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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

316–319

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hübner, Jörg

Titel/Untertitel:

Globalisierung - Herausforderung für Kirche und Theologie. Perspektiven einer menschengerechten Weltwirtschaft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 351 S. gr.8 = Forum Systematik, 19. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-018075-4.

Rezensent:

Daniel Dietzfelbinger

"Wie können wir dazu beitragen, dass auch unsere Kinder in einer Welt groß werden, die für sie und ihre Nachkommen lebenswert ist?" (12), schreibt Jörg Hübner im Vorwort über das wirtschaftsethische Thema der Gegenwart: die Globalisierung, auch wenn keiner so genau weiß, was das ist. Einem Fischteich gleich, angelt sich jeder die Bedeutung, die ihm in seinem Kontext als die Geeignetste erscheint. Auf diese Schwierigkeit geht H. auf den ersten Seiten seiner Habilitationsschrift ein (13 ff.) und stellt seine Definition vor: "Globalisierung ist eine Intensivierung der Verflechtung von Menschen, Kapital, Waren, Dienstleistungen, Institutionen, Staaten und Organisationen in einem räumlich und zeitlich entgrenzten Raum; diese Verflechtung orientiert sich nicht mehr an nationalstaatlichen Grenzen, sie schafft neue Räume bzw. Grenzen und erzeugt neue Leitbilder universaler Gültigkeit. Sie bewirkt der Möglichkeit nach eine aktive Beteiligung einer immer größer werdenden Zahl von Menschen an den wirtschaftlichen, technischen, kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen der Weltgesellschaft." (40)

Solchermaßen ausgestattet, macht sich H. daran, die Auswirkungen der Globalisierung in den Ländern des Südens und des Nordens darzustellen, und zwar ökonomisch (42 ff.), ökologisch (53 ff.), politisch (58 ff.) und sozio-kulturell (68 ff.). H. betont die Ambivalenz des Globalisierungsgeschehens: "Eine nicht ausreichend regulierte Globalisierung stellt ihre Erfolge wieder dadurch selbst in Frage, dass sie unkalkulierbare Risiken produziert: Die Instabilität der Finanzmärkte, die Segmentierung des Arbeitsmarktes, die wachsenden Gefahren einer Überglobalisierung durch gestiegene Mobilität, eine zunehmende ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen oder einen raschen Anstieg von Migrantinnen. Von diesen negativen Folgen der Globalisierung sind die Länder des Nordens wie des Südens gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlichen Formen und darin auch in unterschiedlicher Intensität, betroffen." (83)

Nun wendet sich H. dem Thema seiner Arbeit zu, der Globalisierung als Herausforderung für Kirche und Theologie. Zunächst ist die (christliche) Theologie gefordert, weil sie sich einem weltweiten Markt der Religionen gegenüber sieht, der "kaum überschaubar" (85) sei. Doch - hier liegt ein interessanter Punkt - nach H. werden Religionen in einer solchen Phase der Globalisierung nicht zwischen den Mühlen der zahlreichen Weltanschauungen abgeschliffen oder gar aufgerieben, sondern sie bekommen ein schärferes Profil (85).

So kann H. seine Aufgabenstellung formulieren: "Es gilt, eine theologische Vision zu entfalten, die die Verflechtung der Menschheit bejaht, die durch die Globalisierung ermöglicht wird, und die zugleich die Ausgrenzung kanalisiert, die dieser Prozess mit sich bringt. Fest verbunden ist damit die weitere Aufgabe, sich selbst als globaler Akteur zu verstehen." (87) Dies entfaltet H. auf den folgenden Seiten, indem er auf die klassischen Begriffe "Option für die Armen", "Globalisierung mit menschlichem Antlitz" sowie auf die viel zitierte Richsche Doppelbestimmung wirtschaftlicher Handlungen von menschengerecht und sachgemäß zurückgreift (bis 98).

