich, dass G. wie René Girard beim Opfer von der Mimesis spricht, aber in einem andern Sinn, weil für ihn Opfer nicht Ableitung und Kaschierung von Gewalt ist. Opfer bilden wie ein Theaterspiel Krise und Überwindung derselben ab und bewirken eine Katharsis, in dem Sinne wie Aristoteles die Tragödie beschreibt (206).

Bibliographie und Index der zitierten Stellen aus der biblischen und rabbinischen Literatur schließen das Buch ab. Es wird praktisch nur englischsprachige oder ins Englische übersetzte Literatur berücksichtigt.

Es sei gestattet, zu einem Buch, das Gewicht auf die Neuheit der gewählten Methode legt (186) und das den Anspruch erhebt, biblische Riten in der Perspektive moderner Anthropologie neu zu verstehen, einige kritische Fragen zu stellen. Ist das Vorhaben gelungen, die hier vorgelegte behavioristische Interpretation als die plausibelste Erklärung des Rituellen zu erweisen? M. E. ist das nicht der Fall, weil es den rein praktischen ungedeuteten Ritus wohl gar nicht gibt. Ein Ritus ist nie ohne sprachlichen Ausdruck. Jeder Ritus hat ja zumindest einen Namen. Tun und Idee von dem Tun lassen sich nicht trennen. Wer die Erklärung jener, die die Riten praktizieren, als verdunkelnde Superstruktur beiseite schiebt, um sie jenseits der gegebenen Deutungen neu zu interpretieren, muss Rationalität und Bewusstsein abwerten und unbewussten Kräften die ausschließliche Erklärungskraft zuschreiben. Dass ein solches behavioristisches Menschenbild manche philosophische Fragen aufwirft, liegt auf der Hand. Es darf daran gezweifelt werden, dass ein solches Modell der Erklärung des Rituellen plausibler ist als das, welches die Vollziehenden der Riten selber haben. Die Dinge liegen analog zur Bedeutung von Wörtern: Liegt die Erklärung der Wortbedeutung im etymologischen Ursprung, der dem Sprechenden in der Regel nicht mehr bewusst ist, oder in der Wortbedeutung der gegenwärtigen Bedeutungsentwicklung, die dem Sprechenden rational vertraut ist? Wörter entwickeln ihre Bedeutung in einer linguistischen Geschichte und Tradition, und ähnlich wird es eine Bedeutungsentwicklung von Riten in einer soziologischen und üblicherweise religiösen Traditionsbildung geben.

M. E. gelingt es G. nicht, sein Programm einer Deutung der Riten rein aus sich selbst und unter methodischer Absehung von allen deutenden Elementen der Ritenvollzieher überzeugend durchzuführen. Dies geht aus manchen seiner eigenen Formulierungen hervor, z. B. (Hervorhebungen von A. S.): "Rituals do not work before people begin to view them in terms of functioning in a coherent system" (69). Begriffe wie to view und a coherent system implizieren rationale, sprachliche Deutung, ohne die Riten nach G.s eigener Überzeugung gar nicht vollzogen würden. "Rituals create ... their own meaning in the very act of doing and in the logic that constitute the processual manner in which they are done ... Evidently, this is a different kind of meaning to the meaning, which emerges in an ideational context" (198). Das ist aber nicht einzusehen, weil ein Tun nie ohne Idee von seiner Bedeutung existiert. Diese Idee mag "falsch" sein, weil sie im Lauf der Geschichte die ursprüngliche Bedeutung durch eine andere, neue ersetzt hat, aber ohne "Idee" würde der Ritus zu existieren aufhören. Im Übrigen verweist der Begriff Logik auf Verstehbarkeit, Rationalität, die im Rituellen selbst liegt, nicht nur in einem "ideational context" (!). Ritus und Idee sind demgemäß auch nach G. untrennbar.

Ferner steht das in diesem Buch entworfene zweistufige Bild von der israelitischen Geschichte und Religionsgeschichte m.E. auf schwachen Füßen. (Es sei darauf hingewiesen, dass Werke wie die Max Webers oder Rainer Albertz' hier nicht vorkommen.) Das Opfer wird auf blutige Opfer reduziert, als ob es im Alten Testament keine vegetabilischen Opfer gäbe, und es wird auf die sühnende Funktion eingeengt (die, wie beiläufig gesagt sein soll, ohne die sprachliche Deutung aus dem reinen Ritual des Tieropfers nicht abgeleitet werden könnte). Das entspricht nicht der Vielfalt der in der Bibel genannten Opferarten. Die Aussendung des "Sündenbocks" ist doch wohl kein Opfer (219.221). (Auf S. 70 ist ein sinnstörender Druckfehler: "materials concepts" stehen geblieben.) Das Buch hinterlässt beim Rezensenten einen insgesamt zwiespältigen Eindruck.