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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

314–316

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Demmer, Klaus 2) Homann, Karl

Titel/Untertitel:

1) Angewandte Theologie des Ethischen.

2) Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft. Hrsg. v. Ch. Lütge.

Verlag:

1) Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag; Freiburg i. Br.: Herder 2003. 309 S. gr.8 = Studien zur theologischen Ethik, 100. Kart. 38,00. ISBN 3-7278-1412-8 (Universitätsverlag); 3-451-28072-8 (Herder).

2) Tübingen: Mohr Siebeck 2002. VI, 274 S. gr.8. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-16-147904-1.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Zwei Werke sind anzuzeigen, die von der gleichen Fragestellung ausgehen - Grundlegung einer konkreten, den Bedingungen der modernen Gesellschaft nicht ausweichenden Ethik -, die aber in ihrer Antwort auf diese Fragestellung unterschiedlicher kaum sein könnten.

Klaus Demmer, lange Zeit Professor für Moraltheologie an der Gregoriana, gibt schon durch die Titelwahl die grundsätzliche Denkrichtung an: Es geht um einen dezidiert theologischen Ansatz. "Der Moraltheologe ist als Theologe in die Pflicht genommen" (275). Dies impliziert eine stark integrative Perspektive, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits im Blick auf die Vielfalt der ethischen Phänomene in einer ausdifferenzierten Gesellschaft: Einer "Hegemonie der Bereichsethiken" (150) wird der Abschied erteilt; es geht um Interdisziplinarität, "und die Theologie übernimmt dabei den Part einer Integrationswissenschaft" (40). Andererseits im Blick auf die Theologie selbst: An die Stelle von Verselbständigungstendenzen ihrer einzelnen Disziplinen, zumal der Ethik, setzt D. eine "existential-theologische Denkform" (50; vgl. 36 f.), die im Glauben an den rechtfertigenden Gott ihren Ursprung hat. "Sittliche Handlungen sind in ihrem innersten Kern Ausdruckshandlungen. Gottergriffenheit wird umgesetzt und ausgedrückt in Weltgestaltung" (52). Die gesuchte Integration fokussiert sich in der "sittlichen Persönlichkeit" (z. B. 55; vgl. auch die Rede von der "theologische[n] Persönlichkeit", 80), näherhin in deren via "reditio completa" zu gewinnenden Innerlichkeit der Gottesbeziehung (36). Gerade so, durch den scheinbar paradoxen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben und den Zwängen der Zeit, werden "öffentliche Bewusstseinsbildungen" möglich (30).

Der Aufbau des Werks entspricht diesen grundsätzlichen Überlegungen. Am Anfang steht das Individuum in seiner Einsamkeit, aus der es das Gebet hinausführt (an dieser Stelle zeigt sich am deutlichsten, welchen Stellenwert der von D. im Vorwort geforderte "Kontakt zur spirituellen Theologie" [11] für seine gesamte Ethik hat). In konzentrischer Bewegung kommen sodann Ehe und Familie, bio- und medizinethische Probleme (vor allem in Bezug auf Anfang und Ende des Lebens) und schließlich Recht und Politik in den Blick. Man könnte einwenden, dass damit nicht alle ethisch zu bedenkenden Lebensbereiche abgehandelt sind. D.s Ausführungen sind jedoch so konsistent, dass sich unschwer die Grundrichtung seiner Sicht etwa auf wirtschaftsethische Probleme erahnen lässt. Eine enzyklopädische Absicht besteht ohnehin nicht; der fragmentarische Charakter, der nach D. jede ethische Reflexion auszeichnet (z. B. 9), spiegelt sich in seinem eigenen Werk.

Dieser "Mut zur Unvollkommenheit" (9) samt der mit ihm einhergehenden "Bereitschaft zur Selbstkorrektur" (ebd.) ergibt sich für D. gerade aus dem dezidiert theologischen Ansatzpunkt. Abgewiesen wird der Versuch, "auf dem Direktweg Offenbarungswahrheiten und mithin Glaubensüberzeugungen in den öffentlichen Diskurs einzutragen" (276). Auch Moraltheologie vollzieht sich innerhalb der Grenzen der conditio humana; sie geschieht als eine niemals "reine" (vgl. 278) und daher fortwährend kritisch zu prüfende hermeneutische "Übersetzungsarbeit" (276), und zwar in zwei Schritten: zunächst "vom Glauben zur sittlichen Vernunft" (277), wobei die "anthropologischen Korrelate des Glaubens" (47) eine besondere Rolle spielen; sodann von der allgemeinen Vernunft hin zum konkreten Problem. All dies setzt Dialogbereitschaft mit entsprechenden nicht-theologischen Positionen voraus (vgl. 277). Gefordert ist kein theologischer Absolutheitsanspruch, wohl aber ein grundsätzliches Überzeugtsein von der Relevanz der eigenen theologischen Position für den öffentlichen Diskurs. In D.s Sicht ist die leitende Position exemplarisch ausgesprochen in den Aussagen des römischen Lehramts; aber auch diese haben Anteil an der Vorläufigkeit allen menschlichen Bemühens um die Wahrheit und sind daher immer neu kritisch-konstruktiv fortzuschreiben (vgl. z. B. 87.170 f.).