Kapitel 2 verspricht sozialethische Orientierung (99 ff.), die mit der kritischen Bewertung dreier Positionspapiere der Ökumenischen Bewegung beginnt. H. kritisiert, dass sie keine einheitliche, universale Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung bieten: "Im Grunde strahlen sie [die Papiere] eine Hilflosigkeit in der Frage aus, wie die sich ohne Zweifel entwickelnde globale Marktwirtschaft zivilisiert werden kann. Noch immer orientieren sie sich an der nationalstaatlichen Politik, von der her eine Befriedigung [!] der sozialen Konfliktpotentiale auszugehen habe." (109) Demgegenüber gelte es "nach einer theologischen Begründung globaler Solidarität zu suchen, die Leistungen der internationalen Verflechtung würdigen kann, ohne ihre negativen Auswirkungen zu verharmlosen" (109).

Um dies zu erreichen, macht sich H. auf die Suche nach historischen Spuren der Begründungen globaler Solidarität (109 ff.), die in einer Darstellung moderner Konzepte mündet (132 ff.). Er favorisiert eine Kombination aus dem Konzept der "Verantwortlichen Gesellschaft" - entstanden aus der ökumenischen Diskussion der 30er Jahren des 20. Jh.s - und aus dem Konzept des "Fairen Handels", entstanden in den 90er Jahren:

"Die Grundsätze der verantwortlichen Gesellschaft setzen bei der zu wahrenden Freiheit und Würde eines jeden Menschen an und benennen Kriterien für eine zu gestaltende menschenwürdige Wirtschaftsordnung im globalen Maßstab." (147) Zusätzlich werde im Konzept des "Fairen Handels" "... eine faire Ordnung des globalen Handels ... von der Einhaltung menschenrechtlicher Standards abhängig gemacht" (147).

Die Tragfähigkeit der kombinierten Konzepte will H. nun prüfen. Er entwickelt normative Leitbilder zur Regulierung der globalen Märkte, basierend auf den Menschenrechten, die ihre theologische Begründung in der Gottesebenbildlichkeit sowie in der Wiederherstellung der verletzten Würde durch Jesus Christus erfahren (200). H. entwickelt sechs normative Kriterien (Gleichstellung von Mann und Frau, Schutz des Menschen vor ausbeuterischer Arbeit, Partizipationsfreiheit, Freiheit zur Verwirklichung der eignen Fähigkeit, Recht auf Nahrung, Verantwortung für die nächste Generation), durch deren Beachtung "die globalen Märkte menschenrechtsverträglich gemacht werden können" (201).

Im vierten Kapitel erläutert H. die Bausteine des "Fairen Handels", die er zusammenfasst: "Benachteiligten Produzenten auf dem Weltmarkt soll erstens dadurch geholfen werden, dass sie einen verbesserten Zugang zum Markt erhalten und der Produktionsprozess unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten optimiert wird. Zweitens erhalten die Produzenten durch die Organisatoren des Fairen Handels einen besseren Preis für ihre Waren als über den konventionellen Handel. ... Schließlich ist die Bildungsarbeit der Verbraucher über die nachteiligen Auswirkungen des konventionellen Welthandels sowie Kampagne- und Lobbyarbeit das dritte Standbein des Fairen Handels." (209) Wie dies auf eine globale Wirtschaft übertragen werden könne, erläutert H. anhand der WTO, anhand der transnationalen Unternehmen und anhand der Rolle von Codes of Conducts bzw. Verhaltensstandards.

Bei der Frage der Regulierung der internationalen Finanzmärkte (237 ff.) setzt sich H. für die Einführung einer modifizierten Tobinsteuer auf spekulative Kapitalbewegungen ein, trotz erheblicher Einwände, die gegen sie vorliegen (256 ff.). Im Schlussteil des Kapitels vier untersucht H. Möglichkeiten des globalen Lernens (265 ff.).

