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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

329 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Götzelmann, Arnd

Titel/Untertitel:

Evangelische Sozialpastoral. Zur diakonischen Qualifizierung christlicher Glaubenspraxis.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 400 S. gr.8 = Praktische Theologie, 61. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017903-9.

Rezensent:

Beate Hofmann

Die Diakonie steht vor einem komplexen Dilemma: Einerseits ist sie das "Glaubwürdigkeitssymbol" der Kirche geworden, andererseits droht sie durch die Ökonomisierung von Pflege und sozialer Arbeit ihr besonderes Profil zu verlieren. Einerseits wird durch die wachsende Säkularisierung der Mitarbeiterschaft ihre christliche Ausrichtung angezweifelt, andererseits delegieren Kirchen und Gemeinden ihr soziales Gewissen an die Diakonie, ohne sich um die immer diffiziler werdenden Fragen von Gerechtigkeit und Solidarität weiter zu kümmern. In dieser Situation hält G. eine Doppelbewegung für nötig: "Zum einen gilt es, die Kirchen und Gemeinden mit ihren Verantwortlichen diakonisch zu inspirieren und zu qualifizieren." Zum anderen wird es innerhalb der diakonischen Einrichtung "nötig, das evangelische bzw. christliche Profil zum Tragen zu bringen und die Glaubensgrundlagen erneut bzw. verstärkt mit dem sozialen Berufshandeln zu verbinden".

Diese doppelte Aufgabe nimmt diese Habilitationsschrift auf und nutzt dafür den aus der katholischen Pastoraltheologie entnommenen, befreiungstheologisch inspirierten Begriff der Sozialpastoral, der in der Einleitung ausführlich hergeleitet und in zehn Kriterien zum Leitfaden für das Buch wird. Ziel ist ein auf die sozialen Realitäten bezogenes christliches Handeln, das "eine zukünftige geschwisterliche Gesellschaft" vorwegnimmt.

In vier Kapiteln mit je vier Unterkapiteln wird dann in sehr verschiedenen Bereichen, die die Arbeitsfelder G.s als Referent für Fort- und Weiterbildung beim Diakonischen Werk der Pfalz spiegeln, das Programm einer evangelischen Sozialpastoral entfaltet. Im Schlussteil verwandeln sich die zehn Punkte zusammen mit den vier Kapiteln in ein "Raster", mit dessen Hilfe Ergebnisse, Handlungsoptionen und Zukunftsvisionen benannt werden. Die zehn Kriterien dienen dabei als Konstruktionsbedingungen einer diakonischen Basiskirche.

Im ersten Hauptabschnitt seines Buches stellt G. die historische Entwicklung evangelischer Diakonie in Deutschland dar, soweit sie gegenwärtige Konstellationen diakonischer Arbeit mitbestimmt hat. Neben verschiedenen Arbeitsgebieten werden vor allem die tragenden Strukturen in den Diakonissenanstalten und Brüderhäusern beschrieben. Gemeinsam ist ihnen allen die Lebens-, Dienst-, Glaubens- und Sozialgemeinschaft der Mitarbeitenden. Gesondert werden schließlich die verschiedenen Leitungsmodelle und Führungsleitlinien einzelner Gründer aus der Anfangszeit der Diakonie dargestellt. Dabei werden das pastorale Patriarchat (z. B. Fliedner/Kaiserswerth) und die geschwisterliche Demokratie (Haerter/Straßburger Diakonissenanstalt) besonders hervorgehoben. Der historische Teil des Buches schließt mit der Feststellung, dass es angesichts der Auflösung des ursprünglich untrennbaren Zusammenhangs von christlicher Frömmigkeitspraxis und diakonischem Sozialhandeln nötig ist, neue, zeitgemäße Formen zu entwickeln, um diakonisches Handeln als christliche Glaubenspraxis zu verstehen und zu verdeutlichen.

