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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

319–322

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Kilner, John F., Hook, C. Christopher, and Diann B. Uustal [Eds.] 2) Münk, Hans J. [Hrsg.] 3) Neste, F. van, Taels, J., en A. Cools [Eds.]

Titel/Untertitel:

1) Cutting-Edge Bioethics. A Christian Exploration of Technologies and Trends.

2) Organtransplantation. Der Stand der ethischen Diskussion im interdisplinären Kontext. Hrsg. im Auftrag d. Theologischen Fakultät d. Universität Luzern.

3) Van klinische ethiek tot biorecht.

Verlag:

1) Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. XII, 201 S. gr.8. Kart. US$ 22,00. ISBN 0-8028-4959-8.

2) Freiburg (Schweiz): Paulusverlag 2002. 247 S. 8 = Theologische Berichte, 25. Kart. Euro 24,00. ISBN 3-7228-0563-5.

3) Leuven: Peeters 2001. VIII, 492 S. 8. Kart. Euro 22,00. ISBN 90-429-1073-9.

Rezensent:

Peter Dabrock

Ob man so generell - wie geschehen - behaupten kann, dass nach dem Jahrzehnt der Friedensethik das Jahrzehnt der Bioethik angebrochen ist oder nicht, schließlich sind beide Diagnosen schon für sich hinterfragbar (gab es wirklich das Dezenium der Friedensethik und wird sich die Bioethik so zentral halten?), sei dahingestellt. Richtig ist auf jeden Fall, dass bioethische Fragestellungen seit einigen Jahren über die reine fachwissenschaftliche Diskussion hinaus eine hohe allgemeine Aufmerksamkeit genießen. Das verwundert nicht, geht es doch in vielen Fragen "um Leben und Tod" (A. Leist), und die bedürfen sowohl einer existentiellen Rechenschaft als auch der öffentlichen Diskussionen. Von der Mitarbeit in politischen Beratungsgremien bis hin zur lokalen Gemeindearbeit sind dabei Kirche und Theologie gefordert, wenn sie ihrer Glaubensverantwortung gerecht werden wollen.

Als analysierender und orientierender Überblick über aktuelle und künftige bioethische Probleme aus christlicher Sicht versteht sich der am Center for Bioethics and Human Dignity, Bannockburn, Illinois, vorbereitete, von seinem Direktor John F. Kilner u. a. herausgegebene Band "Cutting-Edge Bioethics. A Christian Exploration of Technologies and Trends". In vier Hauptkapiteln (I. Emerging Technologies, 3-68; II. Growing Cultural Challenges, 69-100; III. The Changing Face of Health Care, 101-156; IV. Proactive Perspectives, 159-193) unterbreiten 16 Autoren, darunter Francis Collins, der Leiter des Nationalen Genom Forschungsinstitutes der USA, mit einem Beitrag zur Humangenetik (3-17), ihre Gegenwartsanalysen und vor allem Zukunftsperspektiven der Bioethik. Während bestimmte traditionelle Themen wie Schwangerschaftsabbruch und allogene Organtransplantation beiseite gelassen werden, fokussieren die gegenwartsorientierten Artikel vor allem kulturelle, weltanschauliche und sozietäre Bedingungen der Biotechnologie wie Multikulturalismus (71-81), Ökonomie und Gesundheitsversorgung (103-115), Spiritualität und alternative Medizin (116- 130), Prävention gegenüber AIDS und Geschlechtskrankheiten (131-141), Ethos und Geist der Fürsorge (142-156), Medien und Öffentlichkeit (174-180). Demgegenüber sind die unmittelbar auf Risiken und Technikfolgenabschätzung bezogenen Beiträge meistenteils nicht so sehr an Fakten, sondern eher an Fiktionen, eben an "cutting-edge bioethics", interessiert: Xenotransplantation (18-30), Transgenics (31-38), Artificial Intelligence and Personhood (39-51), Cybernetics (52-68). Sich als visionär verstehende Beiträge zur zukünftigen gesellschaftlichen Gestaltung der Bioethik runden den Band ab. Für deutsche Leserinnen und Leser, insbesondere aus dem theologischen und kirchlichen Bereich, mag sich der Band als Störung, und damit als lesenswert erweisen. Schließlich ist die deutsche bioethische Debatte zu großen Teilen und insbesondere im kirchlichen Milieu von massiver Skepsis gegenüber Technik und Fortschritt geprägt.

