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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

312 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Arntz, Klaus

Titel/Untertitel:

Melancholie und Ethik. Eine philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit den Grenzen sittlichen Subjektseins im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2003. 345 S. gr.8 = ratio fidei, 11. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7917-1806-1.

Rezensent:

Frank Surall

Die Münsteraner moraltheologische Habilitationsschrift nimmt ihren Ausgang bei einem im 20. Jh. festzustellenden geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel von der Theodizee zur Anthropodizee, welche das ethische Subjekt als solches in Frage stelle. Dass dieses vor den Herausforderungen der Moderne ethisch zu versagen drohe, begründe Melancholie als eine "philosophische Haltung" der Gegenwart. Die Suche nach einer Vermittlung von Melancholie und Ethik im Gespräch mit fünf Philosophen und (katholischen) Theologen zielt insofern auf einen ethischen Ansatz, der weder die Begrenztheit des sittlichen Subjekts ignoriert noch vor ihr resigniert.

Der Religionsphilosoph und Theologe Joseph Bernhart betrachte die Tragik der Welt als einen "Schatten", der ihr bereits vorsittlich von der Schöpfung her zugehöre. Erkennen und sittliches Bemühen des Menschen blieben notwendig fragmentarisch, so dass nur eine metaphysische Sinndeutung der Geschichte möglich sei. Bernhart grenze eine am Menschenmöglichen orientierte humane Moral nach zwei Richtungen ab. Auf der einen Seite stehe eine kasuistische Moral im Widerspruch zum prinzipiell fragmentarischen, nur dem göttlichen Anruf im Gewissen verpflichteten Ethos, was am Beispiel der Ehemoral aufgezeigt wird. Auf der anderen Seite ignoriere eine humanistische Moral den "Schatten" der Schöpfung, indem sie von der Autonomie des Menschen ausgehe. Dass das Letztere von Bernhart ausschließlich negativ bewertet wird, hält A. für eine Grenze seines Ansatzes.

Aus einer ähnlichen Kritik an idealistischen Konzeptionen ziehe der Philosoph Odo Marquard die Konsequenz, sich in radikaler Skepsis gegen alles Prinzipielle mit einer "provisorischen", "kleinen" Moral zu begnügen. Auch diese wolle sich am Menschenmöglichen orientieren, das jedoch nicht wie bei Bernhart christologisch bestimmt, sondern im faktisch Vorgegebenen verortet werde. Die Legitimierung solcher ethischer "Vizelösungen" führt A. zufolge zu einem inhaltlich entleerten, egozentrischen "Ethos der Behaglichkeit".

Diametral entgegengesetzt impliziere Johann Baptist Metz mit seiner Politischen Theologie eine "Ethik der Veränderung", die trotz ihrer radikalen Subjektkritik der Moderne nahe stehe. Indem Metz die Ethik in einen eschatologischen Horizont stelle, würden die Grenzen sittlichen Subjektseins betont wie zugleich das Subjekt von Überforderungen entlastet würde. Die Berufung auf ein abstraktes Humanum lehne Metz ab, da die anthropologische Unschuld "nach Auschwitz" verloren sei. Die Rettung des sittlichen Subjekts könne vielmehr nur durch "die Subjektwerdung ausnahmslos aller Menschen, gerade und vor allem der Besitz- und Rechtlosen" erfolgen. Diese erfordere von einer theologischen Ethik zum einen nach innen hin eine Leidempfindlichkeit, die das menschliche Leiden an Stelle der Sünde zum zentralen Bezugspunkt moraltheologischer Reflexion mache, und zum anderen nach außen hin eine Compassion, welche sich an der Intersubjektivität orientiere.