Diese wohldurchdachten methodischen Überlegungen führen auf ihre Weise die innerkatholische Diskussion um eine autonome Moral fort, sind aber auch für die protestantische Ethik von hohem Wert - zumal dort, wo die Tendenz besteht, die römisch-katholische Ethik mit einem Zerrbild von naturrechtlicher Argumentation gleichzusetzen. D.s inhaltliche Konkretionen können hier nicht mehr referiert werden. Lediglich zwei Grundzüge seien genannt. Zum einen ist nicht zu übersehen, dass bei aller vorsichtigen Kritik in weitgehender Übereinstimmung mit dem Lehramt argumentiert wird. Hier wie dort ist die "Solidarität mit dem Schwachen" (305) ein Leitmotiv. Zum anderen fallen die häufigen kritischen Abgrenzungen gegenüber der modernen Gesellschaft ins Auge. In vielen - wenn auch nicht in allen! - Zügen verkörpert sie in D.s Sicht die "Welt", der der christliche Glaube als "Kontrastprogramm des Geistes" gegenübergestellt wird (vgl. z. B. 49).

Diese grundsätzlichen Vorbehalte D.s gegenüber manchen Entwicklungen der Moderne markieren bereits die entscheidende Differenz zum Entwurf Karl Homanns. Auch der Philosoph und Volkswirtschaftler H. sieht sich dem ethischen Leitbegriff der Solidarität verpflichtet (z. B. 14). Er ist jedoch der Meinung, dass zur Verwirklichung von Solidarität das traditionell christliche "Caritas-Modell" (50) nichts mehr beizutragen hat. Im Gegenteil: Verwurzelt in den überschaubaren Strukturen der vormodernen Gesellschaft, haben direkte Appelle im Sinne einer Liebesethik unter den anonymen und ausdifferenzierten Bedingungen der Moderne kontraproduktive Wirkung. Zum Beleg verweist H. wiederholt auf das bekannte Gefangenendilemma. Das Modell zweier Verdächtiger, die unabhängig voneinander verhört werden, entspricht laut H. an zwei entscheidenden Punkten der Situation der Individuen in der Moderne: fehlende Kommunikation und vordergründige Belohnung unkooperativen Verhaltens (man denke auch an das Schwarzfahrersyndrom). Wer unter solchen Bedingungen direkt Solidarität fordere und praktiziere, werde zunächst ausgenutzt, dann frustriert und leiste so letztlich contra intentionem gerade der "Erosion der Moral" (3) Vorschub. Anstatt nun diese Situation zu kritisieren und zu betrauern, sieht sie H. als Chance, zu einer Neudefinition der Moral zu kommen, die deren eigentliches Wesen erst zum Vorschein kommen lässt: "Die Demarkationslinie zwischen unsittlichem und sittlichem Handeln ist nicht zwischen Egoismus und Altruismus zu ziehen, was bis tief in die Ökonomik hinein geschieht, sondern zwischen individuellem Vorteilsstreben auf Kosten anderer und individuellem Vorteilsstreben, bei dem andere ebenfalls Vorteile haben" (254). Dies bedeute nicht einmal einen Bruch mit den klassischen Traditionen der Ethik, da diese selbst durchaus offen an Vorteilsüberlegungen appellierten (vgl. ebd.). Ist dies aber so, dann ist das Verhältnis von Ethik und Ökonomik neu zu fassen. Die traditionelle Sicht, wonach ein Dualismus zwischen beiden Disziplinen besteht (vgl. 45-49), ist aufzugeben zu Gunsten eines Modells, das die Ökonomik als "Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln" (243) begreift: als "Wissenschaft von der Implementierung des Sollens" (259). Denn hinsichtlich der Implementierungsfrage bestehe bei einem allein ethischen Ansatz ein Problem (H. macht sich hier Hegels Kritik an Kant zu Eigen, 48 f.). Die Ökonomik hingegen sei gerade an dieser Frage und der damit zusammenhängenden Rahmenordnung interessiert; zudem bringe sie mit ihrem "offene[n] Vorteilsbegriff" (259) auf den Punkt, worum es auch in der Ethik eigentlich gehe. Die Ethik wird damit nicht bedeutungslos. Ihre Funktion wird aber strikt auf den regulativen Aspekt der Suche nach Idealen eingegrenzt. "Ethik wird so zur Heuristik der Ökonomik" (260). Dabei ist nicht an klassische individuelle Ideale oder Tugenden gedacht. "Die individuelle Moral ist auf progressive Erübrigung zugunsten kollektiver Selbstverpflichtungen in der Rahmenordnung ausgerichtet" (41). Ort der Moral in der Moderne ist die gesellschaftliche Rahmenordnung, und die Individualethik ist nur insofern "unverzichtbar" (34), als die Ordnung nur funktioniert, wenn die Einzelnen ihre Normen befolgen und an ihrer Etablierung mitwirken (ebd.).

H. hat die hier referierte Konzeption bereits monographisch vertreten (vgl. Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992). Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen unterstreicht und pointiert lediglich. Gerade so lädt sie jedoch zum Widerspruch ein. Vor allem die These, mit der alles steht und fällt, ist in Frage zu stellen: So realistisch es auch ist, den Menschen im Sinne des ökonomischen Imperialismus' Gary Beckers als nutzen- und vorteilsgeleitet anzusehen - ist es nicht gerade die Aufgabe der Ethik, und zwar zumal als regulativer Disziplin, argumentativ zu vertreten, dass der Mensch im Letzten kein homo oeconomicus ist, sondern dass seine eigentliche, dem individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Wohl dienende Bestimmung darin besteht, jenseits von technischen und pragmatischen Kalkülen zu moralischem Handeln vorzudringen, für das das individuelle Vorteilsstreben und "strategische Handlungsorientierungen" (58) nicht mehr die entscheidende Rolle spielen? Die von H. mit Recht in Erinnerung gerufene Implementierungsfrage darf dabei freilich nicht übergangen werden.