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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

304–307

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlaß des 150. Geburtstages. Hrsg. v. K. Nowak, O. G. Oexle, T. Rendtorff u. K.-V. Selge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 318 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 204. Lw. Euro 46,90. ISBN 3-525-35854-7.

Rezensent:

Christoph Markschies

Harnack hat (wieder) Konjunktur. Anlässlich des 150. Jubiläums seines Geburtstages fand nun bereits ein zweites großes wissenschaftliches Symposium statt, das (wie die Konferenz 1998 auf Schloss Ringberg) gemeinsam vom Göttinger Max-Planck-Institut, Trutz Rendtorff und dem kurz nach dem Kongress verstorbenen Kurt Nowak vorbereitet worden war. Im zweiten Kolloquium ging es vor allem darum, "die Problemgeschichten und die disziplinären und interdisziplinären Kontexte zur Darstellung zu bringen, in denen sich das Werk Harnacks bewegte" (9). Außerdem hat man auf der Berliner Zusammenkunft des Jahres 2001 versucht, in den Themenfeldern "Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften" sowie "Theologie und Religionswissenschaft" "mit Harnack über Harnack hinauszudenken" (10), so dass der wissenschafts- wie theologiepolitische Impetus solcher erneuten Beschäftigung mit Harnack bereits im Programm deutlich wurde.

Die historischen Beiträge des Bandes dokumentieren, dass das Verblassen der Erinnerung an Harnack nach 1930 nicht nur eine Folge der geänderten theologischen Großwetterlage war. Das wurde zunächst von Kurt Nowak nachgewiesen (Adolf von Harnack in Theologie und Kirche der Weimarer Republik, 207-235). Er zeigt, wie das "negative Meinungsbild" über Harnack nicht allein durch den theologischen Aufbruch der Wort-Gottes-Theologen (die Nowak wenig freundlich und leicht doppeldeutig "Krisentheologen" nennt) und ihre Kritik an seinen theologischen Positionen entstand, sondern auch durch seine alten Gegner aus dem konservativen Milieu, die ihre alten theologischen Vorwürfe nun durch die politische Kritik am Vernunftrepublikaner ergänzten. Für sein Engagement in der Wissenschaftspolitik und der Verwaltung hatten beide Lager keinerlei Verständnis. Eine solche Trübung des positiven Bildes war aber insofern vorbereitet, als Harnack schon in den voraufgehenden Jahrzehnten wissenschaftliche Felder bearbeitete, die Theologen wie Nichttheologen offenkundig wenig interessierten - ebenso wie die Ergebnisse, die der Kirchenhistoriker vorlegte, überraschend wenig aufgenommen wurden. Stefan Rebenich (Orbis Romanus. Deutungen der römischen Geschichte im Zeitalter des Historismus, 29-49) zeichnet auf der einen Seite minutiös nach, wie stark Harnack in einzelnen Ergebnissen historischer Forschung wie in grundlegender Reflexion über historische Methodik Teil zeitgenössischer Debatten war, macht aber andererseits deutlich, dass der Theologe in der Altertumswissenschaft schon wegen seiner "Theologisierung" des antiken Christentums (49) "Außenseiter" blieb (44).

