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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

332–334

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian

Titel/Untertitel:

Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 2003. 296 S. 8. Geb. Euro 15,90. ISBN 3-7668-3847-4.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Ein wenig anders gelagert, als der Titel es vermuten lässt, enthält der Band Aufsätze und Predigten des Heidelberger Praktischen Theologen Christian Möller zu unterschiedlichen Themenbereichen. Ihren Zusammenhang erhalten sie allerdings in der Tat durch den Begriff und vor allem durch die inhaltliche Füllung des Leitwortes "Spiritualität". Gleichzeitig wird "Spiritualität" auf diesem Wege in immer wieder neuen Kontexten und Bezügen beleuchtet bzw. beleuchtet umgekehrt diese: Theologie, Kirche, geistliches Amt, Umgang mit der Zeit, Gottesdienst und geistliches Singen.

Nach einem Kapitel, das den biographischen Hintergrund der inhaltlichen Ausführungen skizziert, folgt gleich das Herzstück des Buches: Die Beschreibung reformatorischer Spiritualität, die M. in dem Begriff des "heilsamen Risses" fasst. Es ist sein erklärtes Anliegen, dieses diffuse "Modewort" (39) in reformatorischer Perspektive nicht aufzugeben, sondern theologisch präzise zu füllen, da sich in diesem Wort der "Hunger nach Erfahrung, nach authentischer ganzheitlicher Erfahrung inmitten einer zerrissenen entfremdeten Welt" (43) melde. Auf der Grundlage einer allgemeinen Definition ("Spiritualität ist Offenheit und Durchlässigkeit für das Geheimnis der uns umgebenden Wirklichkeit", 44) sucht M. die reformatorische Füllung auf der Grundlage von Luthers Erkenntnis des "homo incurvatus in se ipsum". Zum Zentralbegriff wird das "magnificare peccatum", das Luther als Kern paulinischer Theologie versteht, also "die Sünde groß zu machen ..., sie ans Tageslicht zu zerren und sichtbar zu machen" (45). Dies wird möglich im Blick auf Jesus Christus und sein Kreuz, das einerseits die Zerrissenheit (dieses Wort verwendet M. fast deckungsgleich mit dem Sündenbegriff) jedes Menschen deutlich macht, andererseits die Sünde als vergebene qualifiziert. Der "homo incurvatus in se ipsum" (zu allen Zeiten und erst recht heute) leugnet jedoch die Zerrissenheit seiner Existenz und sucht sich unangreifbar zu machen, indem er versucht sich "abzudecken" (45). Damit aber verhindert er, dass der Geist eindringen kann und er durchlässig wird für das Geheimnis der uns umgebenden Wirklichkeit. Nur die Erkenntnis der Sünde kann den "Riss" in der Existenz bewirken, durch den Gottes Geist einströmen kann. Ohne diesen Erkenntnisprozess würden spirituelle Übungen und Techniken, aber auch Programme wie das "spirituelle Gemeindemanagement" schaden, weil sie den Menschen vor dem "erfrischende[n] Sauerstoff von Gottes Geist" (47) noch mehr abdichten und die Atemlosigkeit verstärken. Wie aber nun zum heilsamen Riss kommen, sprich: reformatorische Spiritualität praktisch gestalten? M. empfiehlt hierfür die Wiederbelebung der Beichte und des allgemeinen Sündenbekenntnisses in der Abendmahlsfeier.

In diesen praktischen Konsequenzen spitzen sich zwei miteinander zusammenhängende Fragen zu, die sich durch die folgenden Kapitel hindurchziehen: Welche Menschen hat das Buch im Blick, welche universal-anthropologischen Gegebenheiten werden impliziert? Und: Wie ordnen sich theologische Erkenntnisse und menschliche Erfahrungsgehalte einander zu? Theologische und psychologische Begründungsmuster gehen ineinander über. Nicht zuletzt dadurch wird suggeriert, dass eine durchgängige Zerrissenheit und Schuld eigentlich die Grundbefindlichkeit des Lebens von Menschen heute ist - wenn sie sie nur zulassen würden. In der diesem Kapitel folgenden Predigt wird die Konstruktion dieser Erfahrung sehr anschaulich: "Dir wird immer elender in deiner Seele. Du weißt überhaupt nicht mehr, was mit dir los ist, gehst von einem Arzt zum anderen, und keiner kann dir helfen. Mit irgendeiner kleineren oder größeren Schuld hat es irgendwann einmal angefangen. Und dann hat sich noch dieses oder jenes dazugesellt, und du hast es immer bagatellisiert, wie eben so eine Schuld bagatellisiert wird: war ja nicht so schlimm; ist dumm gelaufen; reg dich nicht so auf usw. Schließlich rutscht die Schuld so tief weg, dass sie sich irgendwie in deinem Unbewussten oder ganz tief in deiner Seele austobt, dir selbst vielleicht gar nicht einmal mehr bewusst. Sie setzt sozusagen Metastasen in deiner Seele frei ..." (60).

