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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

323 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo

Titel/Untertitel:

Allgemeine Ethik. 4., überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 316 S. kl.8 = Grundkurs Philosophie, 4; Urban-Taschenbücher, 348. Kart. Euro 19,00. ISBN 3-17-017948-9.

Rezensent:

Martin Honecker

Die erste Auflage der Allgemeinen Ethik von Friedo Ricken wurde 1983, also vor über 20 Jahren, veröffentlicht. Sie umfasste damals 171 Seiten, davon 158 Seiten Text. Die überarbeitete vierte Auflage hat jetzt einen Umfang von 316 Seiten, davon 299 Seiten Text. Von Anfang an enthält das Werk eine Bibliographie sowie ein Namenregister und ein Sachregister. Es handelt sich um ein anspruchsvolles Studienbuch.

Die Tradition philosophischer Ethik wird aufgenommen, insbesondere Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, aber auch die Diskussion mit der angelsächsischen Moraltheologie ist präsent. Dabei geht es nicht um eine historische Darstellung, sondern um eine systematische Konzeption. Thematisiert ist die Aufgabe der Moralbegründung, Gegenstand sind somit die Grundlagen der Moral, nämlich Klärung der Grundbegriffe, Diskussion der Möglichkeit sittlicher Erkenntnisse und moralischer Urteile, die Suche nach Prinzipien, von denen dann die speziellen Disziplinen der angewandten Ethik ausgehen können (so schon das Vorwort zur 1. Aufl., 11). Der Schwerpunkt liegt auf der Reflexion des sittlichen Handelns. Der erste Satz lautet: "Das menschliche Leben besteht aus einer Abfolge von Entscheidungen" (13). Entscheiden heißt wählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns und Verhaltens. Auch keine Entscheidung zu treffen, bedeutet dennoch zu wählen.

Richtiges Handeln ist regelgerecht und zielgerichtet. Richtig handeln heißt darum, mit Gründen handeln, und zwar unabhängig von subjektiver Willkür. Gründe bedürfen der Begründung. Für sie ist die Vernunft zuständig. Prämisse ist, dass der Mensch die Freiheit hat, sich zu etwas zu entscheiden. Der Mensch kann wählen. Er muss bei dieser Wahl jedoch Güter abwägen. Handeln beruht auf einem "Fiat", es soll sein, d. h. auf Wünschen, Bedürfnissen, Anforderungen. Solche Orientierung an Gütern fordert allgemeine Geltung und Anerkennung. Demgemäß bilden einen weiteren thematischen Schwerpunkt die Universalisierung normativer Ansprüche und die transzendentale und sprachpragmatische Normenbegründung; gegen die sprachpragmatische Normenbegründung macht R. allerdings gewichtige Einwände geltend (160 ff.). R.s Ansatz kombiniert also, historisch gesehen, Aristoteles und Thomas von Aquin mit Kant.

Eine Grundfrage war von Anfang an für R., einen Jesuiten, die nach dem Verhältnis von Ethik und Theologie (32 ff.). Glaube und Religion sind nicht die Voraussetzungen der Ethik. Die Verbindlichkeit moralischer Normen setzt nämlich nicht die Anerkennung der Existenz Gottes als logische Prämisse voraus. R. vertritt und behandelt in seinem Buch eine strikt philosophische Ethik, ohne daneben die Berechtigung theologischer Ethik zu bestreiten.

Der Inhalt ist in sieben Kapitel gegliedert: A. Begriff und Aufgabe der Ethik; B. Der Begründbarkeitsanspruch moralischer Sätze; C. Der Begriff der moralischen Handlung; D. Universalisierung und sprachpragmatische Normenbegründung; E. Die Selbstzwecklichkeit des Menschen als Prinzip der Moral; F. Die abwägende Vernunft; G. Konsequentialismus. Bereits die Inhaltsangabe belegt, dass im Mittelpunkt der Darstellung die moralische Handlung steht, welche jeweils das praktische Urteil der abwägenden Vernunft zu begründen hat. Dabei kommen Zurechenbarkeit und Zielbezug eine Schlüsselfunktion zu, wobei R. die aristotelische Tradition des "Freiwilligen" (hekousion) und der Absicht (prohairesis, intentio) aufgreift, die auch für Thomas von Aquin fundamental ist (100 ff.).