Demgegenüber steht der sich selbst ungebrochen als christlich verstehende letzte Satz des Werkes, der als programmatischer Imperativ zu lesen ist: "We must advance, not retreat, in the face of today's challenges" (193). Wie in dezidiert theologischer Perspektive oder zumindest in Aufgeschlossenheit ihr gegenüber der biotechnologische Fortschritt zwar als risikobehaftet und insofern umsichtig zu gestalten eingeschätzt, aber dennoch grundsätzlich begrüßt wird, kann man entweder als kulturellen Gap ablehnen, als solchen begrüßen oder einfach nur als gegeben hinnehmen. In jedem Fall kann der Eindruck, dass eine christliche Position per se fortschrittsskeptisch sein muss, um sich auf der moralisch besseren Seite zu wähnen, ebenso wenig unhinterfragt stehen bleiben wie die gegenteilige Auffassung. Hier den Diskurs durch eine ungewohnte alternative Perspektive zu bereichern, der gegenüber Rechenschaft über eigene Positionen abgelegt werden muss, ist der Verdienst von "Cutting-Edge Bioethics".

Während letztgenanntes Buch den gegenwärtigen christlichen Bioethikdiskurs durch zum Teil (noch) ungedeckte Zukunftsprognosen aufrütteln will, vermag der von Hans J. Münk herausgegebene Band "Organtransplantation. Der Stand der ethischen Diskussion im interdisziplinären Kontext" Gleiches durch die Aufarbeitung der Vergangenheit. Durchgängig kenntnisreich, detailgenau und Perspektiven eröffnend widmen sich die Autorinnen und Autoren den unterschiedlichen sachlichen, personal- und sozialethischen Problemen und Konflikten der Organtransplantation: Doris Henne-Bruns skizziert den medizin-historischen, medizinisch-wissenschaftlichen und klinischen Sachstand (23-57), im Sinne einer hermeneutischen Ethik hinterfragt Alberto Bondolfi begriffliche und konzeptionelle Hintergrundüberzeugungen in der ethischen und rechtlichen Bewertung der Organtransplantation (58-84). Dabei spricht er sich bei der Beurteilung von postmortalen und Lebendspenden, von Hirntodkriterium und Organhandel gegen deduktiv oder unmittelbar mit steilen Konzeptionen wie der Menschenwürde argumentierende Ethiken aus. Er fordert vielmehr auch von theologischer Ethik, das Recht als "gesellschaftliches Friedensinstrument" (78) zu stärken, ohne deshalb die eigene Position darin aufgehen lassen zu wollen.

Ausführlich und subtil untersucht Ulrike Kosta den Problemkomplex der Organallokation auf seine Gerechtigkeitsfähigkeit (85-104). Dazu stellt sie nicht nur gegenwärtige und geplante rechtliche Regelungen vor, sondern analysiert kirchliche Stellungnahmen und pragmatische Allokationsmodelle. Gegenüber allen theoretischen und praktischen Konzeptionen klagt sie die hohe Komplexität der Materie ein, der die Verteilung entsprechen muss. Um deren jeweiligen ethischen Gehalte in den Blick zu bekommen (95 f.), schlägt sie ein Modell vor, das die Organspende nicht nur als ein punktuelles Ereignis, sondern als einen vielfältigen, lang andauernden Prozess begreifen lernt.

Nicht nur vom Umfang her nimmt der Beitrag von Hans Münk zur theologisch-ethischen Diskussion um das Hirntodkriterium eine Zentralstellung ein (105-174). Auch sachlich füllt er eine schmerzliche Lücke der bisherigen theologisch-ethischen Debatte. Während sowohl internationale als auch deutschsprachige Gesamtdarstellungen zur philosophischen Debatte zum Hirntodkriterium vorliegen, arbeitet Münk mit großer Sorgfalt und geschickten methodischen Unterscheidungen (zwischen Attribution, Definition, Kriterium und Diagnose des Hirntodes; 117 f.) den theologisch-ethischen Diskurs katholischer wie evangelischer Provenienz, kritischer wie befürwortender Positionen von seinen Anfängen Ende der 60er Jahre bis in die Gegenwart auf. Leserinnen und Leser werden anhand des Streites um eine Sachfrage auf eine theologisch-ethische Abenteuerreise mitgenommen. Sie erfahren, dass und wie (vielfältig) fundamentalanthropologische, methodologische, konzeptionelle und hermeneutische Grundannahmen die sachlichen Beobachtungen und daraus abgeleitete ethische Urteile prägen. Sich dessen gewahr zu werden und so an der Sache weiterzuarbeiten, ist dann auch neben seinem inhaltlichen Fazit, das Hirntodkriterium als Verlust des gesamtsystemischen Zentralorgans des menschlichen Leibes und damit der menschlichen Personalität zu begreifen, die wichtige epistemologische Conclusio (158 f.) dieses meisterhaften Beitrages.

