Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2005

Spalte:

307–310

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mulsow, Martin

Titel/Untertitel:

Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2002. X, 514 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 58,00. ISBN 3-7873-1597-7.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Wie verschlungen die Wege waren, die die Modernisierung, Säkularisierung und Aufklärung befördert haben, lässt sich erst zeigen, wenn man das traditionelle Bild von der Entwicklung der Aufklärung "durch die Kenntnis des radikalen Untergrundes vervollständigt" (IX). Das ist die These, die Martin Mulsow in der angezeigten Studie belegt, die 1999 am Philosophie-Department der Universität München als Habilitationsschrift angenommen wurde. Methodisch sucht M. die bisher noch weithin getrennten Arbeitsgebiete der ideengeschichtlichen Aufklärungsforschung, der Clandestina-Forschung und der Untersuchungen zur europäischen Gelehrtenrepublik und zu ihren Kommunikationsstrukturen zu verbinden (5). Sein Ziel ist eine "Netzwerkanalyse radikaler Strömungen in Deutschland analog zu Margaret Jacobs Unterscheidung eines radikalen und eines konservativen Flügels der Frühaufklärung" (17), in der die wechselseitige Abhängigkeit und die vielfältige Verwobenheit beider Flügel sichtbar werden sollen (309). Entsprechend gliedert M. seine Studie nicht diachron, sondern versucht, im Anschluss an das methodisch ausgerichtete Einleitungskapitel in sieben Kapiteln "einzelne Stränge und Beziehungsnetze zu isolieren und nebeneinander zu rekonstruieren" (38).

Zum Einstieg widmet sich M. im zweiten Kapitel der bislang völlig unerforschten "Rolle jüdischer antichristlicher Clandestina in Deutschland" (ebd.) und erzählt den Weg, den ein anonymes jüdisches antichristliches Manuskript durch die deutsche Frühaufklärung genommen hat. Es gelingt ihm nicht nur nachzuvollziehen, wie es im Untergrund weitergereicht wurde und schließlich unter Gelehrten von Kopenhagen bis an den Genfer See zirkulierte (75-84). M. kann auch Moses Raphael d'Aguilar als den Autor ermitteln (51-61). Interessant ist hier zum einen die Ambivalenz, in der clandestine Schriften mit Neugierde und Faszination verfolgt, gleichzeitig aber als blasphemisch verurteilt und geheim gehalten wurden. Zum anderen ist aufschlussreich, wie die jüdische Kritik an der Inkarnationsvorstellung und der Zwei-Naturen-Lehre von dem Sozinianer Samuel Crell (68-75) antitrinitarisch funktionalisiert wurde. Auf welche Weise sozinianisches Denken seinerseits die Frühaufklärung beeinflusste, untersucht M. sodann im dritten Kapitel, indem er das Netzwerk des als orthodox geltenden Anglikaners John Spencer rekonstruiert. Dabei wird nicht nur deutlich, dass John Locke und Isaac Newton Spencers vernunftorientierte religionshistorische Forschung in unterschiedlicher Weise mit antitrinitarischen Überlegungen verbanden. M. kann anhand des von ihm ermittelten Beziehungsgeflechts auch die Vermutung plausibel machen, dass Spencer selbst "wie Newton die Trinität als nicht vernunftgemäß einholbar" (112 f.) angesehen haben dürfte.

Dass atheistische Clandestina nicht nur das Interesse der Orthodoxie weckten, sondern sogar im Zentrum der Orthodoxie selbst entstehen konnten, zeigt M. im vierten Kapitel. Sein Ausgangspunkt ist hierbei die clandestine atheistische Schrift De tribus impostoribus (1688), die dem 18. Jh. als "das erste schlimmste Buch auf Erden" (116) gegolten habe. Denn es stelle nicht nur Mohammed, sondern auch Mose und Jesus als Betrüger dar, die die ursprüngliche natürliche Religion depraviert hätten. M. rekonstruiert, dass diese Schrift von dem orthodoxen Lutheraner Johann Joachim Müller (115 ff.) zum Zwecke ironisierender, scherzhafter Provokation anonym verfasst worden war, sodann in Abschriften die engen theologischen Kreise verließ und schließlich als eine "der verbreitetsten und begehrtesten Untergrundschriften" (159) von Aufklärern, Freidenkern und Libertinen nicht mehr als Posse, sondern in atheistischer Absicht angeeignet wurde.

Im nächsten Gang der Untersuchung wendet sich M. einem weiteren bisher völlig vergessenen Diskussionsfeld (39) zu, das er als politische Theologie kennzeichnet. An dieser ursprünglich Varronischen Kategorie zur Bezeichnung der im Rahmen des Staates ausgeübten Götterverehrung (162) habe sich in Deutschland ausgehend von Daniel Georg Morhof (165-173) eine Debatte um das Divinum in den Wissenschaften und die politische Funktionalisierung der Religion entsponnen. Während Morhof noch von einem göttlichen Kern in den Disziplinen ausgegangen sei, von dem er politisch funktionalisierte idololatrische Abweichungen abhob, sei bei den Frühaufklärern Friedrich Wilhelm Bierling, Peter Friedrich Arpe und Johann Friedrich Kayser der göttliche Kern in einen hypothetischen Zustand vor dem Sündenfall zurückgedrängt worden. Radikalisiert findet M. diese Sicht in der atheistischen clandestinen Schrift Symbolum sapientiae (231-241), die von einem natürlichen Urzustand ohne Religion ausgehe, Religion mit Aberglaube gleichsetze und als Produkt weltlicher Herrschaft deute. Solche radikalen Sichtweisen seien dabei "nicht zuletzt durch konservative Faktoren wie Anti-Humanismus und Fideismus" (39, vgl. 259) begünstigt worden.