Auf den letzten 30 Seiten stellt sich H. dem Thema Kirche in der Globalisierung. Die Kirchen als ein "bedeutsamer Teil der Weltzivilgesellschaft ... stehen mit ihrer Vision auf der Seite der Non-Profit-Unternehmen, die sich den Menschenrechten verpflichtet wissen und global miteinander vernetzt sind. Dieses Selbstverständnis fordert das kirchliche Handeln zu einem bedeutsamen und fundamentalen Perspektivenwechsel auf: Dieser besteht erstens darin, die Ökumenische Bewegung zu stärken. Zweitens muss die Rolle der kirchlichen Hilfswerke erkannt sowie drittens die Bedeutung der lokalen Ortsgemeinde neu erfasst werden." (291) Unter diesen drei Elementen des Perspektivenwechsels werden ethische Geldanlagen, die Unterstützung des "Fairen Handels" durch kirchliche Hilfswerke sowie die Mitarbeit an lokalen Agenda-21-Prozessen durch die Ortsgemeinde diskutiert. Der "Ausblick" (317 ff.) fasst das Gesagte noch einmal in zehn Thesen zusammen.

H.s Buch ist kenntnisreich, solide und ein guter Überblick über die kirchlich-ethische Diskussion der Globalisierung. H. fasst die Diskussionslage, wie sie aus unterschiedlichen Dokumenten, Dokumentationen und Medien bekannt ist, meist recht übersichtlich und prägnant zusammen. Gleichwohl bleibt nach der Lektüre ein unbefriedigendes Gefühl, was sich wohl daraus erklärt, dass auch H. kein wirkliches Konzept entwickelt und sich mit der Darstellung bzw. dem Appell begnügt. Auch er findet keine universale, einheitliche Lösung zur Zivilisierung der Marktwirtschaft, deren Mangel er andernorts kritisiert. Nicht, dass man die Lösung erwarten würde, das wäre - im guten Sinne - von einer Habilitationsschrift ein bisschen viel verlangt. Aber dem Anspruch, den H. immer wieder in Kritik an anderen für sich selbst implizit formuliert (etwa 109), wird er nicht gerecht. Unglücklich erscheint auch der Aufbau der Arbeit: Die lange Darstellung der Globalisierungsauswirkungen ist mit "Problemstellung" überschrieben und zieht sich über fast 100 Seiten hin, während die Erörterung des Hauptthemas, nämlich das Ausloten kirchlicher Handlungsspielräume mit 30 Seiten nach Meinung des Rezensenten viel zu kurz ausfällt und nichts Neues bringt.

Vieles bleibt an der Oberfläche, weil sich H. weitgehend mit Forderungen begnügt, anstatt konkrete Durchführungskonzepte zu entwickeln. Wer soll wann und wie Kriterien in Form von etwa Verhaltensstandards zum Beispiel bei Unternehmen durchsetzen? Und wenn es vielleicht bei Unternehmen (warum bei Unternehmen mit einer vermeintlichen moralischen Berechtigung als Erstes kritisiert wird, bleibt auch bei H. unklar) gelingt, wie geht man mit den sich zunehmend individualisierenden Gesellschaften und deren Menschen um, deren Hauptbeschäftigung nicht den Problemen der Globalisierung gilt, sondern ihren vermeintlichen oder faktischen Vorteilen (Reisen, Internet, Weltverbundenheit). Auch der Verweis auf mehr Bildungsarbeit reicht da nicht.

Appelle helfen wenig, ohne transnationale Gesetze und Sanktionen, die von starken, Nationen übergreifenden politischen Agenten durchgesetzt werden. Andernfalls werden etwa Unternehmen, aber auch Individuen der modernen Gesellschaften, ihr Verhalten nicht ändern. Kurz: Nach Geschmack des Rezensenten finden sich zu viele "muss" und "soll" in dem Buch, die den Charakter des Appells nicht verheimlichen können.

Fazit: Dennoch macht das Buch - bei aller Kritik - einen mutigen Schritt. Sich dem Thema Globalisierung aus theologischer und kirchlicher Perspektive zu nähern, ist kein leichtes Unterfangen. Umso verdienstvoller, dass H. es getan hat. Darauf aufbauend muss in Zukunft die Diskussion darüber vertieft werden, wie entwickelte, konsensgestärkte und vor allem rational begründete Kriterien gerade von den Kirchen (und dort vor allem: von wem?) an welchen Stellen eingetragen werden können.