Die Teile II bis IV setzen bei der "diakonischen Qualifizierung" der Glaubenspraxis unterschiedliche Schwerpunkte. So wendet sich der zweite Hauptabschnitt den Mitarbeitenden in der Diakonie zu. In einer ausführlichen Diskussion der Ämterfrage plädiert G. dafür, dass neben dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen verstärkt ein "allgemeines Diakonentum aller Gläubigen" gefördert werden sollte, dass außerdem die Arbeit in der Diakonie deutlicher als ein "Amt der Kirche" hervorgehoben werden muss und dass dafür neue Formen der Beauftragung zu entwickeln sind. Besonderes, m. E. zu großes Augenmerk richtet G. auf die in der Diakonie tätigen Theologinnen und Theologen und diskutiert ihre Aufgaben und die nötige Ausbildung. Anhand von statistischem Material kommen auch die anderen Mitarbeitenden in den Blick. Angesichts sinkender religiöser und kirchlicher Bindungen fordert G. im Blick auf die Zukunft eine umfassende Schulung und Qualifizierung der Mitarbeitenden auf allen Ebenen diakonischer Arbeit. Das gibt ihm Gelegenheit, in einem letzten Abschnitt Problematik, Umfang und Angebote der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Diakoniewissenschaft wie der praktischen diakonisch-sozialen Qualifikation zu beschreiben und gerade hier verstärkte Anstrengungen zu fordern.

Teil III des Buches beschäftigt sich mit Fragen der Diakonisierung der Kirchengemeinden. G. untersucht ausführlich den Aspekt einer "Gemeinde für Kinder". Nach einer Analyse der veränderten Situation von Kindern und Familien in der Gesellschaft heute reflektiert G. vor allem die Arbeit der Kindertagesstätten als einem der ältesten Arbeitsfelder der Diakonie auf Gemeindeebene. Zehn allgemeine Entwicklungstrends werden benannt und an Beispielen verdeutlicht. Am Ende steht die Hoffnung, dass aus einer intensiven Kindertagesstättenarbeit so etwas wie eine diakonische Gemeindeerneuerung "von unten", d. h. von den Kindern und ihren Eltern her, erwachsen kann. Die Kindertagesstätte wird zum Gemeindezentrum, für dessen Fortbestand sich viele Gemeindeglieder verantwortlich wissen.

Im letzten Kapitel geht es um die diakonische Qualifizierung in den Bereichen Seelsorge und Pastoralpsychologie. Die Arbeit bekommt damit noch einmal einen theologischen Schwerpunkt. Die Zuordnung von Seelsorge und Diakonie wird auf vier Grundmodelle reduziert und an einer Fülle von Positionen aus der Literatur durchdiskutiert. Dabei wird erkennbar, dass beide als eigenständige Handlungsfelder christlicher Glaubenspraxis nicht ohne einander existieren können. Am Beispiel von Klinik- und Telefonseelsorge wird das Verhältnis der beiden konkretisiert. Schließlich fordert G., die systemischen Therapien, vor allem die Familientherapie, stärker in die Seelsorge zu integrieren.

Die Auswertung der Eingangsthesen am Schluss des Buches zeigt den Ertrag der vier Kapitel und die Fähigkeit G.s, eine Fülle von Material aufzunehmen und im Sinne seiner Kategorien zu systematisieren. Dabei erfährt die geforderte Doppelbewegung, wie der Untertitel des Buches schon zeigt, eine Fokussierung auf die diakonische Akzentuierung christlicher Glaubenspraxis.

Die christliche Qualifizierung der Diakonie rückt in den Hintergrund. Inwieweit das postulierte Programm, das versucht, zentrale Ideen der Befreiungstheologie auf Kirche und Diakonie in Deutschland zu übertragen, und das die Aktivierung der Betroffenen im Sinne der Selbsthilfe stärken will, in der Diakonie der Gegenwart Gehör findet, sei dahin gestellt. Denn G. erläutert zwar viele Aspekte, die wünschenswert wären, doch wie sie angesichts der Existenzkrise vieler diakonischer Einrichtungen und der Relevanzkrise der Kirchen für die Mitarbeitenden und die Gemeindemitglieder attraktiv und für die Verantwortlichen interessant werden, dazu schweigt das Buch weitgehend. Und was hilft ein Programm, das zwar theologisch "richtig" ist, aber eher als Imperativ und nicht als Einladung empfunden wird? Doch dieses Problem hat das Buch mit vielen anderen theologischen Reflexionen diakonischer Praxis gemein.