Trotz Machbarkeitsbedenken in technischer wie ethischer Perspektive äußert schließlich Hans Halter im abschließenden Beitrag (174-247) keine prinzipiellen deontologischen oder teleologischen Bedenken gegenüber der Xenotransplantation (219 f.). Im Verlaufe seiner Studie zählt er allerdings derartig viele human-, tier- und ökoethische Gründe gegen diese angesichts des Organmangels immer wieder propagierte Alternative zur Allotransplantation auf, fordert zudem (zu Recht) hohe Schutzstandards für Patienten, Umwelt und Tiere, dass man jenseits des konstatierten Verzichtes auf ein kategorisches Verbot auch auf der hypothetischen Ebene kaum noch Realisierungschancen für eine Technik sieht, die im Übrigen ganz offensichtlich, noch ehe sie zur Reife gelangt, von anderen Verfahren regenerativer Medizin abgelöst werden wird.

Auch wenn man die Frage der Einwilligungsformen etwas intensiver hätte diskutieren können, zudem eine noch breitere Auseinandersetzung mit den psychologischen und damit auch sozialpsychologischen Konflikten für Ärzte und Angehörige bei der Organspendezustimmungssituation erwartet hätte, stellt das Buch einen Meilenstein für die theologisch-ethische Reflexion zur Organtransplantation dar und kann entsprechend wärmstens empfohlen werden.

Wie die Forderung von Alberto Bondolfi, dass auch die theologische Ethik das Recht als "gesellschaftliches Friedensinstrument" begreifen und schätzen sollte, in praxi umzusetzen ist, zeigt der Band "Van klinische ethiek tot biorecht". Er dokumentiert eine interdisziplinäre Tagung zwischen Ärzten, Pflegenden, Juristen, theologischen und allgemeinen Ethikern, die im Jahre 2001 an der Universität Antwerpen abgehalten wurde. Ihre Leitfrage formuliert der Hauptherausgeber, F. van Neste, in seinem Beitrag (5-20), der zugleich die weiteren Fragestellungen prägt: "Moeten er voor de vele nieuwe techniken die in de huidige geneeskunde worden anngewend, rechtsregelingen tot stand komen, en zo ja, zijn er bijzonderen aandachtspunten bij het tot stand brengen von deze wetgeving?" (7) Perspektiven zur Notwendigkeit ihrer Beantwortung speisen sich zum einen aus dem offensichtlichen Fortschritt der Medizin, seinen unmittelbaren Auswirkungen auf die Klinik sowie aus dem Wegbrechen allgemein verbindlicher Normen. - Vor diesem Hintergrund wird zwar einerseits der Bedarf ethischer Reflexion angemeldet, aber zugleich angesichts der Pluralität der Auffassungen auch der rechtliche Regelungsbedarf als Notwendigkeit gesehen. Zur Gestaltung dieses immer neu abzumessenden Spannungsfeldes plädiert van Neste für eine "polyphonie normative" (18). Diesem Ziel ordnen sich die drei Hauptteile des Bandes unter.

Teil I ist überschrieben "Klinische praktijk, casuïstiek en ethische Normering" (25-199). Vier Kasuistiken, die um die Fragen Neonatalmedizin, Therapieabbruch, Autonomierespekt, künstliche Ernährung und Euthanasie ringen (25-49), werden vorgestellt, ihnen zum Teil entsprechende Ratschläge des belgischen Bioethik-Komitees an die Seite gestellt (53-135), bevor die Ethikerin Marie-Luce Delfosse sich metakritisch zu diesen äußert (139-183). Schließlich zeigt noch die gerafft wiedergegebene Diskussion der Konferenzteilnehmer weitere Beurteilungsmöglichkeiten der Kasus (187-199).

Nach diesem induktiven Teil wendet der Band seine Blickrichtung und fragt in Teil II "Bijdragen over klinische Ethiek" (203-362) nach den ethischen Ansätzen der Kasuistik (203- 226) und der Sorgeethik (227-251) für eine konsistente klinische Ethik, wobei pränatale Diagnostik (253-270) und das Selbstverständnis der Medizin (271-294) als Praxistest fungieren. Nicht kasuistisch, vielmehr grundsätzlich ausgerichtet, aber auf die Klinik bezogen sind die unter dem Stichwort "Grenzen van de klinische ethiek" versammelten Beiträge des zweiten Kapitels im zweiten Teil (297-351): Sie widmen sich der Willensfreiheit (297-318), Körperkonzepten (319-334), ethischen Methoden (335-352) und dem Einfluss von Ökonomie und Technik auf die Klinik (353-362).

Von letzterem Punkt ist es nicht mehr weit, im Teil III "Medisch handelen, politiek en rechtsvorming" (365-477) zu betrachten. Gerade durch die Kombination von Sorgeethik, Kasuistik und Leibphilosophie mit rechtlichen Reflexionen eröffnet der Band für an klinischen Fragen Interessierte wichtige Deutungs- und Handlungsperspektiven

Auch wenn man einzelnen Positionen nicht immer zustimmen mag, zeigen diese drei Bände überdeutlich, dass es sich für eine theoretisch fundierte und auf Anwendung zielende Bioethik in theologischer Perspektive lohnt, den Blick über die deutschen Grenzen hinaus zu weiten.