Wie antitrinitarisches Denken philosophische Impulse vermittelte, zeigt M. im sechsten Kapitel an der antitrinitarisch motivierten Destruktion des christlichen Platonismus. Er geht hier von der anonymen Schrift Le Platonisme devoilé aus, als deren Verfasser er den arminianisch gesonnenen Hugenotten Jacques Souverain ermitteln kann (265). Eine verwandte Art der Platondeutung findet M. in Deutschland bei Nikolaus Hieronymus Gundling wieder, der sie mit einer neuplatonisch-kabbalistischen Spinozainterpretation kombiniere (307). Die Motive dafür spürt M. bei Jakob Thomasius und Pierre Bayle auf (291-299). Dass durch die Thomasius-Schule nicht nur der skeptische, sondern auch der konservative Flügel der Aufklärung in Deutschland beeinflusst wurde, zeigt er sodann im siebten Kapitel an Gundling und Johann Franz Budde. Als Ausgangspunkt wählt er das anonym publizierte Examen rigorosum zwischen Budde und Gundling im Totenreich (309), um dann die unterschiedliche Sicht der geistigen Fähigkeiten Adams im Paradies und des Sündenfalls (315-323), die differierende Einordnung der Philosophie der Hebräer (324-330) und die jeweilige Stellung zu Hobbes (341-348) bei Gundling und Budde darzustellen. Im Fortgang belegt M. die These, es sei das "Zusammenspiel beider Strömungen und der von ihnen ausgearbeiteten Modelle" (349) gewesen, das "den beispiellosen Aufschwung philosophischer Historiographie - den Beginn der eigentlich modernen Reflexion der Philosophie auf ihre Geschichte - möglich gemacht" (349) habe.

Zur Ausbildung einer kritischen Philosophiegeschichtsschreibung kommt es nach M. jedoch erst unter dem Einfluss von Indifferentismus und Eklektik, wie M. im letzten Kapitel seiner Studie an der Tradition der religio prudentum zeigt. Die anonyme Schrift Ineptus religiosus ad mores horum temporum descriptus von 1652 lehre dabei, dass die im 17. Jh. entstehende eklektische Mentalität auch auf den Bereich der Theologie angewandt worden sei. Denn der Autor der Schrift - M. vermutet entgegen bisheriger Auffassungen den Diplomaten Johann Salvius (379) - ermuntere hier einen angehenden Theologiestudenten ausdrücklich zum eklektischen Umgang mit den Konfessionen und Sekten (368). Radikale Zweifel daran, "ob es Christus überhaupt gegeben habe ... oder ob die Sintflut allgemein gewesen sei", habe Salvius dagegen nur im Medium ironisch-burlesker Übertreibung aufgeworfen (389). Die intellektuellen Wurzeln der Schrift findet M. in der Kultur der Eklektik in Holland (390). Ironischerweise sei die Wiederaufnahme der eklektischen Traditionslinie in halbgebildeten Milieus der Frühaufklärung aber nicht durch die clandestine Überlieferung des Textes begünstigt worden, die M. minutiös rekonstruiert (396- 409), sondern durch die lutherische Orthodoxie (363), die unter dem Eindruck der synkretistischen Streitigkeiten religiösen Eklektizismus als religio prudentum gedeutet und bekämpft habe (415 f.). M. demonstriert dies zum einen an einer pseudonym veröffentlichten Schrift eines Radikalpietisten, der durch das Eintreten für einen rationalen Indifferentismus betonen möchte, dass die religiöse Erweckung das Herz und nicht den Verstand betreffe (424 f.). Zum anderen führt M. eine anonyme Schrift an, deren Autor - nach M.s Analyse der reformierte Jurastudent und spätere Kammersekretär Johann Christian Behmer (428) - ebenfalls gegen die Orthodoxie für die eklektische religio prudentum eintritt. Dass deren Traditionslinie bis in die Hochaufklärung reicht, zeigt M. abschließend an Theodor Ludwig Lau. Dieser habe im "Auswahlgedanken der Eklektik" die Freiheit entdeckt, "seine eigene christliche Privatperson nicht mit der heidnischen Auswahl, die er trifft, identifizieren zu müssen" (433 f.).

Insgesamt gelingt es M. mit seinen mikrohistorischen Studien, den radikalen Rand der deutschen Frühaufklärung sehr viel genauer als bisher zu erfassen und die "Relevanz der fragmentierten Radikalaufklärung für den mainstream der Frühaufklärung in Deutschland" (442) in zehn Schlussthesen (439- 443) zu bestimmen. Durch die radikalen Stränge der Frühaufklärung seien für die Zeitgenossen die "Extremwerte markiert" und "die Spielräume sichtbar" (442) geworden. Die "clandestine Szenerie" könne zudem lehren, wie der Abwehrreflex, von dem orthodoxe Diskurse in der Rezeption "von westeuro- päischen Denkern wie Machiavelli, Hobbes, Herbert oder Spinoza" gekennzeichnet gewesen seien, "ausgeschaltet, umgangen oder abgeschwächt werden konnte" (ebd.). M.s Studie lässt dabei "die ambivalenten Charakteristika des Aufklärungsprozesses" hervortreten und macht plausibel, dass diese "zu einem erstaunlichen Grad die radikalen Dimensionen der Moderne" (443) bestimmen. Das Buch leistet somit einen wesentlichen Beitrag zur philosophie- und theologiegeschichtlichen Beschreibung der Frühaufklärung. Die flüssige und plastische Darstellung, in der die detektivische Suche nach Autoren und Netzwerken präsentiert wird, macht dieses Buch außerdem zu einer spannenden Lektüre.