Die erste Auflage endete mit der Unterscheidung zwischen Hindern und Zwingen (dieser Abschnitt befindet sich jetzt 269ff.). Die vierte Neuauflage wurde erheblich erweitert. Neu sind der Einbezug der Irrtumstheorie (30 ff.), die Unterscheidung von Internalismus und Externalismus (73 ff.). R. geht auf den neuesten Stand der Debatte der Moralbegründung und auf die neue Literatur ein. Der Abschnitt über Zurechenbarkeit und Zielbezug (C II) wurde neu gefasst. Hinzugekommen sind im Kapitel E, "Die Selbstzwecklichkeit des Menschen als Prinzip der Moral", ein neuer Abschnitt zum Verständnis von Person, der die jüngste Debatte berücksichtigt, sowie die Analyse moralischer Emotionen (185 ff.), also der Bedeutung des Affekts, die in der ersten Auflage noch im Sachregister fehlte. Das Kapitel F, "Die abwägende Vernunft", wurde überarbeitet. Hinzugekommen ist ferner ein Abschnitt über Tugenden (230 ff.). Maßgeblich ist die aristotelische Forderung nach sittlicher Erkenntnis (phronesis). Daraus ergibt sich die Feststellung: "Der Begriff der Tugend ist im Unterschied zum Begriff des Glücks und zum Begriff der Pflicht kein handlungsleitender Begriff" (241). Das Schlusskapitel G ist neu. Es behandelt deontologische und teleologische Theorien und endet mit dem Konsequentialismus und der Betonung der Autonomie (295 ff.). In der ersten Auflage war Autonomie noch nicht eigens thematisiert. Die kritischen Einwände gegen den Utilitarismus sind eindeutig (276 ff.). R. selbst vertritt einen Konsequentialismus, der ein objektives Ziel vorgibt, den er sodann mit der kantischen Theorie verbindet, welche die Art und Weise vorschreibt, wie man seine subjektiven Ziele verfolgen darf (297), also eine inhaltliche Selbstzwecklichkeit. Die neu aufgenommenen Abschnitte über Glück (204 ff.) und Güter (243 ff.) sollen diese Auffassung stützen und unterstreichen.

R.s eigenen Ansatz kann man als eine teleologisch orientierte Aufnahme der Selbstzweckformel Kants charakterisieren. Er vertritt ein personalistisches Menschenbild und betont die Freiheit des Menschen zur sittlichen Entscheidung. Deutlich abgelehnt werden Irrationalismus und Subjektivismus. Kognitivistische Theorien der Moralbegründung sind vorzuziehen. Das verdeutlichen schön die Ausführungen zur Bedeutung von "gut".

Alles in allem ist es ein anregendes und sehr kenntnisreiches Buch. Gleichwohl sind einige kritische Bemerkungen und Einwände angebracht. Das Buch ist zwar als Arbeitsbuch konzipiert. Allerdings fragt man sich nach der Bedeutung der mit Ziffern am Rand funktionslos durchnummerierten Absätze. Auch setzt die Lektüre bereits erhebliche philosophische Kenntnisse voraus und benutzt ohne eingehendere Erläuterungen Fachterminologie. So wünschte man sich doch etwas mehr didaktische Rücksichtnahme. Zum Ansatz R.s ist sodann zu fragen, ob der rationale Begründungsanspruch moralischer Sätze nicht überzogen wird.

Der Rationalitätsbegriff wäre intensiver zu diskutieren. Affekte, Emotionen und Wollen haben doch m. E. eine stärkere Bedeutung, als R. ihnen zugesteht. Die Motivation, sittlich zu handeln, ist nicht allein eine Folge vernünftiger Erwägungen. Die Vertreter einer prinzipiellen Moralkritik fehlen. Schopenhauer und Nietzsche werden jeweils nur einmal beiläufig erwähnt. R. vertritt argumentativ eine sich auf Vernunftargumente berufende moraltheoretische Position. Dabei grenzt er sich argumentativ gegen eine ganze Reihe anderer Positionen ab, wie z. B. den Nonkognitivismus, den Dezisionismus, die Diskursethik von J. Habermas, Peter Singers Präferenzutilitarismus, die Tugendethik. Aber gleichwohl vermittelt die Darstellung den Eindruck, dass es heute eine Reihe ethischer "Konfessionen" gibt, unter denen der Standpunkt der abwägenden Vernunft nur einer ist. Diesen Standpunkt vertritt freilich R. mit Entschiedenheit und mit guten Argumenten. Theologische Ethik kann argumentativ und methodisch viel von R.s Allgemeiner Ethik lernen und dadurch selbst an Argumentationsstärke und Differenzierungsvermögen gewinnen.