Heinrich Assel zeigt unter dem Titel "Zorniger Vater - Verlorener Sohn. Harnacks Beitrag zur Lutherrenaissance zwischen Theodosius Harnack und Karl Holl" (69-83) die seltsame Wirkungslosigkeit von Harnacks Lutherbild, das noch einmal deutlich von dem Ritschls zu unterscheiden ist. Als Stärke dieses Bildes wird sein "Gespür für die Potentiale der theologia crucis als genuiner Theorie neuzeitlicher Freiheitspraxis" (76) hervorgehoben, als fortwirkend der "rhetorische Gebrauch Luthers als Typus eines politisch-religiösen Selbstverständnisses" (78). Freilich macht Assel auch deutlich, dass "eine Religionstheorie nachdogmatischen Christentums nach Luther" (77) erst bei Karl Holl entwickelt wurde. Interessant ist der Versuch von Otto Gerhard Oexle, Harnacks Theorien über Geschichte in einem Beitrag zu profilieren, der nach dem Erbe von Leibniz fragt: "Scientia generalis. Harnack, die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften und das Erbe von Gottfried Wilhelm Leibniz" (85-112). Denn man könnte über Oexle hinausgehend fragen, ob die zunehmenden Schwierigkeiten Harnacks in der Berliner Akademie nicht auch eine Folge der Tatsache waren, dass er die Leibnizsche Idee eines organisatorischen Zusammenhangs zwischen einer enzyklopädischen Wissenschaft und der konkreten Struktur einer wissenschaftlichen Sozietät nicht recht verstand (104), sondern die Akademie zunehmend durch die neue Form der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu ersetzen versuchte, in der die Geisteswissenschaften bekanntlich eine eher marginale Rolle spielten und bis heute in ihrer Nachfolgeorganisation spielen. Ähnlich aufklärende Funktion haben die Beiträge von Friedrich Wilhelm Graf (Der "Kant der Kirchengeschichte" und der "Philosoph des Protestantismus", 113- 142), Wilfried Barner (Adolf von Harnack zwischen Goethekult und Goethephilologie, 143-160) und Hartmut Lehmann ("Es ist eine tiefernste, aber eine herrliche Zeit". Adolf von Harnack und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, 189- 206). Graf zeigt, wie stark Harnacks Königsberger Festrede von 1924 von aktuellen theologischen Auseinandersetzungen bestimmt ist und wie wenig seine Theologie durch intensives Kant-Studium in Studententagen bestimmt war ("Für den Kant der Kirchengeschichte war der Meisterdenker der kritischen Philosophie nur in einem weiten, vagen Sinne relevant": 137). Auch die persönlichen Kontakte zu Neukantianern haben zu keiner intensiveren Auseinandersetzung mit deren Kantdeutungen geführt (132 f.). Ähnlich mager ist der Befund bei Barner: "Auch wenn in der Literatur gelegentlich allen Ernstes behauptet wird, er habe sich bei Goethe so gut ausgekannt wie bei seinen Kirchenvätern - die Zeugnisse sprechen nicht dafür" (148).

Über Harnack hinausführen wollen drei Beiträge am Schluss des Bandes, die sich mit dem Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie beschäftigen. Während Trutz Rendtorff ("Wesen des Christentums" und Welt der Religionen. Beobachtungen zu Harnacks Stellung im Diskurs über Theologie und Religionswissenschaft, 259-274) vor allem Harnacks Positionen sorgfältig nachzeichnet und am Schluss feinsinnig auf die gegenwärtig offene Verhältnisbestimmung verweist, versuchen sich Peter Hünermann und Hans G. Kippenberg an einer Skizze der Vorgeschichte gegenwärtiger katholischer Religionstheologie (275-288) und an einer Kurzgeschichte des Verhältnisses beider Disziplinen (289-297, mit dem anregenden Hinweis, die antihistorischen Deutungsmuster beider Zugriffsweisen gemeinsam zu studieren). Über Harnack hinaus wird hier (mehr oder weniger skizzenhaft) gedacht, mit Harnack wird hier nicht mehr gedacht. Man könnte es auch schärfer formulieren: Für die wissenschaftstheoretische Begründung von Theologie und Religionswissenschaft ebenso wie für eine Theorie über das Verhältnis beider sind die wenig ambitionierten Texte Harnacks heute schlechterdings nicht mehr brauchbar.