Einmal abgesehen davon, dass existentielle Sündenerkenntnis etwas rasch identifiziert wird mit "irgendeiner kleineren oder größeren Schuld", beschreibt M. hier ein Lebensgefühl, das nur für eine Minderheit zutreffen dürfte (und unter hochverbundenen Kirchenmitgliedern vermutlich überdurchschnittlich häufig ist). M. setzt aber nicht nur mit dem weiten Ansatz bei einer konfessionell unbestimmten Spiritualität allgemein anthropologisch an, sondern die zitierte psychische Befindlichkeit wird auch zur Argumentationsgrundlage seines gesamten Ansatzes. Hier aber wird es wissenschaftlich und theologisch schwierig: Mit der De-Konstruktion der durch die Abdichtung gegen die Sünde entstandenen psychischen Befindlichkeit fallen auch wesentliche Grundlagen des Ansatzes. Die Alternative, das beschriebene Lebensgefühl der Minorität als "richtiges" zu definieren und das der Mehrheit als Verdrängung, führt ebenfalls nicht weiter, denn dafür könnten wiederum nur theologische Argumente in Anschlag gebracht werden, womit ein Zirkelschluss vollzogen wäre: Die Richtigkeit der theologischen Erkenntnis wird mit der psychischen Befindlichkeit begründet und für diese ist das Kriterium die theologische Erkenntnis. Das mag logisch spitzfindig klingen, erklärt aber das Unbehagen an dem universalen anthropologischen Anspruch des Buches, das die Rezensentin beim Lesen beschlichen hat.

In den folgenden Kapiteln werden in der Tat die Themen verhandelt, die in der Kirche gegenwärtig virulent und brisant sind, ,wie die Richtung gegenwärtiger Reformprozesse, die Rolle des geistlichen Amtes oder die Organisationsformen der Kirche. Die Analysen zeugen dabei von sensibler Wahrnehmung, die prägnant auf den Punkt gebracht wird. Ich nenne nur zwei Beispiele: die Verwechselung von "Generalismus" und "Dilettantismus" im Gemeindepfarramt und die drei hindernden "Denkblockaden" in den anstehenden Reformprozessen - Pfarrerzentrierung, ein defizitäres Denken in der Konzentration auf die Mängel sowie eine appellative Sprache als Konsequenz eines fordernden Denkens. Eine besondere Stärke des Buches liegt zudem in den meditativ angelegten - und bewundernswerte Kenntnis verratenden - Bezügen zu biblischen Traditionen und reformatorischen Einsichten. Hier nur ein Beispiel: Die prägnant elementarisierte Darstellung des von Luther formulierten Zirkels von Predigen und Hören, die sich gegenseitig bedingen und spiralförmig aufeinander aufbauen, trifft Wesentliches für heutige homiletische und kybernetische Fragestellungen (106 f.)

Demgegenüber überzeugen die konstruktiven Vorschläge für eine verbesserte kirchliche Praxis jedoch weniger - was nicht unerheblich mit den genannten anthropologischen und theologischen Schwierigkeiten zusammenhängt. M. schlägt meist die Wiederbelebung traditioneller Motive oder Handlungen als Weg aus aktuellen Problemen vor, ohne dass deutlich wird, was diese nun konkret wirklich austragen. Was zum Zurücktreten dieser Traditionen geführt hat (z. B. der Hirtenmetapher für das Pfarramt, 107 ff., oder der Beichte, 51 f.), wird nicht wirklich reflektiert und schon gar nicht aufgezeigt, inwiefern (bzw. durch welche Modifikation der Traditionen) diese Gründe mittlerweile keine Gültigkeit mehr besitzen. Konkreter und ertragreicher wird es da, wo M. gelungene Beispiele aus der kirchlichen Praxis anführt, die sich nicht als "Gegengesellschaft" positionieren, sondern an die Chancen der Gegenwart anknüpfen wie flexible Gottesdienstzeiten, Urlaubsgemeinden, neue Ehrenamtlichkeit oder Sieben-Wochen-Ohne (173 ff.). Das Verhältnis zu der sonst präferierten eher gegengesellschaftlichen Orientierung, die sich für M. in der Parochie manifestiert, bleibt jedoch leider unklar. Traditionelle und neue kirchliche Wege zusammenzudenken, statt sie unverbunden nebeneinander zu stellen, erscheint mir jedoch als eine der wesentlichen Herausforderungen der Gegenwart.

Das gilt auch und besonders für den Gottesdienst, dem selbstverständlich ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Den als religiöses Subjekt empfundenen Ärger M.s über "die sogenannten Überraschungen und Besonderheiten" (193) in Abweichung von der Agende untermauert M. mit dem Artikel in der Frankfurter Rundschau von Peter Iden (1995), der gegen eine gottesdienstliche "Mitspiel-Show" polemisiert: Das Experimentieren mit neuen Gottesdienstformen treibe die Menschen gerade aus der Kirche heraus, weil es sich dem Zeitgeist allzu sehr anpasse. Das aber widerspreche den Bedürfnissen von Menschen heute, wie der Artikel des "kirchlich distanzierten" Kulturkritikers belegt. Hier wird die Botschaft noch einmal fokussiert: Menschen suchen heute gerade die traditionellen kirchlichen Formen, daher sollte die Kirche auch gerade diese verfolgen. Der Zweifel bleibt, ob dies für mehr als eine Minderheit gilt. Im Blick auf diese können sich die Stärken dieses Ansatzes im letzten Kapitel noch einmal voll entfalten: Die Ausführungen über das geistliche Singen sind in der Tat ebenso einleuchtend wie hilfreich bis beflügelnd für Gemeinden.

Das Buch thematisiert und bearbeitet also nicht nur grundlegende Fragen, die sich der kirchlichen Praxis und der Praktischen Theologie gegenwärtig stellen, sondern es wirft auch selbst welche auf. Wie positionieren sich Kirche und Theologie gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart und was sind dann die Konsequenzen? Wie werden reformatorische, liturgische, pastoraltheologische und andere Traditionen für die Gegenwart produktiv (und welche werden es möglicherweise auch nicht oder gegenwärtig nicht)? Diese Fragen gestellt und mit präzisen Wahrnehmungen verbunden zu haben, bleibt auch dann verdienstvoll, wenn man - wie im Falle der Rezensentin - angesichts der Lösungswege unbefriedigt zurückbleibt bzw. andere Wege präferiert.