Anders als den zuvor dargestellten Ansätzen gehe es dem Philosophen Dieter Henrich um eine Verteidigung der neuzeitlichen Subjektivität und der idealistischen Philosophie. Eine "Ontologie der natürlichen Dinge" begründe ein Weltverhältnis, welches das primäre Selbstverhältnis begrenze. Zu einer Stufentheorie des sittlichen Bewusstseins weiterentwickelt, bedürfe der primäre, unbedingt geltende sittliche Imperativ sekundär des Weltbezugs und der "freiheitlichen Kontextualisierung durch das sittliche Subjekt". Wie Metz gebe Henrich damit den Anspruch auf eine "große" Moral nicht auf, doch gehe er anders als jener vom Primat der Subjektivität aus, den er mit dem berechtigten Anliegen eines intersubjektiven Ansatzes zu vermitteln suche.

Sein eigentliches theologisches Pendant finde der Ansatz Henrichs jedoch bei dem Moraltheologen Klaus Demmer, dem zugleich die eigene Position A.s am nächsten steht. Henrichs Stufentheorie entspreche Demmers Unterscheidung des sittlichen Handelns "aus Verstehen" und "als Zeugnis geben". Voraussetzung für einen Verweiszusammenhang zwischen Person und bezeugender, d. h. die personale Identität auslegender Tat seien die Freiheit des sittlichen Subjekts und der Verzicht auf eine sittliche Objektivität, ohne stattdessen in einen ethischen Relativismus zu verfallen. Die Unvollkommenheit der den sittlichen Anspruch bezeugenden Lebensgeschichte auszuhalten, ermögliche die göttliche, kreuzestheologisch akzentuierte Heilsgeschichte, die in die Lebensgeschichte "einbreche". Der Mensch werde mit den anderen, mit Gott und sich selbst versöhnt, indem er sein Handeln in den Horizont der ausstehenden und im Osterereignis antizipierten Erlösung stelle. Darin, nicht jedoch in material-normativen Differenzen, bestehe das Proprium einer christlichen Moral. Kritisch sieht A., dass eine solche personal-existentiale Verwendung geschichtlicher Kategorien den weltgeschichtlichen Horizont ausblende.

A. liegt an einer Integration der Begrenztheit des Menschen in das moralische Projekt der Moderne statt deren Verabschiedung in eine "Postmoderne". Mit der Vermittlung von Melancholie und Ethik identifiziert er ein Grundlagenproblem gegenwärtiger Ethik, das er in Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Ansätzen erörtert. Die methodisch konsequente Ausblendung der sozialethischen Perspektive lässt die Frage nach der Relevanz für die (melancholisch-ethische?) Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen offen. Hier hätte man sich zumindest einige Andeutungen gewünscht.

Die philosophischen Gesprächspartner kommen lediglich in "Intermezzi" auf dem Weg zum "moraltheologischen Finale" zu Wort, während die theologischen Protagonisten dreimal soviel Raum erhalten. Während die Position Henrichs allerdings in theologischer Rezeption weiterhin zum Tragen kommt, bleibt der Ansatz Marquards isoliert. Ob ihm die beiläufige Reduktion auf die Kontrastfolie einer "kleinen" Moral gerecht wird, erscheint zweifelhaft.

Grundsätzlich ist das Bemühen um eine dialogfähige Ethik, die zugleich eigene Perspektiven in das interdisziplinäre Gespräch einbringt, für eine theologische Ethik wegweisend. Für A. liegt ihr eigener Beitrag zur Vermittlung von Melancholie und Ethik in den entlastenden Sinnpotentialen des christlichen Glaubens, die mittels einer Personalisierung und Temporalisierung der neuscholastischen Metaphysik erschlossen werden, ohne diese selbst aufzugeben. Das erlaubt eine erstaunliche Offenheit gegenüber einem Ansatz wie dem von Metz, der jedoch zugleich in traditionelle Bahnen zurückgeführt wird, indem A. beispielsweise Metz' Abgrenzung von einem tugendethischen Ansatz beim Subjekt durch eine trinitätstheologische Begründung der Compassion überwinden möchte oder das nach Metz allein mögliche Bitt- und Klagegebet ohne Dankgebet für "defizitär" erklärt. Evangelische Ethik hingegen nötigt die kritische Verbundenheit mit der eigenen Tradition bei der Verfolgung desselben Anliegens, dem Menschen trotz und in seiner Begrenztheit ethische Verantwortung zuzumuten, zu größerer metaphysischer Zurückhaltung.