Der Band bestätigt also - gelegentlich gegen die Intention seiner Autoren -, dass Harnack sich weder dafür eignet, die theologischen Kämpfe des 20. Jh.s nach 100 Jahren erneut auszufechten, noch dafür, einen neuen Kirchenvater einer gegenwärtig aktuellen theologischen Richtung zu kanonisieren. Seine Positionen standen häufig quer zu den großen Lagern, waren deutlicher, als es im vorliegenden Band erkennbar wird, von der Frömmigkeit des baltischen Luthertums geprägt und wandelten sich im Laufe des Lebens charakteristisch: In einer kleinen Fußnote (219, Anm. 29) weist Nowak darauf hin, dass Harnack "übrigens" in seinen späten Münsteraner Vorlesungen sein Urteil über die Dogmen (gegenüber den Auflagen seiner Dogmengeschichte) modifiziert habe. Nimmt man diese Beobachtung mit der These von Nowaks Beitrag im ersten Harnack-Symposiums-Band zusammen (ders., Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Kirchenpolitiker, hrsg. v. K. Nowak u. O. G. Oexle [VMPIG 169], Göttingen 1969, 189-237), dass mit der Marcion-Monographie gezeigt werden sollte, welche theologische Bedeutung das antike Christentum für das evangelische Christentum der Gegenwart haben könne, dann ist die Neupositionierung gegenüber den Werken vor und um die Jahrhundertwende mit Händen zu greifen (für den politischen Bereich dokumentiert sie Anselm Doering-Manteuffel, Der Kulturbürger und die Demokratie: Harnacks Standort in der ersten deutschen Republik, 237- 255).

Zugleich ist aber auch deutlich, dass jedenfalls an den Theologen, der Marcions Theologie als Quintessenz der christlichen Antike für die Theologie der Gegenwart empfehlen wollte, schlechterdings keine Anknüpfung mehr möglich ist. Es gehört zur tiefen Weisheit seines Beitrags, dass Kurt Nowak dies im Grunde implizit auch deutlich macht, indem er "eine herbe Verlustbilanz ... bei seiner Anthropologie zu konstatieren" für notwendig hält (229). An diesem Punkt arbeiteten, wie man leicht hätte zeigen können, der Systematische Theologe und der Historiker Harnack Hand in Hand: Bei "Harnacks Augustin" wurden, wie Kurt Flasch in seinem gleichnamigen Beitrag (51- 68) zeigt, die negative Anthropologie des reifen Augustinus bagatellisiert und deren dogmatische Konstrukte von Erfahrung (z. B. in den Confessiones) zu einem reinen "Ausdruck psychologisch-religiöser Erfahrung" lyrisiert (58 - weitere einprägsame Stichworte Flaschs sind: "Goetheisierung Augustins" und "Lutheranisierung"). Noch 1930 berief sich der alte Harnack auf Augustins Biographen Possidius, der in seiner Biographie fast alles weggelassen habe, was sich bei Augustinus "auf Sünde und Erbsünde, Tod und Verdammnis bezieht" (67 = SPAW.PH 1930, 12). "Harnacks Maßstab für das Wesen des Christentums" war nicht nur zur Zeit der Jahrhundertwende "endzeitlicher Frühaugustinismus" (61).

Wollte man die Linie, die Nowak nur andeutet, ausziehen, müsste man Harnack in der stolzen Reihe derer porträtieren, die die "widernatürliche Ehe" zwischen augustinischer Anthropologie und reformatorischer Theologie (eine Formulierung, die nicht zufälligerweise von Emanuel Hirsch stammt) auflösen wollten. Es fragt sich freilich - nicht allein angesichts der welthistorischen Katastrophen nach seinem Tod, sondern auch angesichts der beklemmenden Ausführungen Hartmut Lehmanns über die Bedeutung der Gaskampfstoff-Forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unter der Präsidentschaft Harnacks und der Wertschätzung Fritz Habers durch den Präsidenten (195-203) -, ob der große Gelehrte nicht eben darin theologisch gefehlt hat. Vielleicht sollte sich die eindrücklich aufblühende Harnack-Forschung also mehr mit dessen originären Beiträgen zur Erforschung des antiken Christentums (deren in zwei dicken Bänden seiner Akademieabhandlungen gesammelter Reichtum auch bei diesem Kongress eine merkwürdig geringe Rolle spielte) beschäftigen. Hier - also im eigentlichen Kerngebiet der Forschungen Harnacks - scheint dem Rezensenten die eigentlich bleibende und bislang zu wenig gewürdigte Bedeutung der Lebensarbeit des Patristikers Harnack zu liegen. Stoff für weitere Harnack-Kongresse gäbe es also ungeachtet des in zwei Zusammenkünften ausgebreiteten Materials genug.